161
noch immer, dass ich trotz Staub und Krach und
weiterer widriger Umstände nicht wenigstens ein
paar Stücke dieser mehr als 250 Millionen Jahre alten
Versteinerungen aus dem Erdzeitalter des Carbon
und Perm zur Seite geschafft und nach über Tage
mitgenommen habe.
Schmunzelnd denke ich immer noch gerne an eine
Schicht auf der Zeche Rheinelbe. Mit meinem Kum-
pel Walter Widera, er wanderte später nach Kanada
aus, kam ich direkt aus dem Film High Noon mit
Gary Cooper zur Nachtschicht um 22 Uhr. Kaum
hatten wir uns in der Kaue umgezogen, schritten wir
– wie Gary Cooper mit seinen Pistolen – mit unse-
rem Gezähe (Werkzeug) zur Einfahrt und vom
Förderturm die Strecke entlang in den Streb, wo wir
aus dem Toten Mann die wertvollen Eisenstempel
rauben mussten. Im Streb setzten wir uns gleich zu
Beginn der Schicht zum Buttern. Uns beaufsichtigte
ein neuer Steiger, mit dem wir uns noch nicht ange-
freundet hatten. Wir hatten schon bemerkt, dass an
diesem Tage wieder ein Überdruck auf den Ei-
senstempeln lastete, die wir herauszuschlagen und
mit einem Flaschenzug zu bergen hatten. Zu einem
explosionsartigen Absatz des gesamten Berges, des
Hangenden, kam es dann, wenn man mit dem
Fäustel gegen einen Hering der Stempel schlug, die
das Hangende vor dem Einbruch sicherten. Manch-
mal genügte es schon, einen unter Überdruck des
Wie Gary
Cooper
einge-
fahren
162
Berges stehenden Eisenstempel mit der Panne
(Schaufel) zu berühren, um den fürchterlichen Knall
auszulösen. Wir wollten nun die Bergfestigkeit
unseres Steigers prüfen und butterten so lange, bis er
kam und uns zum Arbeitsbeginn drängte. Ein verab-
redeter kleiner Schlag gegen einen Stempel löste
dann das erhoffte Donnergetöse aus und vertrieb
unseren sehr ruhig gewordenen Steiger. Er störte
uns danach nicht mehr beim Buttern.
Heiligabend 1949 habe ich unter Tage verbracht.
Wir fuhren mit einem erfahrenen Steiger lediglich zu
gemeinsamen Kontrollgängen mit einigen Kumpeln
auf der Zeche Alma ein. Als sich zeigte, dass alles in
Ordnung war und wir keine Arbeiten zu verrichten
hatten, hängte der Steiger unsere Grubenlampen in
einem Dreieck auf, sodass die Illusion eines brennen-
den Weihnachtsbaumes entstand, unter dem es sich
gut buttern und erzählen ließ. Wo wir saßen, war es
warm, und über uns war die Strecke durch Stahlträ-
ger gesichert. Es war eine eindrucksvolle Stille
Nacht.
Den Pütt habe ich eines Tages spontan verlassen,
als ich am Ausbau einer Strecke beteiligt war und
mir beim Beladen eines Hundes – einer Lore – meine
schwere Grubenlampe aufs Kreuz gefallen war. Sie
hatte auf einem Luftschlauch über mir gehangen, auf
den ich versehentlich einen schweren Stein hochge-
wuchtet hatte. Bei furchtbaren Schmerzen konnte ich
Heilig-
abend
unter
Tage
Nun
reichte es
163
kaum atmen und nicht schreien und fühlte mich
blitzartig der gleichen Lebensangst ausgesetzt wie
beim Sturz von einer Schaukel auf die spitz hervor-
stehende Wurzel einer Linde in meiner Kindheit.
Vor dem Förderturm und der Ausfahrt wurde ich
von Sanitätern in Empfang genommen und bin nie
wieder in eine Grube eingefahren.
Irgendwann zog ich in die Schwanenstraße 3. Hier
hatte ich von einem pensionierten Bergmann im Hof
seines Hauses ein Zimmer mit einem Kohleherd der
Marke Küppersbusch und konnte immerhin ein
eigenständigeres Leben führen.
Später zog ich in ein schon recht komfortabel
möbliertes Zimmer bei einer jüngeren Kriegerwitwe
in der Klosterstraße in unmittelbare Nähe des alten
Polizeipräsidiums. In der Klosterschänke gegenüber
trank ich abends gerne ein „Pilsken“ und traf hier oft
auf Jürgen von Manger, den mir aus manchen Rollen
an den Städtischen Bühnen vertrauten Schauspieler
und späteren Blödelbarden Tegtmeyer.
Von beiden Wohnplätzen aus waren die Städti-
schen Bühnen, das Hans-Sachs-Haus als Konzert-
haus, das Grillogymnasium als Veranstaltungsort
der Volkshochschule, Buchhandlungen, das Postamt,
das schöne Restaurant des im Kriege unversehrt
gebliebenen Jugendstilbahnhofs und der Stadtpark
zu Fuß in wenigen Minuten erreichbar. Ich lebte im
Zentrum einer großen Stadt.
Wohnen in
Gelsen-
kirchen
164
Mit meinem erstern maßgeschneideten Anzug
um 1950/51
165
Wenn ich Frühschicht oder Nachtschicht hatte, war
ich regelmäßig in der Volkshochschule, fand beson-
deren Gefallen an dem großen Zeitungslesesaal des
englischen Kulturinstituts „Brücke der Nationen“
und an der Stadtbücherei, deren Leiter ich in den
Veranstaltungen der Volkshochschule kennengelernt
hatte. In mehreren Kursen zur bildenden Kunst
lernte ich auch den städtischen Kunstwart Bernd
Lasch kennen. Nach den Veranstaltungen wanderten
wir noch häufig plaudernd durch die Straßen oder
saßen noch zusammen und tranken ein Bier. Er lud
mich später ein, mit ihm zusammen im Heimatmu-
seum Ausstellungen aufzubauen und an Eröffnun-
gen teilzunehmen.
Persönliche und politische
Orientierung in der Großstadt
Volkshoch-
schule und
Reform-
haus
166
Ich war auch stetiger Kunde des Reformhauses in
der nahe gelegenen Bahnhofstraße, ab Frühjahr 1950
Vegetarier. Unter Tage war ich für meine Kumpel
dadurch zum Nussknacker oder Eichhörnchen
geworden, weil ich beim Buttern nun anstelle von
Butterbrot meistens Studentenfutter aß.
Diese vom ersten Tage ab einsetzende Zuwendung
zu den Bildungsangeboten der Volkshochschule und
zur Lebensform war keine originäre eigene Entschei-
dung. Zu verdanken habe ich sie Heinrich Scharn-
berg, den ich 1948 bei Wanderungen über den Höh-
beck kennengelernt hatte. Zu Beginn der zwanziger
Jahre hatte er hier mit anderen Lebensreformern
gesiedelt. Er bewirtschaftete auf der Schweden-
schanze eine Obstplantage und lebte mit seiner
Familie vegetarisch. Zu den Siedlern gehörte auch
Karl Voelkel, der Besitzer der Mosterei in Pevestorf,
in der ich eine Zeit lang gearbeitet hatte.
Hein nahm sich stets Zeit für ein Gespräch und um
mir aus seiner Bücherkiste auch die Titel zu suchen
und mitzugeben, die sich auf Fragen der Jugendbe-
wegung der zwanziger Jahre und der Lebensreform
erstreckten. Er war 1921 Teilnehmer des ersten
Lehrgangs der ersten deutschen Heimvolkshoch-
schule Dreißigacker bei Meiningen gewesen und
schilderte dessen Bedeutung für seine persönliche
Entwicklung wiederholt so überzeugend, dass ich
schließlich auch schon in Gartow eine Veranstaltung
Motive
167
zur Sternenkunde der Volkshochschule besuchte.
Nachdem ich ihm meine Absicht bekundet hatte,
wie bereits viele andere aus der Region in den Berg-
bau zu wechseln, empfahl er mir, doch nach Gelsen-
kirchen wegen der dort bestehenden hervorragen-
den Volkshochschule überzusiedeln. Diese Informa-
tion hatte er von seinem ehemaligen Mitschüler aus
Dreißigacker, Heiner Lotze, der jetzt Referatsleiter
für Erwachsenenbildung im Niedersächsischen
Kultusministerium war.
Über Ankündigungen in einer vegetarischen
Zeitschrift und einen Aushang im Reformhaus stieß
ich eines Tages zur Theosophischen Gesellschaft. An
deren Studienzyklen habe ich mehrere Jahre teilge-
nommen, bis die beiden Leiterinnen, die Realschul-
lehrerinnen Herter und Linné, nach ihrer Pensionie-
rung nach Bad Liebenzell übersiedelten. Die Mitar-
beit und Mitgliedschaft in diesem Kreis war eine
Zeit vielfältiger Anregungen für religiöse und philo-
sophische Themen. Indische Literatur sowie der
Buddhismus in seiner ganzen Vielfalt und kulturel-
len Gestalt übten eine geradezu unwiderstehliche
Faszination auf mich aus. Ich malte mir aus, eines
Tages nach Indien oder Tibet zu reisen und nicht
wiederzukehren, so verbunden fühlte ich mich der
dort vorhandenen Religion, der fernöstlichen Geis-
teswelt in Philosophie, Architektur und bildender
Kunst.
In der
Theoso-
phischen
Gesell-
schaft
168
Einer Einladung der theosophischen Partnergesell-
schaft in den Niederlanden verdankte ich meine
erste Auslandsreise. Ich lernte gepflegte bürgerliche
Haushalte kennen, war beeindruckt von dem allge-
meinen Wohlstand des Landes und genoss die
Gastfreundschaft der niederländischen Theosophen
in Den Haag, Amsterdam, Rotterdam und Utrecht.
Im Völkerkundlichen Museum in Leiden verhalfen
mir die spendablen Gastgeber zu einem unvergess-
lich eindrucksvollen Erlebnis, als ich plötzlich allein
in dem Tempel meditierender Buddhas stand.
Der Theosophischen Gesellschaft gehörte auch
Edith Ott an, die Ehefrau des Bassisten Emil Ott im
Gelsenkirchener Symphonieorchester. Nachdem ich
schon Abonnent der städtischen Bühnen war, wurde
ich durch das Ehepaar Ott mit vielen Musikern des
Orchesters persönlich bekannt, wenn wir nach den
Konzertabenden im Hans-Sachs-Haus oder in einem
altdeutschen Restaurant, der Kanne oder Kupferkan-
ne in der Annenstraße, noch zusammensaßen. Mit
Alfred Kolmsee, den ich während eines Konzertbe-
suches im Hans-Sachs-Haus kennenlernte, wurde ich
ein guter Kunde einer Gelsenkirchener Buchhand-
lung, in der ich den ersten großen Brockhaus im
Abonnement erwarb. Wir kauften beide ebenfalls
viele antiquarische Bücher.
Der Gelsenkirchener Stadtpark, der Schlosspark in
Buer und der Baldeneyer See in Essen waren damals
Freizeit-
leben
169
beliebte Ausflugsziele. Im Sommer hielt ich mich
stundenlang in Schwimmbädern der Stadt und auf
einem Zechengelände auf und machte intensive
Tauchübungen und Sprünge von allen Brettern bis
zu zehn Metern Höhe.
Ich lebte gerne in Gelsenkirchen. Während dieser
Jahre ging ich regelmäßig zu Tanztees und Tanz-
abenden. Von der ersten Nachkriegszeit verabschie-
dete ich mich mit einem schwarzen Maßanzug, den
ich bei einem Gelsenkirchener Schneider anfertigen
ließ und erstand im Westfalenkaufhaus fast zeit-
gleich einen Mantel und Hut. Wahre Errungenschaf-
ten nach den Notjahren der Nachkriegszeit.
Die Schlager der vierziger und fünfziger Jahre mit
ihren süßlich anheimelnden, kitschigen Texten und
Melodien bereiteten mir damals durchaus großes
Vergnügen. Die einzelnen Tanzschritte, Tanzabende,
Lokale und vor allem die Partnerinnen sind mir
noch gut in Erinnerung.
1954 wurde ich Mitglied einer Loge des Freimau-
rerordens Le Droit Humain in Dortmund, deren
Meister vom Stuhl Heinz Lange aus Dortmund-
Aplerbeck war. Es handelte sich um eine gemischte
Loge für Männer und Frauen. In der Familie Gudrun
und Heinz Lange war ich schon Jahre vorher an
vielen Wochenenden zu Gast. Die 1952 von ägypti-
schen Offizieren erzwungene Abdankung König
Faruks von Ägypten ist eines der historischen Ereig-
Frei-
maurerei
170
nisse, die aus den Gesprächen dieser Wochenenden
ihren Erinnerungswert behaupten. Das andere ist die
von der deutschen Fußballnationalmannschaft im
Jahre 1954 errungene Weltmeisterschaft. Die Jubel-
schreie hörte ich im Radio eines Cafes während eines
sonntäglichen Spazierganges im Stadtpark.
Nach 1949 löste ich mich auch allmählich aus der
Ideen-, Personen- und Symbolwelt des Nationalsozi-
alismus, die mich doch entscheidend geprägt hatte.
Die im Radio bis zum 23. Mai 1945 in Schleswig
gehörten Berichte über die NS-Verbrechen in den
Konzentrationslagern wirkten zwar erschütternd,
andererseits wehrte ich mich aber dagegen, solche
Nachrichten von den Siegermächten als objektiv zu
akzeptieren.
Diese passive Haltung gegenüber allen Bemühun-
gen von alliierter, später auch von deutscher Seite,
über die Verbrechen des NS-Systems aufzuklären
und dessen prominenteste Vertreter im Nürnberger
Prozess von den Siegern abzuurteilen und durch
Hängen zum Tode zu befördern, haben konsequen-
tes politisches Nachdenken bei mir bis gegen Ende
der vierziger Jahre nicht ausgelöst. Dafür gab es
weder bei Gesprächen während der Flucht Anlass,
noch Impulse durch die nach dem Kriegsende ein-
setzenden persönlichen Orientierungsversuche, die
bäuerlichen Arbeitsverhältnisse und Lebensgemein-
schaften. Ob beispielsweise ein Radio auf den Bau-
Allgemeine
politische
Umorien-
tierung
171
ernhöfen überhaupt existierte oder mitgehört wer-
den konnte, erinnere ich nicht.
Eine Zeitung habe ich regelmäßig erst seit Beginn
meiner bergmännischen Tätigkeit lesen können.
Ganz sicher haben aber auch die Gräueltaten sowje-
tischer Truppen in Deutschland, Berichte über das
Kriegsende in meinem Heimatdorf und die Umstän-
de der polnischen Besiedlung der Ostgebiete sowie
der Vertreibung und das Schicksal eigener Familien-
angehöriger eine kritische Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus in dieser Lebensphase
blockiert.
Im Herbst 1948 war ich aber bereits Mitglied der
Gewerkschaft Gartenbau, Landwirtschaft und Fors-
ten geworden, nachdem ein Landwirt in Meetschow
– heute ein Ortsteil der Gemeinde Gartow – mich
hinauswarf, weil ich ihn um eine Lohnerhöhung von
45 Mark auf die monatlich üblichen 60 Mark gebeten
hatte. Nur sehr schemenhaft erinnere ich mich noch
eines gewerkschaftlichen Lehrganges in Brackwede,
der wohl über gewerkschaftliche Aufgaben und
Arbeitsweisen informierte.
Ein Verständnis für Interessenvertretungen, Kolle-
gialität, politisches Denken und Engagement vermit-
telten mir indes anschaulich die Aktivitäten des
Betriebsratsvorsitzenden der Zeche Alma und des
örtlichen DGB-Vorsitzenden. Der Erstere ein Kom-
munist, der andere ein Sozialdemokrat. Ihre aktive
Gewerk-
schaftliche
Erfahrun-
gen
172
Rolle im betrieblichen, politischen und kulturellen
Leben der Stadt prägten auch mein späteres politi-
sches und kulturelles Verhalten in beruflichen und
politischen Arbeitsfeldern.
Die Lektüre in- und ausländischer Zeitungen in
einem Zeitungslesesaal der Gelsenkirchener „Brücke
der Nationen“ hatte mein Interesse für Zeitgeschich-
te und politische Themen ebenso geweckt wie Kurse
zu sozialgeschichtlichen, arbeitsrechtlichen und
ökonomischen Themen, die Dozenten der Sozialaka-
demie Dortmund in der Volkshochschule Gelsenkir-
chen anboten. Dadurch erlangte Kenntnisse und
Überzeugungen sowie meine beruflichen Erfahrun-
gen führten schließlich zu einem gewandelten politi-
schen Selbstverständnis, in dessen Zentrum Ideolo-
gieferne, Meinungsvielfalt und eigenverantwortli-
ches Denken und Handeln standen.
Obgleich ich schon unmittelbar nach Kriegsende
zu meiner großen Überraschung feststellte, wie
wenig konkrete Erinnerungen an meinen Vater sich
bei mir einstellten, vermisste ich ihn jetzt als lebhaf-
ten Gesprächspartner für politische Ereignisse und
Probleme.
Im Radio verfolgte ich viele Bundestagsdebatten
ebenso interessiert wie seinerzeit die aufputschen-
den Reden Adolf Hitlers und seines Propagandami-
nisters Goebbels. Meine besondere Aufmerksamkeit
galt den Kultusministern der Länder und der Bil-
Brücke der
Nationen,
Volkshoch-
schule und
Radio
173
dungspolitik. Keine Ministerin, kein Minister, die ich
nicht mit Namen kannte. Bildung und Kulturpolitik
hatte in dieser Nachkriegsperiode einen hohen Rang.
Mit der Überzeugung, die Repräsentanten ihrer
Bildungspolitik in den Ländern seien auch der
Inbegriff sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik,
trat ich im Jahr 1955 in die SPD ein.
Trotz vielfältiger kultureller Interessen für Musik,
Theater, Bildende Kunst, Literatur, Religion und der
Ansammlung zahlreicher Teilnahmebescheinigun-
gen der Volkshochschule war ich 1954 aber immer
noch ohne eine berufliche Qualifikation.
Zu dieser Zeit lernte ich einen deutschstämmigen
schwedischen Studenten kennen, der mich auf der
Straße um eine Auskunft bat und mir im Laufe des
Gespräches und weiterer Kontakte ausführlich
schilderte, dass er sein Studium aus dem hohen
Verdienst einer zeitweiligen Arbeit als Holzfäller
finanziere und diese Möglichkeit auch Ausländern
in Schweden bei entsprechendem Einreisevisum
offen stände.
Nach längerer Überlegung bat ich daraufhin das
schwedische Generalkonsulat um ein einjähriges
Einreisevisum für diesen Zweck. Während eine
Antwort längere Zeit auf sich warten ließ, erhielt ich
Kenntnis davon, dass es in Wilhelmshaven-
Rüstersiel eine Hochschule für Arbeit, Wirtschaft
und Politik gäbe, an deren Propädeutikum man mit
Weiter-
bildungs-
bilanz
174
einer Berufsausbildung nach einer bestandenen
Aufnahmeprüfung gelangen könne.
Da ich über die geforderte Qualifikation einer
abgeschlossenen Berufsausbildung nicht verfügte,
zögerte ich mit meiner Bewerbung, ließ den nächsten
Bewerbungstermin verstreichen und bewarb mich
dann aber doch noch per Eilbrief. Nach meiner
Tätigkeit im Bergbau, einer Glashütte und als Mau-
rer in der Herdfabrik Küppersbusch befand ich mich
zu dieser Zeit in der Drahtzieherei Grillo-Funke in
Gelsenkirchen-Schalke.
Im Juni 1955 bestand ich dann mit zwölf von
insgesamt 78 Bewerbern diese Aufnahmeprüfung
und wurde im Oktober immatrikuliert.
Wilhelms-
haven-
Rüstersiel
175
Mit dem zum Wintersemester 1955 beginnenden
Besuch des Propädeutikums an der Hochschule für
Sozialwissenschaften (HfS) in Wilhelmshaven und
dem ab 1957 anschließenden Studium an der Hoch-
schule für Wirtschaft und Politik (HWP) in Ham-
burg mit dem Abschluss als Diplom-Betriebswirt
begann eine neue Lebensphase. Diese das spätere
Leben prägenden Jahre behaupten mit der anschlie-
ßenden 33-jährigen Tätigkeit im Bereich der Volks-
hochschulen Niedersachsens dennoch keinen so
nachhaltigen Platz wie die bis 1945 in Pommern ver-
lebte Kindheit, die Flucht aus Hinterpommern und
die danach überwiegend im niedersächsischen
Studienzeit und Beruf 1955 bis 1993
176
Wendland und im Ruhrgebiet verlebte Nachkriegs-
zeit bis 1955.
Zur Finanzierung während des Studiums und in
den Semesterferien ausgeübte Jobs als Busschaffner,
Brauereiarbeiter, Hafenarbeiter, Gartenarbeiter, Ma-
ler, Teppichklopfer und wissenschaftlicher Hilfsar-
beiter trugen zu weiteren sozialen Erfahrungen bei.
Sie stellten sich aber auch noch zusätzlich im organi-
sationspolitischen Feld der aktiven Betätigung in
einer Gewerkschaftlichen Studentengruppe (GSG)
und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund
(SDS) ein und erwiesen sich danach als sehr vorteil-
haft für die Tätigkeit als Dozent für politische Bil-
dung und Lehrgangsleiter für Seminare mit deut-
schen und niederländischen Jugendlichen und Er-
wachsenen vieler Berufe und verschiedener Schul-
gattungen an der Deutsch-Niederländischen Heim-
volkshochschule in Aurich von 1960 bis 1962. Ich
profitierte davon auch als Leiter Volkshochschule
für die Stadt und den Kreis Leer von 1962 bis 1970
und als Direktor des Landesverbandes der Volks-
hochschulen Niedersachsens bis 1993.
177
Abkürzungen
DDR – Deutsche Demokratische Republik
DGB
– Deutscher Gewerkschaftsbund
GSG
– Gewerkschaftliche Studentengruppe
HfS
– Hochschule für Sozialwissenschaften
HJ
– Hitlerjugend
HWP – Hochschule für Wirtschaft und Politik
LBA
– Lehrerbildungsanstalt
NSKK – Nationalsozialistischer Kraftfahrerkorps
NVHS – Niedersächsische Volkshochschule
OT
– Organisation Todt
SA
– Sturmabteilung (der NSDAP)
SBZ
– Sowjetische Besatzungszone
SDS
– Sozialistischer Deutscher Studenten-
bund
SPD
– Sozialdemokratische Partei Deutschland
VHS
– Volkshochschule
178
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