11
Das Dorf zählte seit mehr als hundert Jahren bis
1945 um die 250 Einwohner. Sie verteilten sich auf
die Familien der 18 landwirtschaftlichen Betriebe
und Häusler mit insgesamt 300 Hektar und auf die
Familien der Landarbeiter des 800 Hektar großen
Rittergutes von der Marwitz. Dessen Schloss mit
Park, großem Hof mit Kuh-, Schweine- und Pferde-
stall, Schmiede und Stellmacherei, Speicher und
Nebengebäuden für Reitpferde und Kutschen prägte
das östliche Ortsbild dieses an einem Bergrücken
gelegenen Straßen- und Sackgassendorfes, dominier-
te es aber nicht. Ein Hofmeister, ein Stellmacher, ein
Melker, ein Schweinefütterer – der sogenannte
Das Heimatdorf
Klein
Nossin
12
Partie an der Schottow in Richtung Groß Nossin
Der mit Granit gepflasterte und mit Birken bestandene
Weg zur Chaussee Bütow–Lauenburg
13
Schweinemajor –, ein Schmied, ein Gärtner, ein
Kutscher und ein Förster sind neben einem Inspek-
tor die Inhaber herausgehobener Positionen in der
arbeitsteiligen Gutswirtschaft. Bäuerliche Familien-
betriebe, die mit eigenem Gespann wirtschafteten
und Häusler mit kleinen Landwirtschaften, die dem
Müller, Zimmermann, Schuster und Schneider einen
Nebenerwerb sicherten, rundeten das Bild dieser
Dorfgesellschaft ab, in der der Stellmacher zugleich
Herrenfriseur war und der Dorfschullehrer eine
dominante Rolle spielte.
Die Feldmark prägten abwechslungsreich Wälder,
Wiesen und Felder mit großen und kleinen Mooren
und die ummittelbar am Dorf mit mächtigen Kasta-
nien, alten Eichen, Tannen und Obstbäumen bestan-
denen Feldwege, die lange Birkenallee von der
Bütower Chaussee, die mächtigen Pappeln am
Friedhof und der schmale Fußpfad über den 133
Meter hohen Lindenberg nach Gaffert.
Neben der Schule und gegenüber dem Friedhof
stand am Schmiedeberg der aus mächtigen Balken
errichtete Glockenturm, von dem im Sommer wo-
chentags um halb sieben der Feierabend eingeläutet
wurde und an Sonn- und Feiertagen morgens um
neun Uhr der Weg zum Gottesdienst ins Nachbar-
dorf Groß Nossin. Von hier aus führte in nördlicher
Richtung ein Sandweg zur Schottow, über die man
weiter auf einem gut ausgetretenen schmalen Steig
Glocken-
turm
In der
hinter-
pommer-
schen
Land-
schaft
14
entlang des Nordufers nach dem eineinhalb Kilome-
ter entfernten Groß Nossin wandern konnte; Kie-
fernwald und Wacholder auf dieser Seite, Wiesen,
Felder, Buchenwald jenseits der Schottow, Erlen
überall an den beiden Ufern. „Wohlauf in Gottes
schöne Welt …“ und „An meinem Wege fließt der
Bach …“ wurde hier oft gesungen. Das steile Ufer
der Schottow grenzte das Dorf gegen Norden ein.
Zu der Brücke über die Schottow am westlichen
Ortsende führte an unserem Wohnhaus vorbei ein
mit Kopfsteinen gepflasterter und mit hohen Tannen
und Eichen bestandener Hohlweg. Von dort ging es
auf einem langen Sand- und Waldweg zwischen
Kiefern-, Tannen- und Birkenwald vorbei am Tanz-
und Festplatz im Wustrow, am Stawisch-Teich und
Waldsee in Richtung Malenz und Neu-Jugelow.
Mitten im Dorf drei mächtige Linden auf dem
Klapperberg, dem Versammlungsplatz der Dorfju-
gend an sommerlichen Abenden. Nur hundert
Schritte davon entfernt der zwischen Schule und
Friedhof gelegene Sandplatz für Ballspiele.
Inbegriff meiner hinterpommerschen Heimat ist
dieses Dorf. Über dessen zu Fuß abzuschreitende
Grenzen bin ich bis 1944 nur selten per Fahrrad bis
Schwarz Damerkow und Bütow, mit der Bahn von
Budow nach Stolp und einmal durch einen Schul-
ausflug nach Stolpmünde gelangt. Im Alter von 14
Jahren kannte ich alle Einwohner. Es behauptet in
Hinter-
pommer–
sche
Heimat
15
meinen Erinnerungen einen besonders umfänglichen
und inhaltlichen Rang, obwohl ich bis 1944 nicht mit
allen Strukturen des dörflichen Lebens vertraut
wurde und sie nach Kriegsende auch nicht mehr
erkunden konnte. Die meisten Männer waren durch
die kriegerischen Ereignisse zu Tode gekommen. Die
Not aus Flucht und Vertreibung der auf die beiden
deutschen Staaten verstreut angesiedelten Dorfbe-
wohner erlaubte nur minimale Kontakte der Überle-
benden, deren Erinnerungen z. T auch verblassten
und deren Zahl sich in den Jahrzehnten bis Ende des
letzten Jahrhunderts noch verringerte.
Hügel, Wälder, große und nur noch wenige kleine
Ackerflächen, Teiche, Moore und Hohlwege prägen
auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach wie vor
die landschaftliche Umgebung des jetzt nur noch in
kümmerlichen Resten vorhandenen und heute
polnischen Dorfes Noİynko. An ihm entlang schlän-
gelt sich wie eh und je die Schottow als Nebenfluss
der Stolpe. Nur noch vereinzelt und wie verlassen
stehen Kastanien, Eichen, Tannen und Lärchen an
den Wegen ums Dorf, als trauerten sie an den kaum
noch genutzten oder schon zugewachsenen Wegen
der Feldmark den Zeiten nach, in denen sie sich einst
in großer Zahl den Dorfbewohnern präsentierten.
Klein
Nossin
heute
Dostları ilə paylaş: |