Leitmotive im 20



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4. Mensch und Maschine



4.1 Die Körpermaschine
Die cartesische Trennung in Körper und Geist beeinflußte das Menschenbild wie das Körper- und Subjektverständnis seit der Neuzeit maßgeblich. Die Vorstellung des Körpers als zergliederbares Objekt, als Uhrwerk, Maschine oder Automat geht hierbei in seinen Grundzügen auf René Descartes zurück.142 Die Geschichte des Menschen war stets die seiner Auseinandersetzung mit dem Göttlichen und Erhabenen. Die Imagination des göttlichen in Abgrenzung zum menschlichen Körper steht als Ausdruck dessen. Mit Nietzsches Postulat vom „Tod Gottes“ wird der menschliche Körper zur Projektionsfläche seiner Phantasmen. Christoph Wulf, der im Essay Der Körper der Götter143 die Entwicklung der auf Transzendenz angelegten Körpervorstellung zum „bloßen Gegenstand der Biologie und der medizinischen Technologie“ beschreibt, kommt so zu dem Fazit:
„Wenn der unsterbliche Gott von den Menschen getötet wurde, dann müssen sich die Unsterblichkeits- und Überlebensphantasien des Menschen an anderen Stellen festmachen und zur geschichtlichen Wirksamkeit zu gelangen suchen. Mit dem Wegfall der Transzendenz des Körpers der Götter bzw. des Körpers Gottes stürzt der menschliche Körper in die Immanenz seiner biologischen Verfaßtheit. Der Körper gilt letzlich als eine Ansammlung von Zellen, als aus unterschiedlichen Schichten zusammengesetzt, als Ort heterogener Prozesse, als Zusammenfügung mehrerer Teile mit unterschiedlichen Funktionen, als Instrument zur Erledigung bestimmter Aufgaben. Eine Semiologie des Körpers dient zur Entschlüsselung seiner Symptome und zur Behandlung der dadurch entdeckten Krankheiten. Mit Hilfe der Reduzierung des Körpers auf seine biologischen Prozesse und ihre Beeinflussung soll ein mit den metaphysischen Wünschen im Zusammenhang stehendes Programm der Lebensverlängerung realisiert werden. Wie weit es erforderlich ist, bleibt umstritten. Auf jeden Fall sind seine Rückwirkungen auf das Körperbild der Menschen beträchtlich.“ (Wulf 1989, S.19, Hervorhebung im Original)
Im Gegensatz zu bisherigen „Figurationen und Transfigurationen des Körpers“, die sich in der Geschichte des Körpers sukzessive vollzogen haben, kommt es nunmehr zu radikalen wie beschleunigten Prozessen. Der Mensch erhöht sich zum Schöpfer, will nun selbst Herrscher über die Natur werden. Mit dem Verlust eines Schöpfungsmythos über sich selbst verliert das menschliche Dasein seinen moralischen Begründungskontext. Michel Tibon-Cornillot beschreibt in seinem Aufsatz Die transfigurativen Körper. Zur Verflechtung von Techniken und Mythen144 das Verhältnis vom Menschen zur Maschine als eine evolutive Bewegung in Richtung einer zunehmenden Auflösung der Körpergrenzen:
„Im Rahmen der traditionellen Gesellschaften, die über einen Schöpfungsmythos verfügen, in dessen Verlauf ein Hersteller die Körper der Menschen produziert, zeigt es sich, daß die Haltung einer radikalen Grenzziehung zwischen Hersteller und Mensch Hand in Hand geht mit der Anerkennung des menschlichen Körpers als eines begrenzten, aus Organen zusammengesetzten und um das gegliederte Gerüst des Skeletts herum organisierten Produkts. Dieses Skelett, ein lebloser Automat im Körper, symbolisiert jenen internen Tod, um den herum sich das Fleisch und die Sehnen während der kurzen Zeit ihres organischen Lebens organisieren und an dessen Ende sie erneut das makellose Weiß des Skeletts freilegen.“ (Tibon-Cornillot 1982, S.156f.)
In einer geschichtsanalytischen Beschreibung geht Heinrich Kutzner von einem Prozeß der zunehmenden „Maschinisierung“ des menschlichen Inneren aus. Desweiteren zeigt Kutzner in seinem Essay Ver-Innerlichung der Maschine – Maschinisierung des Inneren145 die Analogie zwischen „Subjektmaschine und Dampfmaschine“ auf. Diese Bilder sind nicht neu, bereits Karl Marx spricht im Kapital vom Subjekt als „Automat“ und Mary Wollstonecraft-Shelley kreiert im Frankenstein ein Mensch-Tier-Monstrum mit übermenschlichen Kräften. Seit dem 18. Jahrhundert findet in der Kunst eine Auseinandersetzung mit Automaten, Puppen und Menschmaschinen statt, die dem Menschen als Spiegelwesen dienen und ihn stets faszinieren. Das 1831 erschienene Buch Frankenstein oder Der moderne Promotheus146 thematisiert zeitgenössische Experimente mit dem Novum Elektrizität. Gleichfalls wiederholt nach Kutzner
„Frankensteins faustische Chirurgie [...] die Struktur der Dampfmaschine: tote, funktional zusammengefügte Teile, die von einer heißen Kraftquelle angetrieben werden, und verschiebt zugleich diese Struktur; denn das elektrische Fluidum, das die toten Glieder durchtränkt, ist die Projektion ins Materielle oder in einen materiellen-spirituellen Zwischenbereich der verselbständigten, sentimental gebrochenen Affektivität, die das eigentliche Sujet des Romans ist. Doch die Disziplinierung bis zur grundlegenden Selbstverkennung des lebensweltlich Eigenen als lebender Leichnam, als Maschine aus Totem, bedeutet die Entbindung der affektiven Energien, die den funktionierenden Leichnam antreibt und die sich in seinen unendlichen Zurichtungen verbirgt. So daß Frankenstein hellsichtig über sein Geschöpf bemerkt: ‚Es erschien mir als mein aus dem Grabe auferstandener Leichnam.‘“ (Kutzner 1989, S.116f.)
Am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Mensch zur reparierbaren Maschine geworden. Von der Medizin auf seine biologischen Prozesse reduziert, läßt sich fast alles am menschlichen Körper austauschen oder verbessern. Künstliche Organe, fortgeschrittene Transplantationsmedizin, Herzschrittmacher, die künstliche Herstellung von Haut, Ohren, Gelenkknorpeln sind Teil dieser Entwicklung gleichwie Plastische Chirurgie – neue Nase, neuer Busen oder neues Gesicht als Basis einer neuen Identität – und Gentechnologie. Alles ist machbar, das bestellte Kind mit dem Supersamen der Samenbank, das Frühchen, das in der 22. Woche durch die Apparatemedizin überleben kann, Komapatienten, die jahrelang ohne Bewußtsein künstlich versorgt werden.

Auf das Zeitalter der Verpflanzung von Organen tierischer und menschlicher Herkunft folgte unmerklich die Epoche der „Verpflanzung technischer Apparate“. Für den Theoretiker Paul Virilio hat diese Verbindung zwischen Leblosem und Lebendigen als organischer


„[...] Heterogenität schon nichts mehr mit dem eines Fremdkörpers zu tun [...], der im Körper des Patienten eingefügt wurde, sondern sie besteht im fremden Rhythmus, der dazu dient, den Körper im Gleichklang mit der Maschine vibrieren zu lassen.“ (Virilio 1994, S.112f., Hervorhebung im Original)
Der Mensch wird zum Ersatzteillager, Organverpflanzungen wie Technologieverpflanzungen verbessern zwar die „Lebensleistung“ des menschlichen Körpers, verweisen aber auch auf eine potentielle Austauschbarkeit und Ersetzung der Körper. Ähnlich wie Paul Virilio prognostiziert auch Jean Baudrillard aufgrund des symbiotischen Verhältnisses zwischen Mensch und Technik eine düstere Zukunft:
„Solange die Prothesen des alten goldenen Industriezeitalters noch mechanisch waren, griffen sie noch auf den Körper zurück, um dessen Bild zu ändern – sie waren umkehrbar und fanden Eingang ins Imaginäre, und dieser technologische Stoffwechsel war noch Teil des Körperbildes. Wenn man aber in der Simulation an den Point of no return gelangt (dead-line), d.h. wenn die Prothese sich vertieft, sich verinnerlicht, sich in den anonymen und molekularen Kern des Körpers einschleicht, wenn sie sich dem Körper selbst als ‚originales‘ Modell aufdrängt und alle früheren symbolischen Kreisläufe zerstört, so daß jeder Körper nurmehr seine unwandelbare Wiederholung ist, dann ist das Ende des Körpers, seiner Geschichte und seiner Wechselfälle da.“ (Baudrillard 1992, S.138)
Jahrzehnte vor Baudrillard und Virilio postuliert bereits Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur – nachdem er zuvor das Leiden des Individuums an seiner Kultur charakterisiert hat –: „wir wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden.“ (Freud, GW XIV, S.445) Naturbeherrschung und Fortschritt in Wissenschaft und Technik führen nicht zum erstrebten Glück, stellt Freud für den modernen Menschen fest, der seine Allmachtsvorstellungen nun auf sich selbst projiziert:
„Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. Er hat übrigens ein Recht, sich damit zu trösten, daß diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 A. D. abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“ (ebd. S.451)
Der Mensch erhebt sich selbst zum „Prothesengott“ und ist mit dem Instrumentarium der modernen Technologie in der Lage, die menschliche Gattung auszurotten. Der 1939 verstorbene Freud, der noch nichts von den Auswirkungen von Nuklearbomben, Radioaktivität, Transplantations- und Gen-Technologie der kommenden Dekaden wissen konnte, ahnte jedoch, daß sich die „Schicksalsfrage der Menschenart“, wie er es nennt, am Verhältnis ihres Umgangs mit der Technik entscheiden wird:
„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gutes Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden ‚himmlischen Mächte‘, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?“ (ebd. S.506)

4.2 Von der Moderne zur Postmoderne
Die Prämissen des 20. Jahrhunderts sind andere als die, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Gültigkeit besaßen. Die Kultur- und Subjektphilosophie des 20. Jahrhunderts hat sich ausführlich mit den Bedingungen des Wandels von der Moderne zur Postmoderne147 und der Frage der Rückwirkung auf das Subjekt beschäftigt. Die Entfremdung des Subjekts durch den Prozeß, den die Industrialisierung in Gang setzte, wurde bereits für die Moderne konstatiert. Der Diskurs zur Postmoderne, der sich aus dem Bereich der Literaturwissenschaft – in den 50er Jahren dort beginnend – in der Folgezeit über die Architektur auf die Gebiete Musik, Theater, Tanz, Film, Philosophie und Gesellschaftstheorie ausweitete, kann hier nur angedeutet werden. Der Terminus Postmoderne, der durchaus umstritten ist, bezeichnet jedoch ein für uns wichtiges Moment: Es gibt keinen Bruch zwischen Moderne und Postmoderne, vielmehr verweist die Postmoderne auf additive Aspekte, die sich neu herausgebildet haben. Die Moderne wird damit zum „unvollendeten Projekt“ (Jürgen Habermas) und die Zeit nach der Moderne zur „postmodernen Moderne“ (Niklas Luhmann). In Kunst und Soziologie bezeichnen über siebzig gleichzeitig existierende Begriffe unterschiedliche Aspekte des Wandels. So analysiert etwa Ulrich Beck den System- und Epochenwandel als Transformation der Industrie- und Klassengesellschaft zur Risikogesellschaft148, in der sich die Individuen mit neuen Risiken auseinandersetzen müssen. Die Industriegesellschaft ist nach Beck die halbierte Moderne, die eine moderne Variante der Ständegesellschaft und eine Erneuerung der Freisetzung aus geschlechtsständischer Hierarchie darstellt.149 Durch den innergesellschaftlichen Wandel bricht das soziale Binnengefüge der Industriegesellschaft, soziale Klassen, Familienformen, Geschlechtslagen, Ehe, Elternschaft und Beruf, auseinander. Der Becksche Begriff der Risikogesellschaft bezeichnet eine „andere“ Moderne, er steht für einen System- und Epochenwandel, der sowohl die Änderung der Gesellschaft, als auch das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Ressourcen und den von ihr erzeugten Gefahren umfaßt. Bei gleichzeitig vorhandenen Modernisierungsrisiken und zunehmenden Globalgefährdungslagen wird der Einzelne dazu gezwungen, nach Formen der Bewältigung zu suchen. Die von Beck beschriebene Individualisierung verweist auf die grundlegende Änderung der Sozialstruktur, mit der sich für das Subjekt sowohl erweiterte Möglichkeiten als auch gestiegene Risiken eröffnen. Der einzelne wird dazu gezwungen, „sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“, ein fertiges Verhaltens- und Lebensmodell gibt es für den einzelnen nicht mehr. (Beck 1986, S.217) Kritik an Becks Analyse kann insofern geübt werden, als er in Risikogesellschaft die individuellen Formen der Bewältigung bzw. Nicht-Bewältigung dieser Situationen, also die psychologischen Prozesse, nicht ausreichend thematisiert (vgl. Tillmann 1996, S.256ff.).

Zygmunt Baumann beschreibt in Anlehnung an Freuds Formulierung vom „Unbehagen in der Kultur“ das „Unbehagen in der Postmoderne“. Für Baumann charakterisiert sich die Postmoderne durch eine Erschütterung aller festen Strukturen der Lebenswelt, die Freiheit des Individuums – die die höchste Maxime der Postmoderne bildet –, löst hierbei die Triebsublimierung des Einzelnen zugunsten eines sozialen Ganzen ab. Das individuelle Freiheitsempfinden ist abhängig vom Konsum, je größer seine Teilhabe an der Konsumwelt, desto größer wird die vermeintliche Freiheit, die den traditionellen Wert der Sicherheit – Teil einer traditionalen Gemeinschaft zu sein – zunehmend ersetzt (vgl. Baumann 1999).



Die Postmoderne zeichnet sich durch Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse aus, das Individuum strebt danach, sich – im Freizeitverhalten und Lebensstil, in Kleidung und Körpermodellierung, in politischen Denkweisen u.a. – zu unterscheiden, zu individueller Perfektion zu gelangen und wird gerade dadurch gleicher denn je. Der Kunst- und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann geht davon aus, daß in der Postmoderne alles ähnlich und trotzdem anders gemeint sei, eine definitorische Unterscheidung zwischen modern und postmodern sei damit weder möglich noch sinnvoll. Dennoch sieht Luhmann
„[...] die Aufgabe einer ‚postmodernen‘ Gesellschaft in einer Neubeschreibung der modernen Gesellschaft auf Grund der Erfahrungen [...], über die wir heute verfügen. Jedenfalls verlangt eine heute adäquate Gesellschaftstheorie (ebenso wie die Theorie der postmodernen Kunst), auf den bloßen Genuß des Wiedererkennens zu verzichten und die Theoriekonstruktion aus sich selbst heraus zu beurteilen.“ (Luhmann 1997, Bd.2., S.1149)
Der Terminus der postindustriellen Gesellschaft wurde durch die Soziologen David Riesman und Daniel Bell populär. Die post- oder nachindustrielle Gesellschaft verweist bereits in ihrer Begrifflichkeit auf den Rückgang der Bedeutung der industriellen Ressourcen. Mit dem Einzug der neuen Kommunikations- und Informationstechnologie hat sich die Alltagskultur abermals grundlegend verändert. Mit dem Computer entstand ein neuer Typus an Maschine, der nur wenig mit der des Industriezeitalters gemein hat. So charakterisiert etwa Niklas Luhmann die Computer als
„[...] unsichtbare Maschinen, die nur auf Befehlseingabe hin ihre Schaltzustände sichtbar machen. Es hat wenig Sinn, diese unsichtbaren Maschinen als ‚anwesend‘ zu bezeichnen. Jedenfalls werden sie erst durch zeitlich und lokal situierte Anfragen dazu gebracht, Informationen sichtbar zu machen.“ (ebd. S.1147f.)
Hier stoßen wir auf ein für unseren Diskurs wichtiges Moment. Mit dem Wandel von der Moderne zur Postmoderne ging gleichzeitig ein Wandel der Maschine einher, aus materiellen Maschinen wurden immaterielle, unsichtbare. Mit den Möglichkeiten der Auflösung von Raum und Zeit in der computervermittelten Kommunikation verschieben sich soziale Grenzen und unwiderruflich verändert sich damit auch Identität.

Der fließende Übergang von der Moderne zur Postmoderne im Verlaufe des 20. Jahrhunderts läßt sich deutlich ablesen am Umgang mit Maschine und Technologie. Auch in der Gesellschaft der Gegenwart finden sich unbestreitbar Tendenzen einer neuen Technikverherrlichung, eines Futurismus im postmodernen Gewand, neue Varianten einer Verherrlichung der Maschine und der Geschwindigkeit, Phänomene, die sich sowohl in Alltagskultur, Jugendkultur als auch in Wissenschaft und Kunst wiederfinden lassen. Die entscheidende Frage für die postmoderne Gegenwart lautet, inwieweit die Technologie „regressiv oder emanzipatorisch“ genutzt werden kann. Eine eindeutige Antwort auf diese Fragestellung kann es nicht geben. Für das postmoderne – oder postindustrielle – Zeitalter bestimmen hauptsächlich zwei kontroverse Interpretationsansätze die Diskussion. Für die Pessimisten führen die neuen Technologien und Verkehrsformen „zu einem totalen Verlust der Referenzen und Kriterien“, während die Optimisten in ihnen neue Möglichkeiten für demokratische Gesellschaftsformen sehen.150 (Raulet 1987, S.166) Eine neutrale Technologie, die lediglich Möglichkeiten, unter denen ausgewählt werden kann, offeriert, kann es nicht geben. Gérard Raulet, der im Essay Leben wir im Jahrzehnt der Simulation? Neue Informationstechnologien und sozialer Wandel151 die Auswirkungen der neuen Kommunikationstechnologie im Hinblick auf die Dimension des Sozialen untersucht, bewertet die Möglichkeiten der Informationsgesellschaft zunächst einmal positiv. Die neue Technologie überwindet selbst weiteste Distanzen und läßt vormals undenkbare Sprechakte zu, es ist potentiell möglich, mit Handy oder Laptop überall auf der Erde in Kommunikation zu treten. Nähe und Distanz verschwinden, „das Selbe und das Andere fallen zusammen, Kommunikation dient [damit jedoch] nicht mehr der Bestätigung und Vertiefung der individuellen und sozialen Identität“, sondern untergräbt sie, „indem sie schwebende Identitäten und anomische Verhaltensweisen herbeiführt.“ (ebd. S.165) Kommunikation bedeutet stets auch Meta-Kommunikation, eine Nachricht ist stets zugleich eine soziale Nachricht, stets Transporteur eines komplexen Gebildes. Was passiert mit der Kommunikation und dem Sozialen, wenn es in der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine die Dimension des Sozialen nicht geben kann? In der Kommunikation zwischen Mensch und Computer wird die Vielfalt menschlicher Kommunikationsmöglichkeiten reduziert auf den „Verkehr von Zeichen“. Die maschinelle Logik – nicht der Mensch als ein sich durch Sprache konstituierendes Subjekt –, gibt die Struktur der Kommunikation vor, damit diese überhaupt in Gang gesetzt werden kann. Damit ist jede Kommunikation zwischen Mensch und Maschine „reduziert auf die technischen Funktionsvoraussetzungen für die Aneignung und Verarbeitung von Wirklichkeit.“ Wie Marie-Anne Berr in ihrem Essay Der moderne Körper als Prothese152 weiter ausführt, werden im „Fluß der Zeichen [...] Mensch und Maschine als Produzent und Interpretator von Zeichen, von Text beliebig austauschbar. Der Sinn der immateriellen Welt stellt sich allein aus der Struktur der Zeichen her“ und nicht mehr durch „jedwelchen Bezug zur organischen Materie, zur Substanz, zum Subjekt.“ (Berr 1989, S.260f.) In der postmodernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft wird echte Kommunikation nur noch partiell möglich, das Individuum wird gleichsam seiner festumrissenen Sozialität – die sich auf einen spezifischen Sozialraum bezieht – verlustig. Die Defizite einer übersteigerten Informationsgesellschaft, auf die wir uns zu bewegen, sind obsolet, je größer die Informationsdichte, je geringer wird der eigentliche Wert der Botschaft, wir erhalten zwar ein Mehr an Infos, aber dafür qualitativ schlechte. Der Preis für die hochtechnologisierte Welt ist die Einsamkeit der Menschen, die von Politik wie Wirtschaft idealisierte Informationsgesellschaft erzeugt, wie Theoretiker wie Paul Virilio deutlich machen, letztlich nichts anderes als eine gesteigerte gesellschaftliche Apathie.

4.3 Theorie der Geschwindigkeit: Virilio
Der französische Geschwindigkeitstheoretiker und Philosoph Virilio befaßt sich in seinem theoretischen Ansatz, den er als Dromologie153 bezeichnet, kritisch mit den Rückwirkungen von Technologie und Geschwindigkeit auf das Subjekt. Nach der „mystischen Apokalypse“ der vergangenen Jahrhunderte erzeugt sich der Mensch nun selbst eine „wissenschaftlich-technische Apokalypse“, Fortschritt und Untergang gehen Hand in Hand miteinander, das Bewußtsein ist, wie Virilio besorgt feststellt, nicht mehr in der Lage, die Komplexität der Errungenschaften zu umreißen:
„Man stellt z.B. fest, daß in vergangenen Jahrhunderten die verfügbaren Kenntnisse zwar weniger umfassend waren, die Erkenntnis damals paradoxerweise aber auf Totalität aus war. Daraus könnte man nun folgendes schließen: je mehr gewußt wird, desto mehr ist auch unbekannt. Oder vielmehr: je rascher die Informationen einander jagen, desto klarer wird uns auch, wie fragmentarisch und unvollständig sie sind. Ebenso könnte man darauf verweisen, daß die großen Erfindungen sich eher im Bewußtsein als in der Wissenschaft ereignet haben. Es sind Phänomene ästhetischer Überraschung, Archimedes, Newton oder Einstein fühlten geradezu das Relativitätsprinzip, als sie den Flug der Möwen über dem Meer beobachteten. Ähnlich wie man es sich in der Renaissance vorstellte, vollzog sich alles über Sinnesempfindungen, Gesetz und Vernunft waren dabei nur zeitliche und räumliche Größen der Imago, nur Maßeinheiten.“ (Virilio 1986, S.51f., Hervorhebung im Original)
Analog zum Ausspruch Wilhelm Reichs „Ihr habt keine Körper, ihr seid Körper!“ formuliert Paul Virilio provokativ: „Ihr habt keine Geschwindigkeit, ihr seid Geschwindigkeit.“ (ebd. S.49) Für ihn stellt nicht die industrielle Revolution, sondern die „Revolution der Geschwindigkeit“ die entscheidende Umwälzung der Neuzeit dar. Das komplexe Phänomen der Geschwindigkeit ist für ihn im Wesentlichen für die zerstörerischen Momente der Moderne und Postmoderne verantwortlich. In Der negative Horizont154 charakterisiert Virilio gar das Wesen der Geschwindigkeit mit menschlichen Attributen:
„Die Geschwindigkeit ähnelt dem Alter, dem Tod, diesem Tod, der mit einer Krankheit einhergeht, einen dahinrafft und zu den Seinen entführt; aufs Pferd oder in ein Fahrzeug steigen will besagen, daß man sich darauf einstellt, im Augenblick des Aufbruchs zu sterben, um bei der Ankunft wiedergeboren zu werden (ein bißchen sterben...). Für den Reisenden wird Warten zum vorzeitigen Altern; je beschleunigter die Bewegung, desto schneller vergeht die Zeit und um so bedeutungsloser wird die Umwelt, eine Ortsveränderung ist nur noch ein schlechter Scherz, deshalb der Spruch: ‚Die kürzesten Reisen sind die besten!‘ Der Passagier ist, wie der Abgeschiedene, nicht mehr von dieser Welt, und sofern man die Freiheit der Bewegung (das habeas corpus) als erste, vorrangige Freiheit einstuft, kann die Freisetzung der Geschwindigkeit, die Freiheit, die die Geschwindigkeit verschafft, auch als Ende aller Freiheiten gelten.“ (Virilio 1989, S.37, Hervorhebung im Original)
Die Geschwindigkeit wird bei Virilio zum „Ende aller Freiheiten“, sie gleicht in ihrer Struktur dem Tod. Man stirbt im Augenblick des Aufbruchs, sei es nun mit dem Pferd oder mit dem modernen Transportmittel Auto, und man wird im Augenblick der Ankunft wiedergeboren. Die Freiheit, welche die Geschwindigkeit schafft, ist stets nur eine scheinbare. Als illustratives Beispiel führt Virilio hier an, daß zahllose Verkehrsregeln und Kontrollen den Geschwindigkeitsrausch auf der Autobahn kontrollieren. Geschwindigkeit korrespondiert per definitionem mit Zeit und Zeitwahrnehmung, der Tod wird hierbei zur längsten Zeitunterbrechung, kürzere Unterbrechungen stellen der Schlaf und der Traum dar. Im Tod als Unterbrechung des Wissens bildet sich somit „eine eigene Zeit heraus.“ (Virilio/Lotringer 1984, S.37)155 Die Historie der Geschwindigkeit geht auf die Anfänge der Entwicklung des Transportwesens zurück. Entwicklungsgeschichtlich hat der Mensch das Reittier gewählt, um beweglicher zu sein. Das animalische Vehikel macht den Menschen durch die Bewegung vergessen, daß er gleich dem Tier einen „animalischen“ Körper hat:

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