Leitmotive im 20


Eros und Thanatos: Freud und Bataille



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3.4 Eros und Thanatos: Freud und Bataille



3.4.1 Das Lustprinzip
Nietzsches Philosophie der Macht, wie er sie in Also sprach Zarathustra entwickelte, weist prägnante Parallelen zur Psychoanalyse auf. Nietzsches Setzung und Interpretation des „Willens zur Macht“ als bestimmenden Grundtrieb des Menschen, seine Idee der Triebsublimierung und eines schöpferischen Eros sind Ideen, die sich im theoretischen Ansatz von Sigmund Freud wiederfinden lassen.

Die Psychoanalyse des österreichischen Arztes und Neurologen Sigmund Freud, kann, obgleich seine Theorien durchaus umstritten sind und aus heutiger Forschungssicht Mängel bzw. Sprünge aufweisen, Aufschluß geben über die Struktur des Subjektes. Das Strukturenmodell und das Phasenmodell bilden die theoretischen Hauptpfeiler der Psychoanalyse Freuds. Das psychoanalytische Subjekt ist ein Dividuum, die menschliche Psyche konstituiert sich bei Freud aus den drei divergierenden Teilen Ich, Über-Ich und Es. Es wird weiter davon ausgegangen, daß Triebkräfte dem Menschen angeboren sind, daß diese qua Definition dem menschlichen Körper innewohnen und – ähnlich wie Instinkte – nach einer unmittelbaren Befriedigung streben. Freud bezeichnet zunächst mit der Libido117 den sexuellen Trieb, auf den er das menschliche Handeln zurückführt.118 Sexualtrieb und Aggressionstrieb stellen für ihn die menschlichen Grundtriebe dar, der späte Freud wird seine Theorie durch die Einführung des Todestriebes weiter modifizieren. Für Freud repräsentiert die Sexualität des Erwachsenen das Endprodukt eines komplexen Entwicklungsprozesses, der in der Kindheit beginnt und auf das Liebes- und Sexualleben des Individuums rückwirkt (orale, anale und genitale Entwicklungsstufen; ödipale Phase). Eine grundlegende Annahme der Freudschen Theorie besteht darin, von der Korrelation unbewusster psychischer Konflikte und Triebe auszugehen, deren Ursprung in der Kindheit liegt. Somit kommt der Familie wie der Gesellschaft eine große kulturelle Bedeutung als prägende Erziehungs- und Sozialisationsinstanz zu.


„Die Gesellschaft muß es nämlich unter ihre wichtigsten Erziehungsaufgaben aufnehmen, den Sexualtrieb, wenn er als Fortpflanzungsdrang hervorbricht, zu bändigen, einzuschränken, einem individuellen Willen zu unterwerfen, der mit dem sozialen Geheiß identisch ist. Sie hat auch Interesse daran, seine volle Entwicklung aufzuschieben, bis das Kind eine gewisse Stufe der intellektuellen Reife erreicht hat, denn mit dem vollen Durchbruch des Sexualtriebs findet auch die Erziehbarkeit praktisch ein Ende. Der Trieb würde sonst über alle Dämme brechen und das mühsam errichtete Werk der Kultur hinwegschwemmen. Die Aufgabe, ihn zu bändigen, ist auch nie eine leichte, sie gelingt bald zu wenig, bald allzu gut. Das Motiv der menschlichen Gesellschaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit lenken. Also die ewige, urzeitliche, bis auf die Gegenwart fortgesetzte Lebensnot.“ (Freud 1971, S.308)
Ähnlich wie Norbert Elias119 kommt auch Sigmund Freud in der Analyse des Zusammenhangs zwischen Mensch und Gesellschaft zu dem Schluß, daß der Mensch an der Kultur leidet. So handelt es sich in der kulturellen Unterdrückung des Triebes um die Verteidigung und Absicherung des Kollektivinteresses, des Gemeinwohls. Das Verhältnis zwischen triebgesteuertem Individuum und seiner Kultur120 wird in Das Unbehagen in der Kultur121 einer näheren Betrachtung unterzogen, indem Freud zunächst nach den Motiven menschlichen Handelns fragt:
„Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Das Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, andererseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird ‚Glück‘ nur auf das letztere bezogen. Entsprechend dieser Zweiteilung der Ziele entfaltet sich die Tätigkeit der Menschen nach zwei Richtungen, je nachdem sie das eine oder das andere dieser Ziele – vorwiegend oder selbst ausschließlich – zu verwirklichen sucht.“ (Freud, GW XIV, S.433f.)
Das Verhältnis zwischen Glück und Unglück entspricht einem dialektischen Prinzip. Glück existiert nur situationsbezogen, das dauerhafte Glück ist für den Menschen nicht möglich, da menschliche „Leidensquellen“, die nicht zum Versiegen gebracht werden können, ihn daran hindern:
„Wir haben die Antwort bereits gegeben, indem wir auf die drei Quellen hinwiesen, aus denen unser Leiden kommt: die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln. In betreff der beiden ersten kann unser Urteil nicht lange schwanken; es zwingt uns zur Anerkennung dieser Leidensquellen und zur Ergebung ins Unvermeidliche. Wir werden die Natur nie vollkommen beherrschen, unser Organismus, selbst ein Stück dieser Natur, wird immer ein vergängliches, in Anpassung und Leistung beschränktes Gebilde bleiben.“ (ebd. S.444)
Im psychoanalytischen Strukturmodell kommt jedem Persönlichkeitssegment eine spezifische Aufgabe zu. Das Ich agiert als Vermittlungsinstanz zwischen Trieberfüllung und Triebsublimierung, reguliert das von Trieb und Lustprinzip gesteuerte System des Es und adaptiert die Realität durch Abwehrmechanismen wie Verdrängung und Projektion. Das kontrollierende System des Über-Ich fungiert als internalisiertes Verbots- und Normierungssystem, es wird zur Speichersinstanz für Scham- und Schuldgefühle:
„Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ‚Gewissen‘ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt.“ (ebd. S.482f.)
Freud geht von einer repressiven Gewalt der Kultur aus, die den Menschen in seinem Streben nach Glück behindert und die Kollektivinteressen in den Vordergrund und damit das individuelle Glücksstreben in den Hintergrund stellt. Nach Freud siegt die Kultur über die individuelle Aggressionslust durch die Funktionsmechanismen der Abschwächung, Entwaffnung und verinnerlichten „Besatzungsmacht“; er beschreibt damit den Eliasschen Selbstzwangautomatismus. Das Individuum ist nur deshalb dazu bereit, seine Triebe zu zügeln und seinen Aggressionstrieb – die permanente Bedrohung der Kultur – nicht auszuagieren und stattdessen am „Unbehagen in der Kultur“ zu leiden, weil es sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen befindet. Die verinnerlichte Kontrollinstanz schützt den Menschen vor einem drohenden Liebesverlust. Der Mensch verzichtet auf seine Lust, auf das Ausagieren seiner Aggression, um das Zusammenleben in der Gemeinschaft nicht zu gefährden, so weit stimmen die Argumentationen von Norbert Elias und Sigmund Freud überein.122 Freud geht jedoch in seiner Interpretation einen Schritt weiter. Für ihn hat der Kampf zwischen Individuum und Kultur nicht jenen immensen Stellenwert, den er dem „Streit der Giganten“, dem steten Konflikt zwischen Eros und Todestrieb beimißt:
„Aber dieser Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft ist nicht ein Abkömmling des wahrscheinlich unversöhnlichen Gegensatzes der Urtriebe, Eros und Tod, er bedeutet einen Zwist im Haushalt der Libido, vergleichbar dem Streit um die Aufteilung der Libido zwischen dem Ich und den Objekten, und er läßt einen endlichen Ausgleich zu beim Individuum, wie hoffentlich auch in der Zukunft der Kultur, mag er gegenwärtig das Leben des Einzelnen noch so sehr beschweren.“ (ebd. S.501)

3.4.2 Der Todestrieb
Mit der Todestriebhypothese, die Freud 1923 in der Schrift Jenseits des Lustprinzips123 einführte, modifiziert Freud seine bisherige Theorie, in dem er den Todestrieb als neuen Trieb etabliert und damit die bisherige Dualität von Sexualtrieb und Ichtrieb, von Lustprinzip und Realitätsprinzip auflöst.124

Eros als Lebenstrieb und Thanatos125 als Destruktions- oder Todestrieb, zu dem der Aggressionstrieb als „Abkömmling und Hauptvertreter“ zu rechnen ist, teilen sich nach Freud die „Weltherrschaft“. Der Kampf zwischen Eros und Tod bestimmt Mensch und Kultur, er ist entscheidend für die „Kulturentwicklung“ und wird zum wesentlichen „Inhalt des Lebens überhaupt“. (Freud, GW XIV, S.481)

Die bereits in der Einleitung zur Schrift Jenseits des Lustprinzips aufgeworfene Frage nach der Herkunft und Bedeutung von Lust- und Unlustempfindungen, die für den Menschen so bestimmend sind, versucht Freud durch die Entschlüsselung des kindlichen Spiels eines eineinhalbjährigen Jungen126, des „Kindes mit der Spule“ zu beantworten.

„Dieses brave Kind zeigte nun die gelegentlich störende Gewohnheit, alle kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde, weit weg von sich in eine Zimmerecke, unter ein Bett usw. zu schleudern, so daß das Zusammensuchen seines Spielzeugs oft keine leichte Arbeit war. Dabei brachte es mit dem Ausdruck von Interesse und Befriedigung ein lautes, langgezogenes o-o-o-o- hervor, das nach dem übereinstimmenden Urteil der Mutter und des Beobachters keine Interjektion, sondern ‚Fort‘ bedeutete.“ (Freud 1923, S.13)


Freuds Deutung des kindlichen Spiels bedarf einer genaueren Untersuchung, da Freud seine Interpretation des Spieles mit der Spule in einen subjekttheoretischen Kontext stellt, der über das Motiv der Wiederholung zur Etablierung der Todesmetapher führt.

Kinderspiele werden gemeinhin gedeutet als entspannende Tätigkeiten, als Rollen- oder Geschicklichkeits- und Zufallsspiele, die strukturiert oder unstrukturiert verlaufen können, die sich spontan ergeben oder von anderen übernommen werden und nur schwer kategorisierbar sind. In der Psychologie wird davon ausgegangen, daß sich das Motiv der Nachahmung der Erwachsenenwelt bzw. der eigenen Erfahrungswelt im kindlichen Spiel wiederfindet, dies zeigt sich typischerweise im Rollenspiel mit Puppen, Kuscheltieren etc., das somit der Verarbeitung von (problematisch) erfahrenen Situationen dient. Einen möglichen Zusammenhang zwischen Spiel und dem metaphorischen Tod konstruierend, verlässt Freud den üblichen Deutungsrahmen der Psychologie des kindlichen Spiels sowie gleichfalls den der aus der Mathematik stammenden Spieltheorie, die sich seit ihren Anfängen in den dreißiger und vierziger Jahren im Wissenschaftsbereich großer Beliebtheit erfreut.127 Diese unterscheidet eine Vielzahl von Spielen, die sich aufgrund der Spieleranzahl und der Art der Regeln voneinander abgrenzen lassen. In der Spieltheorie wird der Terminus Spiel als Interessenskonflikt unterschiedlicher Parteien verstanden. Die Spieltheorie, die neben sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen die Mathematik als Erklärungsgrundlage einer Spielsituation nimmt, kann in der Analyse einer politischen oder militärischen Situation genauso herangezogen werden wie in der von Unterhaltungs- und Glücksspielen. Aufgrund einer mathematischen Untersuchungsweise wird das Spiel in strategische Spielzüge zerlegt, die den Verlauf des Spieles vom Anfang bis zum Ende bestimmen und nach festen Regeln erfolgen, welche in einem gewissen Rahmen kalkulierbar sind.



Freud verlässt in seiner Interpretation des Spieles mit der Spule den üblichen Interpretationsrahmen, in dem er den Begriff des Spieles mit dem des Todestriebes und der Wiederholung in Verbindung bringt. Wie er feststellt, wiederholten sich die Spielmotive des Kindes, das Kind führte in der Abwesenheit seiner Mutter Handlungen aus, die – so die Vermutung des Psychoanalytikers – mit der Verarbeitung von Unlustgefühlen zu tun hatten:
„Eines Tages machte ich dann die Beobachtung, die meine Auffassung bestätigte. Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie z.B. am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o- und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen ‚Da‘. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing. Die Deutung des Spieles lag dann nahe. Es war im Zusammenhang mit der großen kulturellen Leistung des Kindes, mit dem von ihm zustande gebrachten Triebverzicht (Verzicht auf Triebbefriedigung), das Fortgehen der Mutter ohne Sträuben zu gestatten. Es entschädigte sich gleichsam dafür, indem es dasselbe Verschwinden und Wiederkommen mit den ihm erreichbaren Gegenständen selbst in Szene setzte.“ (ebd. S.14f.)
In der Deutung des kindlichen Spiels setzt er sich intensiv mit der Struktur des Wiederholungszwanges auseinander. Darüber hinaus hatte Freud auch in seiner analytischen Praxis mit den Neurosen Kriegsgeschädigter zu tun, die sich in ihren Träumen in permanenter Wiederholung mit dem Erlebten beschäftigten.
„Angesichts solcher Beobachtungen aus dem Verhalten in der Übertragung und aus dem Schicksal der Menschen werden wir den Mut zur Annahme finden, daß es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip hinaussetzt. Wir werden auch jetzt geneigt sein, die Träume der Unfallsneurotiker und den Antrieb zum Spiel des Kindes auf diesen Zwang zu beziehen. Allerdings müssen wir uns sagen, daß wir die Wirkungsweise des Wiederholungszwanges nur in seltenen Fällen rein, ohne Mithilfe anderer Motive erfassen können. Beim Kinderspiel haben wir bereits hervorgehoben, welche andere Deutungen seine Entstehung zuläßt. Wiederholungszwang und direkte lustvolle Triebbefriedigung scheinen sich dabei zu intimer Gemeinsamkeit zu verschränken.“ (ebd. S.26f.)
Freud kommt zu dem Schluß, daß hinter dem Wiederholungsprinzip das Todesmotiv zu vermuten ist. Für Freud geht im Kampf zwischen Lebenstrieb und Todestrieb stets der Tod als Sieger hervor. Der Lebenstrieb steht letztenendes im Dienst des Todestriebes, ist diesem also untergeordnet. Ziel des Lebens ist damit, so Freuds düstere Ableitung, der Tod:
„Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangspunkt, sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus i n n e r e n Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: D a s Z i e l a l l e s L e b e n s i s t d e r T o d, und zurückgreifend: D a s L e b l o s e w a r f r ü h e r d a a l s d a s L e b e n d e.“ (ebd. S.52, Hervorhebung im Original)
Das Leblose war – so Freud – bereits vor dem Lebenden vorhanden, der Todestrieb entspricht folglich dem Trieb, in den Zustand des Leblosigkeit zurückzukehren, aus dem der Mensch in seinem Ursprung stammt.

„Wenn man an der ausschließlich konservativen Natur der Triebe festhält, kann man zu anderen Vermutungen über Herkunft und Ziel des Lebens nicht gelangen. Ebenso befremdend wie diese Folgerungen klingt dann, was sich für die großen Gruppen von Trieben ergibt, die wir hinter den Lebenserscheinungen der Organismen statuieren. Die Aufstellung der Selbsterhaltungstriebe, die wir jedem lebenden Wesen zugestehen, steht in merkwürdigem Gegensatz zur Voraussetzung, daß das gesamte Triebleben der Herbeiführung des Todes dient. Die theoretische Bedeutung der Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe schrumpft, in diesem Licht gesehen, ein; es sind Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum Anorganischen als die immanenten fernzuhalten, aber das rätselhafte, in keinen Zusammenhang einfügbare Bestreben des Organismus, sich in aller Welt zum Trotz zu behaupten, entfällt.“ (ebd. S.53)


Obschon der Todestrieb der mächtigere der beiden dualistischen Triebkräfte darstellt, wenden sich die Sexual- und Selbsterhaltungstriebe als Energien für das Leben gegen die Triebkraft der Destruktion. Mit diesem Effekt wird der Nachweis der „Triebkräfte, die das Leben in den Tod überführen wollen“, mögen sie auch „von Anfang an wirksam sein“, schier unmöglich. (ebd. S.69)
„Wenn man also die Annahme von Todestrieben nicht fahren lassen will, muß man ihnen von Anfang an Lebenstriebe zugesellen. Aber man muß es zugestehen, wir arbeiten da an einer Gleichung mit zwei Unbekannten. Was wir sonst in der Wissenschaft über die Entstehung der Geschlechtlichkeit finden, ist so wenig, daß man dies Problem einem Dunkel vergleichen kann, in welches auch nicht der Lichtstrahl einer Hypothese gedrungen ist. An ganz anderer Stelle begegnen wir allerdings einer solchen Hypothese, die aber von so phantastischer Art ist – gewiß eher ein Mythos als eine wissenschaftliche Erklärung –, daß ich nicht wagen würde, sie hier anzuführen, wenn sie nicht gerade die eine Bedingung erfüllen würde, nach deren Erfüllung wir streben. Sie leitet nämlich einen Trieb ab von d e m B e d ü r f n i s n a c h W i e d e r h e r s t e l l u n g e i n e s f r ü h e r e n Z u s t a n d es.“ (ebd. S.82, Hervorhebung im Original)
Auch wenn Freud die „Lehre von den beiden Triebarten – ihrer Polarität, aber auch ihrer Vermischung“ in nachfolgenden Arbeiten wie Das Ich und das Es aus dem Jahr 1923 weiter ausbaute und präzisierte, ist die Annahme des Todestriebes bis in die Gegenwart einer der umstrittensten Bausteine der Freudschen Theorie geblieben. (Lohmann 1986, S.60) Als Theoretiker der Moderne und Postmoderne setzen sich neben Georges Bataille Jacques Lacan128, Gilles Deleuze129 sowie Jean Baudrillard u.a. mit der umstrittenen Todestriebhypothese Freuds auseinander. Baudrillard sieht im Dualismus von Lebens- und Todestrieb – wie ihn Freud in Jenseits des Lustprinzips und Das Unbehagen in der Kultur darlegte –, in der Funktion des Eros einen „gewaltigen Umweg der Kultur auf dem Weg zum Tode, der alles seinen eigenen Zwecken unterordnet“. Im „Zirkel des einzigen Todestriebes“ sei der Wiederholungszwang verortet, der „auch solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine Lustmöglichkeiten enthalten.“ Weiter ist nach Baudrillard der Wiederholungszwang
„[...] eine Tendenz, jenes Nicht-Ereignis par excellence zu reproduzieren, das für jedes Lebewesen ein vorheriger und anorganischer Zustand der Dinge ist, das heißt den Tod. Der Tod zerstört also in einem Wiederholungs-Zyklus ständig die konstruktiven, linearen oder dialektischen Absichten des Eros. Eine Zähflüssigkeit des Todestriebes und Elastizität des Anorganischen, die allenthalben erfolgreich der Strukturierung des Lebens widersteht.“ (Baudrillard 1991, S.237)
Jean Baudrillard knüpft in Der symbolische Tausch und der Tod130 in seiner Beschreibung der Verschiebung des Tabus um die Sexualität hin zur Tabuisierung des Todes direkt an Freuds Sexual- und Todestriebpostulate an. Baudrillard spricht vom „sexualisierten Tod“ und dem „todbringenden Sexus“, er charakterisiert den Tod als „die wirkliche Sexualisierung des Lebens“. (ebd. S.293) Er skizziert hier den Kampf zwischen Eros und Thanatos als ein elementares Prinzip, das subjekt- und gesellschaftsübergreifend Gültigkeit hat und in dieser Funktion erstmals von Freud anerkannt wurde.
„Vom Christentum bis hin zum Marxismus und im Existentialismus gilt: entweder wird der Tod ganz offen geleugnet und sublimiert oder er wird dialektisiert. [...] Ganz anders bei Freud. Je mehr (selbst tragische) Sublimierung, um so mehr Dialektik mit dem Todestrieb ist möglich. Zum ersten Mal erscheint der Tod als ein dem Eros entgegengesetztes unzerstörbares Prinzip. Und das ohne Rücksicht auf Subjekt, Klasse oder Geschichte: eine unreduzierte Dualität der beiden Triebe Eros und Thanatos, die in gewisser Weise die antike manichäische Weltauffassung eines unendlichen Antagonismus der beiden Prinzipien von Gut und Böse wiederbelebt.“ (ebd. S.235f., Hervorhebung im Original)

3.4.3 Der orgiastische Tod
Der französische Schriftsteller Georges Bataille, der seit den zwanziger Jahren neben theoretischen Abhandlungen auch zahlreiche erotische Texte131 veröffentlichte, untersuchte in seinem späten Theoriewerk Der heilige Eros132 eingehend das Verhältnis von Sexualität, Grenzüberschreitung und Tod. Batailles zentrale Thematik ist die spannungsgeladene Verbindung von Tabu und Übertretung, Erotik und Tod, wobei er stets Erkenntnisse der Psychoanalyse, der Philosophie und der Soziologie miteinbezieht.133 Bataille sieht den Tod ähnlich wie Freud und Baudrillard134 – wenn auch in einem etwas anderen Begründungskontext – nicht als Gegensatz zum Leben, sondern als integralen Bestandteil des Lebens. Fortdauernd sterben im menschlichen Körper Zellen ab und bilden sich neu, der Körper befindet sich in einem stetigen Prozeß des Sterbens und Erneuerns. Er begreift den Menschen als diskontinuierliches Wesen auf der Suche nach Kontinuität:
„Grundlegend sind die Übergänge vom Kontinuierlichen zum Diskontinuierlichen oder vom Diskontinuierlichen zum Kontinuierlichen. Wir sind diskontinuierliche Wesen, Individuen, die getrennt voneinander in einem unbegreiflichen Abenteuer sterben, aber wir haben Sehnsucht nach der verlorenen Kontinuität. Die Situation, die uns an eine Zufalls-Individualität, an unsere vergängliche Individualität fesselt, ertragen wir nur schlecht. Zur gleichen Zeit, da wir das geängstigte Verlangen nach der Dauer dieses Vergänglichen hegen, sind wir von dem Gedanken an eine ursprüngliche Kontinuität besessen, die uns allgemein mit dem Sein verbindet. Die Sehnsucht, von der ich spreche, hat nichts zu tun mit der Kenntnis der von mir angeführten grundlegenden Gegebenheiten. Man kann darunter leiden, nicht so zu existieren wie eine Woge, die in der Vielzahl der Wogen sich verliert, ohne etwas von den Entzweiungen und den Verschmelzungen der einfachsten Wesen zu wissen.“ (Bataille 1982, S.14, Hervorhebung im Original)
Die tiefe Sehnsucht nach dem Wiedererlangen der Kontinuität äußert sich bei allen Menschen in der Erotik, die Bataille sehr weit faßt. Er differenziert zwischen der „Erotik der Körper“, einer „Erotik der Herzen“ und der „heiligen Erotik“.135 Korrespondierend mit der „heiligen Erotik“ führt Bataille den Opfer-Begriff ein:

„Wenn ich von der heiligen Erotik spreche, welche die Verschmelzung der Wesen mit einem Jenseits der unmittelbaren Realität betrifft, werde ich auf den Sinn des Opfers zurückkommen. Doch ich lege schon jetzt Nachdruck auf die Tatsache, daß der weibliche Partner in der Erotik als das Opfer, der männliche als der Opferer erschien, während sich im Vollzug des Liebesaktes der eine wie der andere in der durch die anfängliche Zerstörung gestellten Kontinuität verlieren.“ (ebd. S.17)


In der Sexualität und im Fortpflanzungstrieb strebt der Mensch danach, seine diskontinuierliche Daseinsform zu überwinden. Analog zu Freuds Kampf der Giganten Eros und Thanatos, aus dem der Tod stets als Sieger hervorgeht, ist auch bei Bataille nur der Tod in der Lage, die Diskontinuität wirklich aufzuheben. Durch Erotik und Fortpflanzung kann „das diskontinuierliche Leben“ niemals vollständig zum Verschwinden gebracht werden, es wird
„[...] lediglich in Frage gestellt. Es muß im höchsten Grade verwirrt, gestört werden. Ein Streben nach Kontinuität tritt auf, aber grundsätzlich nur, wenn die Kontinuität, die allein der Tod der diskontinuierlichen Wesen endgültig herstellen könnte, nicht überwiegt. Es handelt sich darum, in eine auf Diskontinuität gegründete Welt so viel Kontinuität einzulassen, wie diese Welt ertragen kann. [...] Die Erotik der Körper hat auf alle Fälle etwas Schweres, Düsteres an sich. Sie bewahrt die individuelle Diskontinuität, und das immer ein wenig im Sinne eines zynischen Egoismus.“ (ebd. S.18)
Tod und Eros als einzige Möglichkeiten einer Kontinuitätserfahrung werden damit zwangsläufig zu „Höhepunkten“ des diskontinuierlichen Individuums. Bataille spricht in diesem Zusammenhang auch von „der Natur als einer Verschwendung von Lebensenergie und einer Vernichtungs-Orgie“ und beschreibt die strukturelle Ähnlichkeit von Tod und Sexualität:
„Sexualität und Tod sind nur die Höhepunkte eines Festes, das die Natur mit der unerschöpflichen Masse feiert: beide bedeuten eine grenzenlose Vergeudung, die sich die Natur im Widerspruch zu dem tiefen Wunsch jedes Wesens nach eigener Fortdauer leistet. Die Fortpflanzung verlangt über kurz oder lang den Tod jener, die zeugen und die immer nur zeugen, um den Bereich der Vernichtung auszuweiten, denn der Tod fordert, wenn eine Generation stirbt, eine neue. Durch die Analogie, die sich in der menschlichen Vorstellung zwischen der Fäulnis und den verschiedenen Aspekten sexueller Aktivität bildet, vermischen sich vollends beide Arten von Ekel, mit denen wir ihnen gegenüberstehen.“ (ebd. S.57)
Bei Bataille wird der Tod zu einem Überschuß, der im Leben bereits enthalten ist, zum finalen Exzess des Lebens. In seiner Definition des Todes kommt es gar zur metaphorischen Gleichsetzung des Todes mit dem Orgasmus des sexuellen Aktes:
„Der Tod beschließt die sexuelle Krise nur in seltenen Fällen, die allerdings, das muß man zugeben, von eindrucksvoller Bedeutung sind. So eindrucksvoll für unsere Imagination, daß die auf den abschließenden Höhepunkt folgende Erschlaffung für einen ‚kleinen Tod‘ gehalten wird. Der Tod ist, menschlich gesehen, immer das Symbol für das Absinken der Flut nach einem heiligen Sturm; aber er wird nicht als entferntes Gleichnis dafür verwendet. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Vermehrung der Wesen Hand in Hand mit dem Tode geht. Die Zeugenden überleben die Geburt derer, die sie zeugen, aber ihr Überleben ist nur ein Aufschub. [...] Wenn die Fortpflanzung der geschlechtlichen Wesen nicht den unmittelbaren Tod herbeiführt, so führt sie ihn doch auf lange Sicht herbei.“ (ebd. S.97)
Bataille kommt – wie vor ihm Freud – zu dem Schluß, daß der Sexualtrieb bereits im Todestrieb begründet liegt. Im Kapitel Das mit dem Tod verbundene Tabu136 beschreibt er den „bis zum äußersten gesteigerten“ Liebestrieb als Todestrieb, weiter ließe sich der „Exzeß, aus dem die Zeugung hervorgeht“ nur in Ergänzung des „Exzeß des Todes“ verstehen. (ebd. S.38) Für Baudrillard befindet sich Bataille jedoch im Irrtum, wenn er die „gattungserhaltende Sexualität und die erotische Verausgabung zu vermengen“ sucht. Im Gegensatz zu Bataille existiert für ihn „keine Gemeinsamkeit zwischen dem erotischen Exzeß und der sexuellen Fortpflanzungsfunktion“ wie es analog dazu „keine Gemeinsamkeit zwischen dem symbolischen Exzeß des Todes und der biologischen Auflösung von Körpern“ geben kann. Er hebt jedoch – in Abgrenzung zur „Rückentwicklung zum Tod“ bei Freud – den zyklischen Charakter der Todesdarstellung bei Bataille hervor, dem es um das Prinzip der Verschwendung geht, für den Sexualität wie Tod die Höhepunkte eines Festes darstellen, „ein Fest als Restitution des Zyklus“ und der „zyklischen Revolution von Leben und Tod“ (vgl. Baudrillard 1991, S.244-248).
„Statt den Tod als Spannungsregulierung und Ausgleichsfunktion, als Triebökonomie anzusetzen, begreift Bataille ihn umgekehrt als Paroxysmus des Austausches, als Überschwang und Exzeß. Der Tod als immer schon vorhandener Überschuß und Beweis, daß das Leben unvollständig ist, wenn der Tod ihm entzogen ist, daß das Leben nur im Einbruch des Todes und im Austausch mit dem Tode existiert, andernfalls es der Diskontinuität des Wertes und derart dem absoluten Defizit anheimfällt.“ (ebd. S.243, Hervorhebung im Original)
So sieht Baudrillard einzig in Batailles Todesbegriff die Möglichkeit gegeben, die ökonomische Struktur aufzuheben, denn

„[...] in Batailles exzessiver und luxuriöser Auffassung des Todes gibt es etwas, das ihn von der Psychoanalyse, dem individuellen und psychischen Beweggrund der Psychoanalyse, scheidet – nämlich die Chance zur Zerrüttung aller Ökonomie, die Chance, nicht nur den objektiven Spiegel der politischen Ökonomie zu zerbrechen, sondern auch den umgekehrten psychischen Spiegel der Verdrängung, des Unbewußten und der Libido-Ökonomie.“ (ebd. S.250)



3.5 Tabuisierung des Todes: Baudrillard
3.5.1 Tod und Tauschprozeß
Jean Baudrillard stellt in seinem umfangreichen Werk Der symbolische Tausch und der Tod, in welchem er die gesellschaftliche „Ausweisung der Toten“ thematisiert, die provokative These auf, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft das Verbot des Todes das alte Tabu der Sexualität ablöse.
„Vom Tode sprechen, macht lachen, ein verkrampftes und obszönes Lachen. Vom Sex sprechen, provoziert nicht mal mehr diese Reaktion: der Sex ist legal, allein der Tod ist pornographisch. Indem die Gesellschaft die Sexualität ‚befreit‘, ersetzt sie deren Funktion eines geheimen Ritus und grundsätzlichen Verbotes immer mehr durch den Tod. In einer früheren religiösen Phase wurde der Tod öffentlich gemacht und anerkannt, die Sexualität war verboten. Heute ist es umgekehrt.“ (Baudrillard 1991, S.292)
Wie kommt Baudrillard zu dieser These? Die Tabuisierung des Todes sieht er im Prozeß der zunehmenden Marginalisierung des Todes in der bürgerlichen Gesellschaft begründet. In einer Gesellschaft, in der nur dem Lebendigen, dem Gesunden ein Wert beigemessen wird, ist es weder normal noch natürlich, tot zu sein:
„Tot zu sein, ist eine unvorstellbare Anomalie, alle anderen sind im Vergleich dazu harmlos. Der Tod ist ein Verbrechen, eine unheilvolle Verirrung. Den Toten ist weder ein Ort noch ein Zeit/Raum zugewiesen, ihr Aufenthalt ist unauffindbar, sie sind in die radikale Utopie verstoßen – sie werden sogar noch mehr zusammengedrückt, so daß sie sich in Luft auflösen.“ (ebd. S.198)
Diese historisch neue Trennung zwischen Leben und Tod entspricht jener zwischen Wahnsinn und Gesellschaft. So wie es den Wahnsinn nicht gibt, da er nur eine „Trennungslinie zwischen Wahnsinnigen und Normalen, eine Linie, welche die Normalität mit dem Wahnsinn teilt“ markiert, verhält es sich auch mit dem Tod, der letztlich nur auf die Grenze zwischen Lebenden und Toten verweist:
„Der Tod ist am Ende nichts anderes als die gesellschaftliche Abgrenzungslinie, welche die ‚Toten‘ von den ‚Lebenden‘ trennt, sie berührt also gleichermaßen die einen und die anderen. Entgegen der verrückten Illusion der Lebenden, sich durch den Ausschluß der Toten für lebendig zu halten, entgegen der Illusion, das Leben durch die Unterdrückung des Todes auf einen absoluten Mehrwert zu reduzieren, setzt die unzerstörbare Logik des symbolischen Tausches die Äquivalenz von Leben und Tod wieder ein, und zwar in der gleichgültigen Fatalität des Überlebens. Ist der Tod ins Überleben verdrängt, so ist das Leben selbst, infolge einer wohlbekannten Rückläufigkeit, nur noch ein durch den Tod determiniertes Überleben.“ (ebd. S.200, Hervorhebung im Original)
Baudrillard sieht die Gegenwartsgesellschaft als eine vom Tod gekennzeichnete, da sie den Tod ausschließt. Leben wird zum Überleben degradiert, eine andere Daseinsform kann nicht mehr möglich sein, da zwischen Tod und Leben kein symbolischer Austausch mehr vorhanden ist. Der lebende Körper wird zum einzig gültigen Wert erklärt, wird zur bestimmenden biologischen Kapitalform.

Beginnend mit der bürgerlichen Gesellschaft nimmt der Tod nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teil. Die Ursache des Ausschlusses sieht Baudrillard in der „Desintegration der traditionellen christlichen und feudalen Gemeinden durch die bürgerliche Vernunft“ sowie durch „das entstehende System der politischen Ökonomie“ begründet. Er überträgt das Tausch- und Wertgesetz, Basis jeder kapitalistischen Gesellschaftsform, als Modell auch auf den Tod. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Tod wird von ihm damit ersetzt durch die Korrespondenz zwischen „politischer Ökonomie und Tod“:


„In der kapitalistischen Welt steht jeder allein vor dem allgemeinen Äquivalent. Ebenso findet sich jeder allein vor dem Tode wieder – und das ist keine Koinzidenz. Denn die allgemeine Äquivalenz ist der Tod. Von da an wird die Obsession des Todes und der Wille, den Tod durch die Akkumulation abzuschaffen, zum Hauptmotor der Rationalität der politischen Ökonomie. Akkumulation des Wertes und insbesondere der Zeit als Wert im Phantasma einer Übertragung des Todes in den Ausdruck linearer Unendlichkeit des Wertes. Selbst diejenigen, die nicht mehr an eine persönliche Ewigkeit glauben, glauben noch an die Unendlichkeit der Zeit wie an ein Gattungskapital, das überaus vielfältigen Interessen dient. Die Unendlichkeit des Kapitals geht über in eine Unendlichkeit der Zeit, in die Ewigkeit eines Produktionssystems, das die Reversibilität von Tausch/Gabe nicht mehr kennt, sondern nur noch die Irreversibilität quantitativen Wachstums.“ (ebd. S.231, Hervorhebung im Original)137
Der menschliche Körper wird als biologisches Kapital vollständig in den Produktionsprozeß integriert, damit erfahren Alter und Lebensabend in unserer Gesellschaft keine positive Beachtung, haben in der Öffentlichkeit nur eine geringe Lobby. Die Alten finden in der Welt der Schönen und Ewig-Jungen keinen Platz mehr, werden zunehmend ghettoisiert,
„[d]er Ausdruck Drittes Lebensalter sagt genau, was er beinhaltet: eine Art von Dritter Welt. Es ist nicht mehr als ein marginaler und schließlich sogar asozialer Lebensabschnitt – ein Ghetto, ein Abschub, ein Vorfeld des Todes. Es ist eigentlich eine Liquidierung des Greisentums. In dem Maße wie die Lebenden viel länger leben und über den Tod ‚triumphieren‘, werden sie nicht länger symbolisch anerkannt. Zu einem Tode verurteilt, der ständig zurückweicht, verliert dieses Alter seinen Rang und seine Vorrechte. In anderen gesellschaftlichen Formationen existiert das Greisentum als wirklicher symbolischer Angelpunkt der Gruppe. Der Status des Greises, der durch den des Ahnen vollendet wird, ist der angesehenste.“ (ebd. S.257)
Statt Anerkennung von reifer Lebenserfahrung und Respekt vor dem Alter werden die „ghettoisierten“ Alten in unserer Gesellschaft einzig bei der Rentenfrage und der Finanzierung der Pflegeversicherung zum öffentlichen Thema. Leben wird mit (gesunder) Körperlichkeit identifiziert, Tod mit dem Verschwinden des Körpers. In einer solchen Zweiteilung findet der alte, mangelhafte oder deformierte Körper keine Beachtung, denn er verweist auf die Unvollkommenheit und Begrenztheit des Menschen.

Baudrillard weist darauf hin, daß der Tod erst in modernen und nachmodernen Gesellschaften seine Funktion als symbolischer Tauschwert verloren hat, das kapitalistische Tauschmodell hat für ihn auch für die Bereiche Sexualität und Tod Gültigkeit. Seine Diagnose des Spätkapitalismus geht nun von der Ablösung der Warenökonomie durch die Ökonomie der Zeichen, dem symbolischen Tausch, aus. Das Wertgesetz der Ware, das auf die Feststellung Karl Marx‘ von der Dominanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert zurückgeht, wird durch die Herrschaft der Zeichen ersetzt. Referenzlose Zeichen und Fiktionen sowie beliebige Austauschbarkeit ersetzen in der neuen „Ökonomie der Zeichen“ feste Zuordnungen (vgl. Blask 1995, S.46f.). Damit verschiebt sich auch die Grenze zwischen Realität und Imagination, die Virtualität löst die Realität ab.138

Der symbolische Tausch befindet sich außerhalb des existierenden Wertsystems, entspringt einer Maxime „der Großzügigkeit und der Unausweichlichkeit einer Gegengabe. Man gibt etwas, und unvermeidlich erhält man auch etwas zurück, aber kein Wertesystem diktiert die Angemessenheit dieses Austausches.“ (ebd. S.47) Baudrillard erklärt die Komplexität des Begriffs des Symbolischen am Beispiel der Separation von Leben und Tod:
„Das Symbolische macht Schluß mit diesem Code der Trennung und den getrennten Teilen. Es ist die Utopie, die Schluß macht mit der Topik von Seele und Körper, Mensch und Natur, realem und Nicht-Realem, Geburt und Tod. In einer symbolischen Handlung verlieren beide Seiten ihr Realitätsprinzip. Aber dieses Realitätsprinzip ist immer nur das Imaginäre der anderen Seite.“ (Baudrillard 1991, S.210, Hervorhebung im Original)

Für Baudrillard stellt das „Phantasma des Todes“ die imaginäre Seite der „Realität des Lebens“ dar, alle Aufspaltungen des Subjekts gehen auf das „Urbild aller Trennung“ – nämlich jene zwischen Leben und Tod – zurück. In der Folge „wird jedes abgetrennte Teil, für das das andere sein Imaginäres ist, in jedem Bereich der ‚Realität‘ durch dieses wie durch seinen eigenen Tod heimgesucht.“ (ebd. S.211) Die moderne Gesellschaft, die den Tod verdrängt, oder um in der Sprache Baudrillards zu bleiben, das Leben vom Tod „gereinigt“ hat, hat damit auch ihren wichtigsten Tauschpartner verloren. Das Leben kann sich nicht mehr austauschen und verliert damit in letzter Konsequenz seine Sinnhaftigkeit, die Frage nach dem „Wozu“. Baudrillard sieht einzig in der Trennung des Lebens vom Wertgesetz die Möglichkeit der Umkehr zum symbolischen Tausch,


„[d]enn es nützt nichts, das Wertgesetz abschaffen zu wollen, wenn man damit den Tod abschaffen will, das heißt das Leben als absoluten Wert bewahren will. Das Leben selbst muß sich vom Wertgesetz trennen und sich schließlich mit dem Tod austauschen. In ihrem Idealismus eines vom Tode gereinigten Lebens und eines endlich von aller Ambivalenz ‚befreiten‘ Lebens kümmern sich die Materialisten um all das überhaupt nicht. Unsere ganze Kultur ist nichts anderes als eine immense Anstrengung, Leben und Tod voneinander zu trennen und die Ambivalenz des Todes zum Vorteile der Reproduktion des Lebens als Wert und der Zeit als allgemeinem Äquivalent zu bannen. Den Tod abschaffen, das ist unser sich in alle Richtungen verzweigendes Phantasma: Überleben und Ewigkeit in den Religionen, Wahrheit in der Wissenschaft, sowie Produktivität und Akkumulation in der Ökonomie. Keine andere Kultur kennt diese distinktive Opposition zwischen Leben und Tod zugunsten eines Lebens als Positivität: das Leben als Akkumulation, der Tod als Zahltag.“ (ebd. S.232)139
Der symbolische Todestausch – der sich dem Prinzip der Akkumulation entgegenstellt – birgt für Baudrillard die Möglichkeit einer „Reversibilität des Todes“. Im Gegensatz zum realen oder imaginären Tod in unserer Gesellschaft, der allein „in der individuellen Trauerarbeit abbezahlt werden“ kann, findet der symbolische Tod – jenseits einer imaginären Trennung von Leben und Tod – seinen Austausch innerhalb eines sozialen Festrituals (vgl. ebd., S.233). Dem entfremdeten modernen Tod steht der rituelle Tod, wie er in primitiven Kulturen vorkommt, gegenüber, dessen Funktion im Tausch zwischen Leben und Tod verortet ist.140 Aus der Ethnologie wissen wir, welche Bedeutung Todes- und Beerdigungsritualen zukommt. Initiationsriten primitiver Gesellschaften repräsentieren eine ausgeprägte Form des symbolischen Tausches. In der primitiven Ordnung findet der für jede Gesellschaft notwendige Austausch mit dem Tode statt; die Dualität Geburt und Tod findet hier im symbolischen Tausch ihre Aussöhnung. Der Verlust des Austausches zwischen Leben und Tod in höheren Gesellschaften bleibt damit nicht ohne negative Rückwirkung auf das Subjekt. In der differenzierten Gegenwartsgesellschaft wird der Tod desozialisiert, er wird zum individuellen Schicksal des Einzelnen degradiert. In der modernen, nach-mythischen Gesellschaft, in der die Trennung von Geburt und Tod, längst geschehen ist, findet keine rituelle Initiation im ursprünglichen Sinne mehr statt. Im Gegensatz zu archaischen Gesellschaften besitzt die Gegenwart keine Rituale des symbolischen Austausches zwischen Lebenden und Toten mehr, die Trennung hat sich somit unwiderruflich manifestiert. Da die Toten in einer Gesellschaft, in der nur die Lebenden gelten, „keinen Ort, keine Zeit, kein Weiterwirken“ haben, kann als Kehrseite der Entwertung des Todes, Leben nur ein Überleben bedeuten (vgl. Wulf 1982, S.264f.). Das Leben definiert sich nunmehr als „biologische Irreversibilität“ und als „absurdes physische[s] Schicksal“, mit dem Tod verschwindet der auf den Körper reduzierte Mensch (vgl. Baudrillard 1991, S.209). Die Bedeutung des Todes in der technokratischen Wissensgesellschaft steht dem Tod der archaischen Gesellschaften diametral gegenüber. Der Tod entspricht dem biologischen Ende des lebendigen Körpers, der seine Funktionen aufgibt, als „biologische Maschine“ nicht länger arbeitet, der Tod wird als Nullpunkt der menschlichen Leistungsfähigkeit aufgefaßt. Mit dem Terminus der „Irreversibilität des biologischen Todes“ verweist Baudrillard auf den „objektiven“ und „punktuellen“ Charakter des Todes, der mit dem Wissenschaftsverständnis der gegenwärtigen Kultur und dem Verlust an mythischer Sinngebung und ganzheitlicher Sichtweise des Menschen korrespondiert, denn
„[a]lle anderen gehen davon aus, daß der Tod vor dem Tode beginnt, daß das Leben nach dem Leben fortwährt und daß es unmöglich ist, Leben und Tod zu trennen. Entgegen der Vorstellung, die im einen die Bestimmung des anderen sieht, muß versucht werden, die radikale Unbestimmtheit von Leben und Tod und die Unmöglichkeit, sie einzeln in einer symbolischen Ordnung zu verselbständigen, zu begreifen. Der Tod ist kein Fristablauf, der Tod ist eine Nuance des Lebens – oder das Leben ist eine Nuance des Todes. Aber unsere moderne Idee vom Tode wird durch ein ganz anderes Vorstellungssystem bestimmt; das der Maschine und des Funktionierens.“ (ebd. S.251, Hervorhebung im Original)
Der Mensch gilt in der Medizin als tot, sobald der Gehirntod diagnostiziert werden kann: punktueller definierbarer Tod. Der Körper wird zur biologischen Maschine degradiert, deren Funktion zu einem bestimmten Zeitpunkt aussetzt, anstatt das Sterben als integrierten Teil des Lebens aufzufassen. Es erscheint absurd, dem Modell einer lebendigen/toten biologischen Maschine folgend,
„[...] aus dem Leben einen Vorgang zu machen, der durch den Tod entschieden wird, und noch absurder ist es, den Tod einem Defizit oder einem Verlust gleichzusetzen. Weder das Leben noch der Tod können einem wie auch immer gearteten Zweck untergeordnet werden: es gibt also weder eine Punktualität noch eine Endgültigkeit des möglichen Todes. [...] es gibt nicht einmal ein Subjekt, das in einem gegebenen Moment stirbt. Es ist richtiger zu sagen, daß ganze Teile von ‚uns selbst‘ (von unserem Körper, unseren Gegenständen und unserer Sprache) von Anbeginn des Lebens dem Tod verfallen und lebendig der Trauerarbeit unterliegen.“ (ebd. S.251f., Hervorhebung im Original)

3.5.2 Natürlicher Tod und Opfertod
Der Tod hat für Baudrillard keine biologische Determiniertheit, sondern existiert vielmehr als eine Imagination des Subjekts, das selbst nicht mehr als eine Idee darstellt. Der Tod wird für das Subjekt zum voraus erlebten „individuellen Mythos“, einem „Mythos über sein Ende“, dessen er genauso bedarf wie eines „Mythos über seinen Ursprung“, um seine Identität zu konstituieren. De facto läßt sich der Tod jedoch nicht „an einem bestimmten Punkt und Ort in der Zeit“, dem Körper, lokalisieren, sondern ist – von Geburt an – überall im Leben vorhanden. Der Mensch braucht jedoch diese örtliche und zeitliche Bestimmung des Todes, um ihn als Ereignis fassen und aus dem Leben ausgrenzen zu können. Das Konstrukt des sterblichen Körpers entspricht dem der „unsterblichen Seele“, Konstrukte, die beide aus derselben Abstraktion resultieren. (Baudrillard 1991, S.252) Paradox erscheint, daß gerade in der postmodernen Künstlichkeit einer technokratischen Gesellschaft der „natürliche Tod“ idealisiert wird. Der Tod soll, wenn er schon trotz aller Bemühung nicht liquidiert werden kann, wenigstens ein „natürlicher“, ein „normaler“, sein. Der „natürliche“ Tod, der bei Baudrillard nicht mehr als eine Phrase darstellt, findet sich als „eine ideale und genormte Form des Todes“ am „Ende des Lebens“:
„Sein Begriff verdankt sich der Möglichkeit, die Grenzen des Lebens hinauszuschieben: das Leben wird zu einem Akkumulationsprozeß, und mit dieser quantitativen Strategie kommen Wissenschaft und Technik ins Spiel. Wissenschaft und Technik gelingt es keineswegs, einen ursprünglichen Wunsch, so lange wie möglich zu leben, zu erfüllen – nur ein Übergang vom Leben zum Lebens-Kapital (zu einer quantitativen Bewertung) wird durch die symbolische Außerkraftsetzung des Todes erreicht, die allein Wissenschaft und bio-medizinische Technik zur Verlängerung des Lebens hervorruft. Der natürliche Tod bedeutet also keine Akzeptierung eines Todes, der zur ‚Ordnung der Dinge‘ gehörte, sondern eine systematische Leugnung des Todes.“ (ebd. S.255)
Wissenschaft und Technik verlängern das Leben, verfolgen das Ziel, den Tod zu besiegen und wenn dies nicht möglich ist, ihn wenigstens bis zum Letzten hinauszuzögern. Gleichzeitig stellt das „Recht“ auf einen „natürlichen“ Tod ein Stück Lebensqualität dar, denn
„[f]ür jeden soll es möglich sein, bis zur Grenze seines biologischen Kapitals zu gelangen und sein Leben ‚bis zur Neige‘ ohne Gewalt oder vorzeitigen Tod zu genießen. So als ob jeder sein kleines Lebensschema, seine ‚normale Lebenserwartung‘ und einen ‚Lebens-Vertrag‘ in der Tasche hätte – daher der soziale Anspruch auf eine Lebensqualität, zu der ein natürlicher Tod gehört. Ein neuer Gesellschaftsvertrag: die ganze Gesellschaft mit ihrer Wissenschaft und Technik wird gemeinsam verantwortlich für den Tod jedes Individuums.“ (ebd. S.256, Hervorhebung im Original)
Mit der Bedeutung des „natürlichen“ Todes korrespondiert nach Baudrillard die „Ästhetik des Todes“. Der Tod soll beherrscht werden, man will ihn im Griff haben, so soll selbst der tote Körper aussehen wie ein gesunder Körper, der Tote wird zum ästhetisch Schlafenden. Eine solche Tendenz kann in einer Kultur, die neben Jugend und Schönheit Attribute der Hygiene und Sauberkeit lanciert, nicht verwundern.

„Den Tod um jeden Preis sterilisieren, desinfizieren, einfrieren, klimatisieren, herrichten, schminken und frisieren, ihm ein ‚Design‘ verpassen und ihn mit der gleichen Erbitterung verfolgen wie den Dreck, die Sexualität und den bakteriologischen oder radioaktiven Müll. Ein Make-up des Todes: der Ausspruch [...] erinnert an jene amerikanischen Beerdigungsinstitute, in denen der Tote sofort der Trauer und dem Verkehr mit den Lebenden entzogen wird, um nach den peinlich genauen Gesetzen von standing, smiling und internationalem Marketing buchstäblich ‚designed‘ zu werden. [...] Man muß den Toten verschönern, ihn mit Künstlichkeit überziehen, um dem unerträglichen Moment zu entgehen, in dem das Fleisch zu sich selber kommt und aufhört, Zeichen zu sein. Bereits die freigelegten Knochen und das Skelett bekräftigen wieder die mögliche Versöhnung und Vereinigung mit der Gruppe, denn sie erlangen wieder die Kraft der Maske und des Zeichens.“ (ebd. S.285f.)


Die moderne künstliche Sarkophagie unterscheidet sich für Baudrillard von der rituellen grundlegend. In allen Gesellschaften wird der Körper des Toten mit Zeichen versehen, in der „primitiven“ Gesellschaft, in der der Tausch zwischen den Lebenden und den Toten noch funktioniert, haben diese die Bedeutung, den toten Körper gut in seinen neuen Zustand zu begleiten. Im Gegensatz dazu entspricht die künstliche „Ästhetik des Todes“ der Gegenwartsgesellschaft in ihrer Künstlichkeit viel eher einem Verbot zu verwesen, dem Wunsch, sich nicht zu verändern, „natürlich“ zu wirken:
„Hier handelt es sich darum, dem Toten den Anschien von Leben, die Natürlichkeit des Lebens zu geben: er lächelt noch, die gleichen Farben, die gleiche Haut, er ähnelt sich sogar noch über den Tod hinaus, er ist sogar noch ein bißchen frischer als zu Lebzeiten, was ihm allein fehlt, ist die Sprache (aber man kann ihn ja in Stereo wiederhören). Der mit den Farben des Lebens verfälschte und idealisierte Tod: der geheime Gedanke dabei ist, daß das Leben natürlich ist und der Tod wider die Natur – also muß man ihn naturalisieren und ihn zu einem Simulakrum des Lebens ausstopfen. Hinter allem steckt die Weigerung, den Tod bedeuten zu lassen (laisser la mort signifier), ihm Zeichenkraft zu geben; und hinter diesem sentimentalen Fetischismus der Natürlichkeit steckt auch eine Gemeinsamkeit gegenüber dem Toten selber: das Verbot, zu verwesen, das Verbot, sich zu verändern – anstatt ihm den Status des Todes zu verschaffen und somit die symbolische Anerkennung durch die Lebenden, wird der Tote als eine Marionette im Kreise der Lebenden erhalten, um ihrem Leben als Alibi und Simulakrum zu dienen.“ (ebd. S.286f.)
Sterbe- und Beerdigungsrituale werden nur von einzelnen Gruppen gepflegt, die gesellschaftliche Mehrheit grenzt den Tod aus ihrem Leben aus, aus dem rituellen wird der„erkaltete“ Tod. Für Baudrillard wird der Tod durch die künstliche Ästhetisierung141 selbst zum ideologischen Opfer der Gesellschaft, zum „banalen Simulakrum des Lebens“, schließlich „schändlich und obszön“:
„Der Tod ist obszön und peinlich – und auch die Trauer wird es: es gehört zum guten Ton, sie zu verstecken: sie könnte die anderen in ihrem Wohlbefinden stören. Der Anstand verbietet jede Anspielung auf den Tod. [...] Wir haben keine Erfahrung vom Tode Anderer mehr. Das Erlebnis des Todes im Schauspiel oder im Fernsehen hat damit nichts zu tun. Die meisten haben nicht einmal mehr die Gelegenheit, jemanden sterben zu sehen. In jeder anderen Gesellschaftsform wäre das unvorstellbar. Man wird vom Krankenhaus und von der Medizin versorgt, eine technische letzte Ölung hat alle anderen Sakramente ersetzt. Der Mensch verschwindet von seinen Verwandten, bevor er tot ist. Eben darum stirbt er.“ (ebd. S.289)
Georges Bataille verfolgt einen ähnlichen Interpretationsansatz wie Baudrillard, auch er beschreibt die künstliche Verlängerung des Lebens und damit die Hinauszögerung des Todes durch modernste Technologie als Horrorszenarium: „Die Vorstellung von einer Welt, in der das Menschenleben durch künstliche Organisation verlängert würde, beschwört einen Alptraum, ohne mehr als eine leichte Verzögerung in Aussicht zu stellen“, denn am Ende steht stets der Tod. (Bataille 1982, S.97) Der „obszöne Tod“ wird in einer auf oberflächlichen Statussymbolen basierenden ästhetischen Gesellschaft zum Feindbild. Eine Erfahrung im Umgang mit dem Tod fehlt in der gegenwärtigen Alltagskultur. Eine gesellschaftliche und damit hauptsächlich mediale Thematisierung des Todes findet nur dann statt, wenn der Tod unerwartet – schicksalhaft – eintritt, wenn ein junger, gesunder Mensch „geopfert“ wird. Für Baudrillard handelt es sich hierbei um die partielle Rückkehr zum Opferverständnis primitiver Kulturen:
„Bemerkenswert ist, daß wir inmitten des Systems der Vernunft und mit der vollen logischen Konsequenz dieses Systems zur ‚primitiven‘ Sichtweise zurückgekehrt sind und jedem Ereignis und insbesondere dem Tod einen feindlichen Willen unterstellen. Aber wir allein sind voller Primitivität (mit der wir die Primitiven ausstatten, um sie ihnen auszutreiben), denn dieser Konzeption entspricht bei den Primitiven ein reziproker und ambivalenter Austausch mit ihrer ganzen Umgebung, so daß selbst Naturkatastrophen und der Tod im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Strukturen intelligibel waren – während sie bei uns ganz offensichtlich ein Trugschluß ist, also eine Paranoia der Vernunft, deren Axiome überall ein nichtintelligibles Absolutes entstehen lassen; der Tod wird unakzeptabel und unlösbar, der Unfall zur Verfolgung, zu einem absurden und bösartigen Widerstand einer Materie oder Natur, die sich nicht dort den ‚objektiven‘ Gesetzen beugen will, wo man sie umstellt hat.“ (Baudrillard 1991, S.255)
In einer Gesellschaft, in der sich der irreversible Tod außerhalb eines Tauschrituales befindet, wird der Tod zum individuellen Körper-Schicksal. Unfall und Katastrophe in Folge eines Zufalles passen nicht in die Vorstellung einer auf Rationalität und technischem Fortschritt begründeten Gesellschaft, die in allen Bereichen Perfektion anstrebt. Der Zufall ist Teil der Fortschrittsidee (Ocatvio Paz), Zufall und Unfall werden beide gleichermaßen fasziniert wie feindlich betrachtet,
„[...] der Unfall ist absurd wie der Tod, ein Punkt, das ist alles. Er entsteht durch Sabotage. Ein tückischer Dämon, der bewirkt, daß diese schöne Maschine immerzu kaputt geht. So ist diese rationalistische Kultur wie keine andere von einer kollektiven Paranoia ergriffen. Alles – die kleinste Störung, die geringste Unregelmäßigkeit, die kleinste Katastrophe [...] ist ein Attentat, für das es einen Verantwortlichen geben muß.“ (ebd. S.254, Hervorhebung im Original)
Baudrillard geht in seinem Interpretationsansatz soweit, den modernen Unfalltod mit dem archaischen Opfertod gleichzusetzen. Der Unfalltod steht somit in der Linie des religiösen Opfers und des Opfertodes, die in ihrer Bedeutung und Entwicklung bei Göttern wie Osiris und Dionysos beginnen.
„Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe.“ (Friedrich Nietzsche)


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