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Im Kreis-
kranken-
haus
Zirkus
Busch
einmal ein Mädchen mit dem gelben Judenstern
gesehen habe. Mutter ist am Abend des 9. November
1938 in Stolp gewesen. Sie berichtete nach ihrer
Rückkehr von den Ereignissen der Reichskristall-
nacht, während sie auf der Ofenbank saß und für
uns eine Apfelsine pellte. Ich habe in Erinnerung,
dass mit ihren Schilderungen zwar ein düsteres Bild
dieser Ereignisse entstand, darüber aber nicht disku-
tiert wurde.
Mit Stolp verbinden mich noch peinliche Erinne-
rungen an meinen kurzen Aufenthalt im Kreiskran-
kenhaus im Jahre 1937. Am Tag meiner Entlassung
sollte ich zur Entlastung einer Krankenschwester
eine gefüllte Bettpfanne wegschaffen. Dabei musste
ich mich aber übergeben und ließ zum Ärger der
Schwester die Pfanne fallen und verschüttete dabei
den Inhalt, sodass sie statt der erhofften Entlastung
eine vielfache und unangenehme Mehrarbeit hatte.
Ich nahm mir alles sehr zu Herzen, was ich da von
ihr zu hören bekam und empfand das Malheur als
persönliches Versagen. Als Vater mich kurz darauf
aus dem Krankenhaus abholte, erzählte ich ihm
davon. Da spendierte er mir zum Trost an einem
Kiosk eine Flasche Coca Cola, die erste Coca meines
Lebens.
Mit meinem Bruder Otto fuhr ich Anfang der
vierziger Jahre an einem Sonntag zu einer Vorstel-
lung des Zirkus Busch nach Stolp. Als wir über den
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Lindenberg ins Dorf zurückkamen, war von dort –
wie immer – nur ein geringer Teil unseres Dorfes zu
sehen, weil hohe Bäume und der Bergrücken in der
Dorfmitte die Sicht auf die meisten Häuser nahmen.
Da fand ich den weiten Bergblick auf die Landschaft
und die Orte der Umgebung eher ärgerlich.
Zu einem Besuch von Tante Marie und Onkel Paul
in Klein Gansen nahm mich Vater auf sein Fahrrad.
Es mag 1937 gewesen sein. Onkel Paul zeigte mir im
Glambockwerk nebenan, wie er dort mit Hilfe von
Wasserkraft Elektrizität erzeugte. Nach drei Tagen
war mein Heimweh so stark, dass Vater mich wieder
abholen musste. Erlebnisreich verlief auch der Brand
eines großen Wirtschaftsgebäudes des Gafferter
Gutes im gleichen Jahre. Bei schönem Sommerwetter
zogen die riesigen Rauchschwaden über den Linden-
berg und verleiteten uns, eilig zum Brandherd über
den Lindenberg zu laufen. Wir standen dann davor,
bestaunten die Löscharbeiten und erfuhren, dass der
große Eber des Gutes verbrannt sei.
In das etwa 55 Kilometer entfernte Stolpmünde an
der Ostsee führte vor Beginn der Sommerferien 1939
ein Schulausflug. Hier saß ich am Ostseestrand
gleich rechts am Zugang zur Strandpromenade und
lutschte das erste wirkliche Speiseeis meines Lebens,
ein Eis mit Vanillegeschmack aus einer Waffel. Es
schmeckte wirklich besser als das Eis aus der Miete
nahe der Gänseweide.
Ferien in
Klein
Gansen
Vanilleeis
in Stolp-
münde
Groß-
brand in
Gaffert
70
Ein eigenes Fahrrad besaß ich bis zu meinem 14.
Lebensjahre nicht. Es wäre von meinem Sparkonto ja
zu finanzieren gewesen, aber ich weiß beim besten
Willen nicht, ob ich den Wunsch nach einem Fahrrad
geäußert habe, denn Geld existierte primär eher zum
Sparen als zum Verbrauchen. Vielleicht gab es
während des Krieges auch keine Fahrräder mehr zu
kaufen oder nur auf Bezugsschein für kriegsbeding-
ten Bedarf. In deutlicher Erinnerung ist mir, dass ich
das Fahrrad meines Vaters anfangs nur ausnahms-
weise und nach langen Diskussionen benutzen
durfte, als meine Beine noch nicht über die Quer-
stange reichten. Linksseitig unterhalb der Querstan-
ge tretend ging’s dann über die Sandwege auf die
Felder. Oftmals auch nach Groß Nossin zum Einkau-
fen mit Lebensmittelmarken in den Läden von Alma
Gildemeister, Paul Remus und beim Fleischer Teifke,
zu dessen etwas abseits liegendem Laden an der
Brücke über die Schottow rechts abgebogen werden
musste. Mit Vorliebe zog es mich immer in den
Laden von Alma Gildemeister, weil ich ihre Türglo-
cke einfach gern bimmeln hörte.
Um Radfahren zu lernen, zog ich eines Tages nach
dem Abendessen ungefragt mit dem Damenfahrrad
meiner Schwester los und ließ mich damit auf einer
kurzen abschüssigen Strecke bis an die Straßenkurve
am Backofen rollen. In der Aufregung vergaß ich
wohl zu bremsen und landete dann in einem der
Rad-
fahren
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Strauchhaufen, die für das Heizen des Backofens am
Wege lagerten. Dabei verbog sich das Vorderrad zu
einer Acht. Ich erschrak darüber sehr, denn ich sah
keinen Ausweg aus diesem Missgeschick. Zu mei-
nem Glück hatte mich dabei mein Bruder Otto
heimlich beobachtet. Er brachte das Rad wieder in
Ordnung und zurück in den Schuppen, ohne in der
Familie über meine Fahrversuche ein Wort zu verlie-
ren.
Zum Zahnarzt Prochel in Groß Nossin haben mich
anfänglich immer meine Eltern begleitet. Die Praxis
befand sich im Dachgeschoss eines Einfamilienhau-
ses am Ortseingang aus Richtung Wundichow/Klein
Nossin. Prochel bohrte mit Pedal. Sobald die Haus-
tür aufging, roch es schon nach Zahnarzt. Hier
flossen meine ersten Tränen, und es bedurfte guten
Zuredens, die Treppenstufen zur Schmerzenshölle
selbst zu nehmen.
Der Jahresablauf wurde durch das Erntefest, eine
Theateraufführung am Heiligen Abend in der Schu-
le, den Neujahrsschimmel, die Maifeier, den Aus-
trieb der Kühe Anfang Mai, das Pferdewaschen zu
Pfingsten, die Sonnenwendfeier, Sportfeste in der
freien Natur, Hochzeiten und Begräbnisse bestimmt.
An große Geburtstagsfeiern erinnere ich nicht. Wenn
kurz vor Weihnachten die Weihnachtsbäume aus
dem Wald geholt und geschmückt wurden, begann
das gemeinschaftliche Besingen des Weihnachtsbau-
Feste und
Brauch-
tum
Zahn-
schmerzen
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