Leitmotive im 20


Das Verschwinden des Subjekts



Yüklə 428 Kb.
səhifə3/10
tarix15.10.2018
ölçüsü428 Kb.
#74167
1   2   3   4   5   6   7   8   9   10

2.3.2 Das Verschwinden des Subjekts
Auf dem „Feld der modernen Subjektivität“ begegnet man der beunruhigenden Metapher vom Verschwinden oder gar dem „Tod des Subjekts“, die den „Rahmen, in dem die Moderne seit Descartes ein Bild von sich entworfen hat“ zerstört ohne ein Neues konstruieren zu können. (Bürger 1998, S.7) Doch gleichwie das Verschwinden Gottes eine markierte Stelle hinterläßt, verschwindet auch das Subjekt nicht gänzlich. Es hinterläßt nach Peter Bürger mit seinem Tod
„[...] eine Spur, die auf es zurückweist. Das würde bedeuten: auch nach seinem Tode ist für uns das Subjekt noch gegenwärtig, nur nicht mehr als ein widerspruchsfreies Schema der Ordnung unserer Beziehung zur Welt und zu uns selbst, sondern als ein in sich brüchiges. Die Metapher enthielte die Aufforderung, das moderne Vertrauen auf die weltaneignende Macht des Ich als überschwenglich zu erkennen.“ (ebd. S.13)
Theodor W. Adorno sieht die Ursachen für den „Tod des Individuums“ in der Moderne im falschen Bewußtsein und im Pseudo-Individualismus verankert. Für Adorno ist der „Zustand, in dem das Individuum verschwindet, [...] zugleich der fessellos individualistische, in dem ‚alles möglich‘ ist.“ (Adorno zit. n. Thies 1997, S.104) Das Individuum der Moderne zeichne sich durch ein „schwaches Ich“ aus und sei deshalb anfällig für Ideologie, Konformismus und Nivellierungstendenzen. Aus Mangel an Liebe bleibe dem Individuum letztlich nur der Narzißmus, aus Mangel an Alternativen Anpassung und Konformismus. Rollenerwartungen, fehlender Erfahrungszusammenhang, Intra- und Interrollenkonflikt führen, so der Adorno-Rezipient Thies, zum Verlust jeder Individualität. Die „Krise des Individuums“ kündigt damit dessen Tod an (vgl. Thies 1997, S.110ff.). Der Zerfall des Individuums, die Reduktion der Ganzheit und Kontinuität „auf die bloße Abfolge punkthafter Gegenwarten, die keine Spur hinterlassen“ korrespondiert mit der Zerstörung der Zeit als der eigentlichen „innerliche[n] Organisationsform von Individualität.“ (Adorno zit. n. Thies 1997, S.112f.) Dem fragmentierten Weltbezug entspricht somit das fragmentierte Bewußtsein.

Der Subjektphilosoph und Gesellschaftskritiker Michel Foucault weist in seinem Ansatz eine große Ähnlichkeit auf zur Kritischen Theorie, wie sie von Marcuse, Adorno und Horkheimer vertreten wurde.31 Foucault analysiert in Die Ordnung der Dinge32 die geschichtliche Entwicklung von der Renaissance bis zum „epistemischen Konstrukt“ der Moderne – dem Menschen.33 Für Foucault verläuft die Subjektentwicklung als Ausbildung von spezifischen Persönlichkeitsstrukturen, über Brüche und Sprünge. Einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte des Subjekts stellt für ihn die Epoche des Umbruchs vom 18. zum 19. Jahrhundert34 dar, denn die neue Logik


„[...] verbindet Repräsentation und Denken durch Bilder und Zeichen. Durch sie bringe ich die Dinge vor mich, ich stelle sie mir vor. Denken ist Vor-Stellung, Re-Präsentation von Dingen, oder Sachverhalten im Bewußtsein durch innere Ab-Bilder oder innere Bilder. Es re-produziert also nicht mehr die vorgegebene, natürliche Ordnung der Dinge, wie noch zu Zeiten der Renaissance, sondern erkennt sie dadurch, daß es sie durch repräsentierende Vorstellungen überhaupt erst in eine Ordnung bringt. An die Stelle der natürlichen Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem tritt ein selbstgeregeltes Zeichensystem, das in seiner Künstlichkeit dennoch maßstabsgerechter Spiegel der Natur ist.“ (Fink-Eitel 1997, S.39f., Hervorhebung im Original)
In Abgrenzung zu anderen postmodernen oder poststrukturalistischen Theoretikern wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Jean-François Lyotard zeichnet sich Foucaults subjektphilosophische Position vor allem auch durch seine Auseinandersetzung mit der sozialgeschichtlichen, politischen und kulturellen Realität aus, die in seinen Theorien nie ausgeblendet wird, sondern gegenteilig den Ausgangspunkt für die theoretische Auseinandersetzung bildet. Foucaults angewandte Philosophie, die sich auf die Sozial- und Kulturgeschichte der eigenen Historie bezieht, ist stets Ethnologie der eigenen Kultur. Foucault kritisiert die modernen Humanwissenschaften – darunter zählt er Psychologie, Soziologie, Literatur- und Mythenwissenschaft, Kultur-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte – und setzt diesen seinen Ansatz einer avantgardistischen Subjektphilosophie entgegen. Diesen Ansatz gelte es mit Hilfe der Gegenwissenschaften, der „Wissenschaften der unbewußten Strukturen“ – der Psychoanalyse von Jacques Lacan, der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss und Linguistik von de Saussure und Beveniste – zu etablieren (vgl. Foucault 1976; Fink-Eitel 1997, S.8f., S.47-51).

Foucaults Subjektansatz ist zudem stark beeinflußt von Friedrich Nietzsche und von der Philosophie Martin Heideggers, vor allem von dessen Werk Sein und Zeit35, in dem er sich mit der Frage nach dem Sein und der bewußten Existenz auseinandersetzt. Im Sinne Heideggers ist Existenz stets im Kontext von Zeitlichkeit zu interpretieren, Dasein wird somit zu einem „Sein zum Tode“. Die Nähe zu Nietzsche zeigt sich deutlich in Foucaults Werk Wahnsinn und Gesellschaft36, das sich auf die philosophischen Gedanken aus der Geburt der Tragödie37 bezieht. Die dionysische Energie sprengt durch eine rauschhafte, ekstatische Vereinigung die Grenzen einer festen Individualität auf, während das Apollinische als „Inbegriff einer maßvoll gestaltenden und abgrenzenden Individuation“ steht, welche die destruktive Kraft des Dionysischen bannt. (Fink-Eitel 1997, S.31) Anknüpfend an Friedrich Nietzsches These vom „Willen zur Macht“ analysiert Foucault die gesellschaftlich vorfindbaren Machtstrukturen und das Verhältnis zwischen Macht und Individuum und formuliert in Analogie dazu den „Willen zum Wissen“, denn


„[d]ie veränderlichen Ordnungen des Wissens und der Macht sind die historischen Bedingungen, deren Unbewußtheit uns dazu verleitet, unsere Existenzweise jeweils für den Inbegriff des Menschseins zu halten. [...] Das menschliche Subjekt im Bedingungskreis der Macht- und Wissensgeschichte – so etwa ließe sich Foucaults vollständige Problemstellung umreißen. Die theoretischen Disziplinen, mit denen sie arbeitet, sind die Genealogie, d.h. die Theorie der Machtpraktiken, und die Archäologie, die Theorie der Diskurs- und Wissensformen. Die Grundfrage muß daher lauten: Wie hängen beide zusammen?“ (ebd. S.9)38
In Sexualität und Wahrheit39 verfolgt Foucault historisch zurück bis zur Antike die Auseinandersetzung des „Ich mit dem Anderen“, sein ursprüngliches Projekt einer Geschichte neuzeitlicher Sexualität wurde ausgeweitet, sein Interesse galt nunmehr den

„[...] Formen, in denen sich die Individuen als Subjekte einer Sexualität (an-) erkennen können und müssen. Diese Formen sind im theoretischen und praktischen Sinne Gegenstand von Ethik (im Doppelsinne einer theoretisch-philosophischen Disziplin und einer konkreten Lebenspraxis). An die Stelle der früheren Diskurs- und Machtpraktiken treten nun die Selbstpraktiken, in deren Rahmen die Antike sexuelle Tätigkeiten und Genüsse problematisierte, um sie dem Ziel einer glanzvollen ‚Ästhetik der Existenz‘ verfügbar zu machen. Und an die Stelle des ‚sujet‘, des Subjekt-Untertans, der sich ganz in die anonymen Wissens- und Machtbeziehungen auflöste, weil er von ihnen vollständig unterworfen, ja überhaupt erst hervorgebracht wurde, an die Stelle dieses völlig unselbständigen ‚Subjekts‘ tritt das autonome, ursprünglich freie Subjekt.“ (ebd. S.98, Hervorhebung im Original)


In Foucaults Subjektansatz geht es um „ein Sich-Verhalten zur eigenen Existenz“, oder – wie er es in einem Interview formulierte – um die Subjektwerdung „über Praktiken der Unterwerfung“ und „Praktiken der Befreiung und der Freiheit.‘ (Foucault zit. n. Fink-Eitel 1997, S.99). In seiner thematischer Auseinandersetzung mit den Themen Sexualität, Macht und Wahnsinn und Wissen, in deren komplexes Gefüge er das Subjekt verortet, setzt er die postmoderne These der Auflösung des „Selbst“. In Die Ordnung der Dinge fordert er ein Umdenken in der Subjektphilosophie, denn
„[i]n unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.“ (Foucault 1974, S. 412)
Wo Foucault optimistisch bleibt, verliert Jean Baudrillard40 jeden Optimismus. Baudrillards subjekt- und gesellschaftstheroretische Analysen sind von Pessimismus und Resignation gezeichnet. Seine Überlegungen zur Subjektauflösung sind variantenreich und fallen schon allein durch ausdrucksstarke Sprachschöpfungen wie „Subjektzersplitterung“ und „Zerplatzen im Identischen“ aus dem Rahmen üblicher Wissenschaftssprache. Die Vorstellung des Subjekts wird bei Baudrillard in eine direkte Relation zum Tod gesetzt, denn
„[i]n Wirklichkeit ist das Subjekt niemals in der Weise vorhanden wie ein Gesicht, die Hände oder Haare, und mit Sicherheit ist es immer bereits woanders, da es von einer unsinnigen Aufteilung und von einem durch den Tod angetriebenen endlosen Zyklus ergriffen ist. Dieser überall im Leben vorhandene Tod soll gebannt und an einem bestimmten Punkt und Ort in der Zeit lokalisiert werden: dem Körper.“ (Baudrillard 1991, S.252)
Zwischen Leben und Tod manifestiert sich nach Baudrillard eine Macht, die derjenigen zwischen Körper und Subjekt entspricht:
„Auf die gleiche Weise wird die Macht sich später zwischen dem Subjekt und seinem Körper installieren, zwischen dem Individuum und dem geteilten gesellschaftlichen Körper, zwischen dem Menschen und seiner geteilten Arbeit: an der Trennstelle entsteht die Instanz von Vermittlung und Repräsentation. Aber man muß beachten, daß das Urbild dieser Operation in dem besteht, was eine Gruppe von ihren Toten trennt, beziehungsweise jeden von uns heute von seinem eigenen Tod. Alle Formen der Macht haben ständig irgendetwas von diesem Geruche an sich, da die Macht sich in letzter Instanz durch die Manipulation und Verwaltung des Todes begründet.“ (ebd. S.204)
Peter Bürger stellt nach seinem Durchlauf durch die Geschichte der Subjektphilosophie fest, daß die These vom „Tod des Subjekts“ nur bedingt stimme. Die Auflösung des Subjekts sei keineswegs ein postmodern neues Phänomen, sondern fuße vielmehr auf der Subjektgeschichte vergangener Jahrhunderte. Wenngleich die Geschichte der Subjektivität nicht als „herkömmliche Erzählung“ geschildert werden könne, sei die historische Entwicklung von der Selbstsetzung des Subjekts (bei Descartes) bis hin zur Subjektauflösung als historische Entwicklung augenscheinlich.
„Wenn uns die Geschichte der modernen Subjektivität heute nicht als offener Horizont von Gestaltungsmöglichkeiten erscheint, sondern begrenzt durch ein Feld, dessen Pole die Bestimmungsmöglichkeiten des Ich festlegen, dann dürfte das darauf hindeuten, daß wir unfähig geworden sind, radikalen geschichtlichen Wandel zu denken. Gerade auch das Verschwinden des Subjekts, das häufig als Zeichen des Epochenbruchs verstanden wird, ließe sich als eine Position entziffern, die im Feld der Subjektivität ihren Ort hat, nicht außerhalb. Wie die Selbstsetzung gehört auch das Verschwinden des Subjekts zu dessen Bewegung und kann daher weder als Menetekel einer drohenden Zukunft noch als Anzeichen der Hoffnung auf ein endlich befreites Dasein gelesen werden.“ (Bürger 1998, S.237)

2.4 Der zivilisierte Körper: Elias
2.4.1 Macht und Umformung der Körper
Michel Foucault, aber auch Arnold Gehlen und vor allem die Vertreter der Frankfurter Schule Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben sich neben Norbert Elias mit der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Machtstruktur und Anpassungsmechanismen des Individuums auseinandergesetzt. Die Dialektik der Aufklärung rückt die Erfahrung eines Anwachsens von Macht und Gewalt in den Mittelpunkt, übt Kritik an der europäischen Geschichte und der Moderne und beschreibt den Prozeß der Ausweitung von Macht und Herrschaft, ähnlich wie Norbert Elias und Michel Foucault, der die alltägliche Disziplinierung des Körpers als „perfekte Dressur“ charakterisiert. Der Zivilisationsprozeß wird von den genannten Autoren ohne euphorischen Fortschrittsoptimismus als Versklavung des menschlichen Körpers gedeutet.41 In der Interpretation von Horkheimer/Adorno ist die „neuere Kultur“ insgesamt durch die „Haßliebe gegen den Körper“42 gekennzeichnet,
„[d]er Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ‚corpus‘ unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat. Der Zwang zu Grausamkeit und Destruktion entspringt aus organischer Verdrängung der Nähe zum Körper, ähnlich wie nach Freuds genialer Ahnung der Ekel entsprang, als mit dem aufrechten Gang, mit der Entfernung von der Erde, der Geruchssinn, der das männliche Tier zum menstruierenden Weibchen zog, organischer Verdrängung anheimfiel. In der abendländischen, wahrscheinlich in jeder Zivilisation ist das Körperliche tabuiert, Gegenstand von Anziehung und Widerwillen.“ (Horkheimer/Adorno 1998, S.247)43
Ähnlich argumentiert Michel Foucault, dessen Verständnis von Macht und Umformung der Körper direkt an Nobert Elias interdisziplinär ausgerichtetes Hauptwerk aus den 30er Jahren Über den Prozeß der Zivilisation44 anschließt. Elias zeigt in seiner Theorie die Abhängigkeit zwischen der Zivilisierung des Verhaltens (Zur Psychogenese, Band 1) und der Herausbildung des Staatswesens (Zur Soziogenese, Band 2) innerhalb des Zivilisationsprozesses auf. Psychogenetischer und soziogenetischer Untersuchungsansatz ergänzen einander und erfassen die strukturelle Komplexität, denn individuelles Verhalten bezieht sich stets auf ein bestimmtes historisches und soziales Umfeld, das sich wandelt. Für Elias gilt es, im geschichtlichen Rückblick Grundstrukturen aufzudecken „die allen Einzelvorgängen innerhalb dieses Feldes ihre Richtung und ihr spezifisches Gepräge geben.“ (Elias 1969, Bd.2, S.393) So versteht er den Menschen als „ein außerordentlich modellierbarers und variables Wesen“, das sich im historischen Verlauf – wobei kein Nullpunkt der Entwicklung des Zivilisationsprozesses festgelegt werden kann – in „Physis“ und „Psyche“ verändert. (ebd. S.377) Die von Elias beschriebene abendländische „zivilisatorische Transformation“ vollzieht sich in Schüben und in der – nicht nur friedlichen – Auseinandersetzung zwischen divergierenden Gruppen, Schichten und Verbänden, in Spannungen und Kämpfen, im Ausdruck der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen in sozialen Verflechtungen. Die „zweischneidige Waffe“ Zivilisation zeigt ihre Transformation nicht primär auf einer abstrakten Ebene von Gedankenkonstrukten, Ideen und Ideologien sondern in Veränderungen des menschlichen Bewußtseins, der spezifischen Denkgewohnheiten und dem „gesamten menschlichen Habitus“. (ebd. S.388) Für Elias unterscheidet sich eine differenzierte von einer undifferenzierten Gesellschaft auch durch die Schnelligkeit, in der ein solcher Modellierungsprozeß abläuft. Er geht weiterhin davon aus, daß mittlere und obere Schichten sich langsamer einpassen, größeren Widerstand im Zivilisationsprozeß üben. Die Renitenz gegen eine Adaption
„[...] in den vorgegebenen Zivilisationsstandard, die Anspannung, die diese Einpassung, diese tiefgreifende Transformation des ganzen, psychischen Apparats, den Einzelnen kostet, ist immer sehr beträchtlich. Und später als in weniger differenzierten Gesellschaften erlangt daher auch der Einzelne in der abendländischen Welt mit einer Erwachsenenfunktion zugleich den psychischen Habitus eines Erwachsenen, dessen Hervortreten im großen und ganzen den Abschluß des individuellen Zivilisationsprozesses bezeichnet.“ (ebd. S.335f.)45
Analoge Prozesse einer „Bearbeitung des psychischen Apparats“ in Form von gesellschaftlichen und individuellen Zivilisationsprozessen finden in allen Sozietäten statt, wo durch „Funktionsteilung“ und „Monopolisierung der körperlichen Gewalt“ eine „leidenschaftsfreiere Kooperation“ notwendig machen. Der Zivilisationsprozeß des Abendlandes besitzt nach Elias einen einzigartigen Charakter aufgrund seiner „Funktionsteilung so hohen Ausmaßes, Gewalt- und Steuermonopole von solcher Stabilität, Interdependenzen und Konkurrenzen über so weite Räume und so große Menschenmassen hin hergestellt [...] wie noch nie in der Erdgeschichte“ und bedarf deshalb einer genauen Analyse.46 Elias zeigt in seiner Beschreibung von Zivilisation, daß die Schübe zuerst die abendländischen Oberschichten, dann die unteren Schichten in der Verhaltensänderung erfaßten. In seiner Differenzierung zwischen Oberschichten und Unterschichten geht er allgemein davon aus, daß letztere „ihren Affekten und Trieben unmittelbarer nachgeben, daß ihr Verhalten weniger genau reguliert ist, als das der zugehörigen Oberschichten“. Der Zivilisationsprozeß als dynamischer Wandlungsprozeß ohne Nullpunkt und Ende dehnt sich in einer „schubweisen Ausbreitung bestimmter Funktions- und Verhaltensstrukturen zu immer neuen Schichten und Gegenden hin“ aus. Das „Überschwappen“ des Zivilisationsprozesses auf noch wenig ausdifferenzierte Völker wird laut Elias auch zukünftig genau so erfolgen, wie der Zivilisationsprozeß untere und agrarische Schichten im Abendland ergriffen hat (vgl. ebd., S.336-342).

2.4.2 Tabuisierung von Körper und Sexualität
In der Theorie der Zivilisation zeigt Norbert Elias auf, wie sich der Umgang mit körperlicher Hygiene und Sexualität über die Jahrhunderte von der Normalität zum Tabu verschoben haben. Für Elias unterliegt die Entstehung von Scham ähnlichen Prozessen im Zivilisationsprozeß wie die „Rationalisierung“ des Verhaltens. Scham und Peinlichkeitsempfinden bilden sich, so seine These, in Folge einer „Modellierung des Triebhaushaltes“. Der Rationalisierungsschub und das stete Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle, vor allem ab dem 16. Jahrhundert, verändert den abendländischen Menschen in seinem Habitus und stellen „verschiedene Seiten der gleichen, psychischen Transformation“ dar. (Elias 1969, Bd.2, S.397) Seit dem Mittelalter ist eine zunehmende Verhaltensregulierung zu beobachten, die auch an der Tanzkultur47 und Eßkultur abgelesen werden kann. Das Benehmen beim Essen sowie spezifische Tischgebräuche veränderten sich in Richtung einer zunehmenden Verfeinerung und Regulation. Die Verhaltensänderung vom Mittelalter zur Renaissance, die zu einem Vorrücken der „Peinlichkeitsschwelle und Schamgrenze“ führt, läßt sich deutlich anhand der Manierenschriften aufzeigen (vgl. Elias, Bd.1, S.89-110). Erst ab der Renaissance werden „natürliche“ körperliche Verrichtungen und Sexualität gesellschaftlich mit Scham und Peinlichkeitsempfinden besetzt. In Abgrenzung zur Scham von innen läßt sich Peinlichkeit als Reaktion auf eine Handlung einer Person außerhalb der eigenen charakterisieren. Das „äußere“ Peinlichkeitsgefühl ist somit
„[...]ein unabtrennbares Gegenstück zu den Schamgefühlen. Wenn diese sich herstellen, wenn ein Mensch selbst gegen Verbote des Ich und der Gesellschaft verstößt, so stellen jene sich ein, wenn irgend etwas außerhalb des Einzelnen an dessen Gefahrenzone rührt, an Verhaltensformen, Gegenstände, Neigungen, die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich diese Angst – nach Art eines ‚bedingten Reflexes‘– bei analogen Gelegenheiten in ihm automatisch wieder erzeugt. Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht. Und auch sie werden um so vielfältiger und umfassender, je ausgedehnter und differenzierter die Gefahrenzone ist, durch die das Verhalten des Einzelnen geregelt und modelliert wird, je weiter die Zivilisation des Verhaltens geht.“ (Elias 1969, Bd.2, S.403f.)48
Die höfische Gesellschaft sieht die neue Sensibilisierung in Bezug auf Scham und Peinlichkeit als Privileg und als Prestigewert an. Aufgrund der Vorbildwirkung dieser Schichten wandert das „neue“ Verhalten, das „neue“ Bewußtsein im Laufe der Zeit durch alle Bevölkerungsschichten.49 Dem Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle vom 16. Jahrhundert an korrespondieren tiefgreifende Veränderungen des Gesellschaftssystems, die die eigentlichen Ursachen des großen Zivilisationsschubes darstellen. Im Zuge einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung wird das individuelle Verhalten unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt, damit das Zusammenleben vieler Menschen geregelt und in der Konsequenz damit berechenbar. Trieb- und affektbestimmtes Verhaltens – wie Sexualität, Aggressivität und körperliche Hygiene – werden mit gesellschaftlichen Verboten belegt und genormt, um den Gesellschaftskörper funktionsfähig zu halten. Den Prozeß der zunehmenden Konditionierung und Tabuisierung des Körpers beschreibt Elias an diversen körperlichen Verhaltensänderungen wie dem Schneuzen, dem Spucken und dem „Verhalten im Schlafraum“.50 Schlafzimmer und Bett werden zum „intimen“ Ort, zum Bezirk außerhalb des gesellschaftlichen Lebens, das Bedürfnis des Schlafens wie auch die Sexualität werden „hinter die Kulissen“ verbannt. In Folge dessen werden Ehe und Kleinfamilie „als einzige legitime, gesellschaftlich-sanktionierte Enklave für diese, wie für viele andere Funktionen des Menschen.“ (Elias 1969, Bd.1, S.222)

Analog zur Verhaltensänderung beim Essen entwickelte sich im Zivilisationsprozeß auch in Bezug auf körperliche Nähe eine größere Distanz, eine „Wand, die sich zwischen Mensch und Mensch erhebt, die Scheu, die Affektmauer, die durch die Konditionierung errichtet wird.“ Es wird peinlich, mit fremdem – also nicht zum Familienkreis gehörenden – Menschen das Bett zu teilen, was zuvor nicht ungewöhnlich war. Mit zunehmendem Wohlstand wird es selbstverständlich, daß jedes Familienmitglied ein eigenes Bett und später ein eigenes Zimmer bekommt.51 Sexualität findet ihren Ort in der „gesellschaftlich legitimierten Ehe“ abseits des öffentlichen Lebens, wenngleich gleichzeitig große Teile der höfischen Aristokratie „die Beschränkung der sexuellen Beziehung auf die Ehe“ als bürgerlich und wenig standesgemäß ablehnten. Die außereheliche sexuelle Beziehung wird zunehmend tabuisiert, die ehemals vorhandene „Legitimierung anderer Beziehungen durch die gesellschaftliche Meinung, sei es für den Mann, sei es auch für die Frau“ wird zunehmend zurückgedrängt (vgl. ebd., S.254-259).52 Analoge Zivilisationsverläufe lassen sich im Umgang mit „unehelichen“ Kindern aufzeichnen, deren Stellung im Mittelalter zwar nicht überall gleich, doch weitgehend ohne Verheimlichung war. Die Stellung der ehelichen Kinder unterschied sich von der der unehelichen Kinder in der Tat oftmals (nur) in der Erbfrage.53

Bis zum 16. Jahrhundert war es in der Laiengesellschaft üblich, nackt zu schlafen, die Mönche schliefen im Gegensatz dazu völlig an- oder ausgezogen. Der Anblick des nackten Körpers gehörte zur Alltagskultur. Je höher die Zivilisationsstufe, desto sensibler wird die Schamschwelle, desto tabubesetzter wird die „Entblößung des Körpers vor anderen“, desto ausgebildeter das Schamgefühl. In der höfischen Gesellschaft war die Schamgrenze hierarchisch-ständisch determiniert:
„Die Entblößung des Höherstehenden in Gegenwart von sozial Niedrigstehenden, also etwa die des Königs vor seinem Minister, unterliegt hier begreiflicherweise noch keinem sehr strengen gesellschaftlichen Verbot, so wenig etwa, wie in einer noch früheren Phase die Entblößung des Mannes vor der sozial schwächeren und daher sozial niedriger rangierenden Frau; sie löst bei jenem, ganz im Einklang mit seiner geringeren, funktionellen Abhängigkeit von den niedriger Rangierenden, noch kein Gefühl der Unterlegenheit oder Beschämung aus [...].“ (Elias 1969, Bd.2, S.403)
Hochzeitsbräuche des Mittelalters zeichneten sich durch einen unbeschwerten Umgang mit Nacktheit aus. Als gesellschaftliche Inszenierung erfolgte unter Beisein aller Brautführer „der Zug ins Brautgemach. Die Braut wurde von den Brautjungfern entkleidet“ und in der Anwesenheit von Zeugen mußte „[d]as Brautbett [...] beschritten werden, sollte die Ehe gültig sein.“54 Im späteren Mittelalter konnten sich die Brautleute bereits „angekleidet aufs Bett legen“. Auch wenn die Entwicklung des sexuellen Lebens ab dem 17. und 18. Jahrhundert bereits „verdeckter“ als im Mittelalter erfolgte, war es noch in der höfisch-absolutistischen Gesellschaft Frankreichs üblich, daß „Braut und Bräutigam von Gästen zu Bett gebracht“ und entkleidet wurden. Die sexuelle Schamgrenze verschiebt sich allmählich bis zu ihrem Höhepunkt im 19./20. Jahrhundert. Damit wird die Sexualität und alles, was mit ihr zu tun hat, „in relativ sehr hohem Maße verdeckt und hinter die Kulissen verwiesen“, während sie in früheren Epochen problemlos im öffentlichen Leben integriert war und die Kinder von klein auf mit dem Geschlechtsleben vertraut waren. Tabubesetzung und Heimlichkeiten wurden erst „in der späteren Phase der Zivilisation entsprechend ihrem anderen Verhaltensstandard notwendig“ (vgl. Elias 1969, Bd.1, S.243f.).

Elias Ziel ist es, den gleichförmigen Verlauf der „Zivilisationskurven“ aufzuzeigen. Für ihn schließt die zunehmende gesellschaftliche Affektkontrolle jede Form der Triebäußerung ein. Gesellschaftlich erzeugte Schamgefühle beziehen sich, wie er im Kapitel Wandlungen in der Einstellung zu den Beziehungen von Mann und Frau beschreibt, signifikant auf die Bereiche Sexualität und Geschlechtlichkeit und damit auf die Ausgestaltung des Geschlechterverhältnisses. Sexualität wird als Triebform zunehmend


„[...] aus dem öffentlichen Leben der Gesellschaft immer stärker zurückgedrängt. Auch die Zurückhaltung, die man ihr gegenüber im Sprechen zu üben hat, wächst. Und diese, wie jede andere Zurückhaltung wird immer weniger durch unmittelbare äußere körperliche Gewalt erzwungen; sie wird durch den Aufbau des gesellschaftlichen Lebens, durch den Druck der gesellschaftlichen Institutionen im allgemeinen und im besonderen durch bestimmte gesellschaftliche Exekutionsorgane, vor allem durch die Familie, dem Einzelnen als Selbstzwang, als automatisch wirkende Gewohnheit von klein auf angezüchtet; die gesellschaftlichen Gebote und Verbote werden damit immer nachdrücklicher zu einem Teil seines Selbst, zu einem streng geregelten Über-Ich, gemacht.“ (ebd. S.258)
Auch wenn die Peinlichkeits- und Schamgefühle von den Erwachsenen als „natürlich“ empfunden werden und die Triebsublimierung als verinnerlichter Automatismus funktioniert, oder wie Elias es ausdrückt „die zivilisierte Gebundenheit des Trieblebens als selbstverständlich erscheint“, zeigen Kinder in ihrem Verhalten, daß es sich nicht um Naturgesetze handelt, daß Peinlichkeits- und Schamschwellen nicht von Natur aus existieren, sondern vielmehr durch Erziehung und Sozialisation adaptiert werden. Kinder übertreten durch ihr noch wenig konditioniertes Verhalten gesellschaftliche Tabus und (unbewußt) definierte Schamgrenzen. Die Erwachsenen können ihr Verhalten kognitiv nicht erfassen, verhalten sich konditioniert und standardisiert, und reproduzieren damit den gesellschaftlichen Standard, ohne nach den Motiven zu fragen.

Mit der zunehmenden Tabuisierung und Ausschließung des Körpers aus dem öffentlichen Leben und der „Ausrichtung der Zivilisationsbewegung auf eine immer stärkere und vollkommenere Intimisierung aller körperlichen Funktionen, auf ihre Einklammerung in bestimmten Enklaven“, korrespondiert nach Elias die menschliche Zerrissenheit, der stete Kampf zwischen triebbesetzter Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Restriktion bzw. verinnerlichtem Selbstzwang. Elias knüpft in seiner Interpretation hiermit an die These Freuds vom „Unbehagen in der Kultur“ an. Wie dieser nennt Elias als Hauptfolge


„[...] die eigentümliche Gespaltenheit des Menschen, die sich um so stärker abzeichnet, je entschiedener der Schnitt zwischen den Seiten des menschlichen Lebens wird, die öffentlich, nämlich im gesellschaftlichen Verkehr der Menschen, sichtbar werden dürfen, und jenen, die es nicht dürfen, die ‚intim‘ oder ‚geheim‘ bleiben müssen.“ (ebd. S.261)


Yüklə 428 Kb.

Dostları ilə paylaş:
1   2   3   4   5   6   7   8   9   10




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©www.genderi.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

    Ana səhifə