Leitmotive im 20


Vom Fremdzwang zum Selbstzwang



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2.4.3 Vom Fremdzwang zum Selbstzwang
Die Abhängigkeit zwischen Soziogenese und Psychogenese zeigt sich besonders deutlich in der Ausbreitung von Kontrolle und Regulation von Affekten wie der Aggression. Elias stellt fest, daß mit einer fortschreitenden Funktionsteilung, die die „totale Umorganisierung des gesellschaftlichen Gewebes“ beinhaltet, die körperliche Gewalttat „von der offenen Bühne des gesellschaftlichen Alltags zurücktritt“, um nur noch in einer „vermittelte[n] Form an der Züchtigung der Gewohnheit“ mitzuarbeiten. (Elias 1969, Bd.2, S.321) Die „Monopolisierung der körperlichen Gewalt“ und die damit verknüpfte zivilisatorische Triebsublimierung der differenzierten Gesellschaft hat als Komplementärerscheinung eine Gesellschaft mit größerer Triebungebundenheit und dem höheren Maß von körperlicher Bedrohung, eine Gesellschaftsform „auf die man überall stößt, wo sich noch keine festen und starken Zentralmonopole herausgebildet haben.“ (ebd. S.324) Das Monopol über die körperliche Gewalt, die Ansammlung der Waffengewalt in der Hand des Patriarchen, gestaltete die Gewaltausübung zu einer mehr oder weniger kalkulierbaren Größe, gleichzeitig wurden die „waffenlosen Menschen“ zu einer Selbstbeherrschung und Zurückhaltung, zur „Langsicht“ gezwungen.

Im Prozeß der „Pazifizierung“ als Befriedung stets größerer „Menschenräume“, der im Mittelalter begann und beschleunigt im 16. Jahrhundert verlief, kommt es zu einer Rückwirkung auf das menschliche Verhalten, zu einer Verschiebung der Ängste:


„Nun wird ein ganzer Teil der Spannungen, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, als innere Spannung im Kampf des Einzelnen mit sich selbst bewältigt. Der gesellschaftlich-gesellige Verkehr hört auf, dadurch eine Gefahrenzone zu sein, daß Mahl, Tanz und lärmende Freude rasch und häufig in Wut, Prügelei und Mord umschlagen, und er wird dadurch zu einer Gefahrenzone, daß der Einzelne sich selbst nicht genug zurückhält, daß er an die empfindlichen Stellen, an die eigene Schamgrenze oder an die Peinlichkeitsschwelle der Anderen rührt. Die Gefahrenzone geht jetzt gewissermaßen quer durch die Seele aller Individuen hin. Eben darum werden die Menschen jetzt auch in dieser Sphäre für Unterschiede empfindlich, die zuvor kaum ins Bewußtsein drangen. Wie die Natur nun in höherem Maße als früher zur Quelle einer Augenlust oder umgekehrt auch durch das Auge vermittelten Lust wird, so werden auch die Menschen nun für einander in höherem Maße zur Quelle einer durch das Auge vermittelten Unlust, zu Erregern von Peinlichkeitsgefühlen verschiedenen Grades. Die unmittelbare Angst, die der Mensch dem Menschen bereitet, hat abgenommen und im Verhältnis zu ihr steigt nun die durch Auge und Über-Ich vermittelte, die innere Angst.“ (ebd. S.407)
Die gesellschaftliche Affektkontrolle funktioniert um so effektiver, je stärker die Selbstzwangmechanismen in der Ausbreitung des Zwangs zur „Langsicht“ anstelle kurzfristiger Triebentladung funktionieren. Aus der „Langsicht“ Elias wird das „Über-Ich“ Freuds, die vormals bewußte Triebsublimierung wird zum unbewußten Vorgang:
„Die augenblickliche Lust oder Neigung wird in Voraussicht der Unlust, die kommen wird, wenn man ihr nachgibt, zurückgehalten; und das ist in der Tat der gleiche Mechanismus, mit dem nun immer entschiedener durch Erwachsene – ob es nun die Eltern oder andere Personen sind – von klein auf in den Kindern ein stabileres ‚Über-Ich‘ gezüchtet wird. Die momentane Trieb- und Affektregung wird gewissermaßen durch die Angst vor der kommenden Unlust überdeckt und bewältigt, bis diese Angst sich schließlich gewohnheitsmäßig den verbotenen Verhaltensweisen und Neigungen entgegenstemmt, selbst wenn gar keine andere Person mehr unmittelbar gegenwärtig ist, die sie erzeugt; und die Energien solcher Neigungen werden in eine ungefährliche, durch keine Unlust bedrohte Richtung gelenkt.“ (ebd. S.372)
„Das Schema der Selbstzwänge, die Schablone der Triebmodellierung“, wie es Elias ausdrückt, ist abhängig von der sozialen Position, die das Individuum im gesellschaftlichen System einnimmt. Auch wenn „Abstufungen in der Stärke und Stabilität der Selbstzwangapparatur, die bei einer bloßen Nahsicht als sehr beträchtlich erscheinen“ existieren, so überwiegt doch die Ähnlichkeit in der Auswirkung des gesellschaftlichen Gewebes auf die psychische Selbstkontrolle. Besonders im Vergleich
„[...] mit dem Habitus der Menschen in weniger differenzierten Gesellschaften treten diese Unterschiede und Abstufungen innerhalb der differenzierteren an Bedeutung zurück, und die große Linie der Transformation, auf deren Hervorhebung es hier zunächst in erster Linie ankommt, tritt klar und scharf umrissen hervor: Mit der Differenzierung des gesellschaftlichen Gewebes wird auch die soziogene, psychische Selbstkontrollapparatur differenzierter, allseitiger und stabiler.“ (ebd. S.319f.)55
Eine vollkommene Abstinenz von Selbstbeherrschungsarten ist in keiner Gesellschaftsform auffindbar. (ebd. S.326) Elias unterscheidet jedoch die Zwänge, die in einer differenzierten und in einer undifferenzierten Gesellschaft zu finden sind, klar voneinander. In einem ausdifferenzierten Interdependenzgeflecht, in dem sich das Individuum aufgrund der zunehmenden Funktionsteilung befindet, kann sich der Einzelne nicht erlauben „spontanen Wallungen und Leidenschaften“ nachzugeben; das Gewaltmonopol obliegt ihm nicht und er profitiert gesellschaftlich desto mehr davon, je mehr er seine Affekte kontrolliert und zurückhält. Eine Verhaltensänderung im Sinne der „Zivilisation“ – vom spontanen kurzsichtigen Gefühlsmenschen zum langsichtigen Kopfmenschen findet statt. Elias charakterisiert die vormals in kriegerischen Gesellschaften vorhandene unentfremdete Lebensweise, die die Möglichkeit zuläßt, Lust und Unlust offen und ohne den Preis der Selbstentfremdung nach außen zu entladen, als ein Leben in Extremen. Er vergleicht ein solches Leben, das von einem freien Triebausdruck und einer damit verbundenen konstanten Unsicherheit verbunden ist, mit der Psyche des Einzelnem, dem „individuellen Seelenhaushalt“:
„Wie hier in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch schockartiger die Gefahr, plötzlicher und unberechenbarer die Möglichkeit des Sieges oder der Befreiung vor dem Einzelnen auftaucht, so wird er [der Mensch, A.S.] auch häufiger und unvermittelter zwischen Lust und Unlust hin- und hergeworfen. [...] Die Seele ist hier, wenn man sich einmal so ausdrücken darf, unvergleichbar viel mehr bereit und gewohnt, mit immer der gleichen Intensität von einem Extrem ins andere zu springen, und es genügen oft schon kleine Eindrücke, unkontrollierbare Assoziationen, um die Angst und den Umschwung auszulösen.“ (ebd. S.324)
Das Individuum, von frühster Kindheit an den Kontrollmechanismus über seine Triebentladung gewöhnt, wird im historischen Verlauf nun selbst zum Träger der Kontrollinstanz, ist vollständig sozialisiert und konditioniert im Umgang mit Zwängen. Die frühere Unsicherheit – die Angst vor körperlicher Bedrohung und Gewalt – schlägt um in eine Scheinsicherheit, in eine
„[...] eigentümliche Form von Sicherheit. Sie wirft ihn nicht mehr als Schlagenden oder Geschlagenen, als körperlich Siegenden oder als körperlich Besiegten zwischen mächtigen Lustausbrüchen und schweren Ängsten hin und her, sondern von dieser gespeicherten Gewalt in der Kulisse des Alltags geht ein beständiger, gleichmäßiger Druck auf das Leben des Einzelnen aus, den er oft kaum noch spürt, weil er sich völlig an ihn gewöhnt hat, weil sein Verhalten und seine Triebgestaltung von der frühesten Jugend an auf diesen Aufbau der Gesellschaft abgestimmt worden sind.“ (ebd. S.325f.)
Rationalisierung und das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsgrenze sind beides Ausdruck der Reduktion einer unmittelbaren Angst vor „Bedrohung oder Überwältigung durch andere Wesen“ zugunsten einer Verstärkung einer automatischen inneren Angst, zum Selbstzwang, den der Einzelne nun auf sich selbst ausübt. In beiden Zivilisationserscheinungen kommt die „differenziertere Vor- und Langsicht zum Ausdruck, die mit der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft für immer weitere Menschengruppen zur Erhaltung ihrer sozialen Existenz notwendig wird.“ (ebd. S.400)

Mit Freud beschreibt Elias den Mechanismus der Triebsublimierung, die „Umformung des Seelenhaushalts im Sinne einer kontinuierlichen, gleichmäßigen Regelung seines Trieblebens und seines Verhaltens nach allen Seiten hin“ und die Etablierung einer immanenten Kontrollinstanz. (ebd. S.328) Aus der Angst vor Feinden – einer Bedrohung von außen – kommt es zu einer Verschiebung zur Angst vor dem eigenen Kontrollverlust. Beim Selbstzwang, der im Zuge der „Monopolisierung der Gewalttat in den befriedeten Räumen“ entsteht, handelt es sich um den Typus einer „leidenschaftsloseren Selbstbeherrschung“, einem Äquivalent zum gesellschaftlichen Kontroll- und Überwachungsapparat, der als „Kontrollapparatur, die sich im Seelenhaushalt des Individuums herausbildet“, unbewußt das Verhalten des Individuums reguliert (und damit dem Freudschen Über-Ich entspricht). (ebd.) Die Spaltung des „Seelenhaushaltes“ – in Folge der zunehmenden Rationalisierung und Verstärkung von Scham – korrespondiert mit der zunehmenden gesellschaftlichen Funktionsteilung. Auch im „Seelenhaushalt“ des Subjekts etabliert sich eine Funktionsteilung im Sinne einer „wachsenden Differenzierung zwischen Triebfunktionen und Triebüberwachungsfunktionen“, die konfliktreiche Spaltung des Seelenhaushaltes in die gegnerischen Parteien des Seelenhaushaltes: Es/Ich und Über-Ich. (ebd. S.400) Elias unterscheidet hierbei weiter zwischen einem gelungenen und einem nicht gelungenen Zivilisationsprozeß im Hinblick auf eine mögliche Integration des angepaßten Menschen bei Beibehaltung einer positiven, befriedigenden Lustbilanz.

Norbert Elias übt neben aller Gemeinsamkeit im Ansatz gleichzeitig auch massiv Kritik an Freuds Psychoanalyse. So schreibt er der psychoanalytischen Forschung einen eingeschränkten Blickwinkel zu, sie neige dazu „bei der Betrachtung des Menschen etwas ‚Unbewußtes‘, ein als geschichtslos gedachtes ‚Es‘ aus dem gesamten Seelengefüge als das Wichtigste herauszugreifen.“ Weiterhin bemängelt er Freuds fehlende historische Verortung der psychoanalytischen Theorie:
„Vieles von dem, was für das Verständnis der Menschen unentbehrlich ist, entzieht sich ihrem Zugriff. Die Rationalisierung der Bewußtseinsgehalte selbst und weiter die gesamten Strukturwandlungen der Ich- und Überfunktionen, alle diese Erscheinungen sind [...] für das Nachdenken nur sehr unvollkommen angreifbar, solange sich die Untersuchung an Bewußtseinsgehalte, an Ich- und Überichstrukturen allein zu halten sucht und dem korrespondierenden Wandel der Trieb- und Affektstrukturen keine Beachtung schenkt.“ (ebd. S.389)

2.5 Die Illusion des einheitlichen Körpers
Im Narcissus-Mythos sind die Motive Spiegelung, Körperauflösung und Tod deutlich erkennbar. Ovids Spiegelproblematik wurde in allen Epochen aufgegriffen, besonders in der Literatur im 19. und 20. Jahrhundert im Rahmen der aufkommenden Identitätsproblematik, etwa von Oscar Wilde im Bildnis des Dorian Gray aus dem Jahr 1890. In der Bildenden Kunst setzten sich die den Barock beeinflussenden italienischen Maler Caravaggio und Tintoretto im späten 16. Jahrhundert sowie der Surrealist Salvador Dalí56 intensiv mit dem Motiv des sich betrachtenden Narcissus auseinander, um nur einige Beispiele herauszugreifen. Der Mensch hegt die Illusion eines einheitlichen Körpers, „in der Leben und Tod fest und symbolisch verschmolzen beisammen sind, wie es das Verhältnis zwischen Skelett und Fleisch verkörpert“, indes verschiebt sich diese Grenze „und läßt sich nun zwischen dem Körper und seinem Spiegelbild nieder.“ (Tibon-Cornillot 1982, S.157)

Im dritten Buch der Metamorphosen57 nimmt der römische Dichter Ovid die Sage von Narcissus und Echo auf, dem schönen Jüngling Narcissus58, Sohn des Cephisus59 und der Nymphe Liriope, dem in der griechischen Mythologie ein tragisches Schicksal widerfährt. Narcissus verschmäht die Nymphe Echo, die mit dem Verlust der Stimme bestraft worden war60 und einzig das letzte Wort, das sie hörte, wiederholen konnte, in ihrer Liebe zu ihm. Als sie auf den schönen Jüngling zugeht und ihn in ihre Arme schließen will, flieht er mit den Worten: „Hände weg, laß die Umarmungen! Eher will ich sterben als dir gehören.“ (Ovid 1988, S.69) Die gedemütigte Nymphe grämt sich vor Zurückweisung und nicht erhörter Liebe und zieht sich aus Kummer in „einsame Höhlen“ zurück. Da Narcissus nicht nur sie, sondern auch weitere Wasser- und Bergnymphen sowie Männer zurückgewiesen hat, wird er eines Tages von der Rachegöttin Nemesis61 selbst verflucht, auch er soll das, was er am meisten liebt, nicht bekommen. Die Verwünschung des Narcissus erfüllt sich sodann, er verliebt sich hoffnungslos in sich selbst, als er Wasser aus einem See trinkend, sein Bild erblickt. Je länger Narcissus sich ansieht, desto heftiger verliebt er sich in sich selbst, desto faszinierter und irritierter wird er von seinem Spiegelbild im Wasser, einem Trugbild, das er für echt hält. Erkennend, daß er selbst der Geliebte ist, sieht Narcissus als einzigen Ausweg den Tod, da es ihm unmöglich erscheint, sich von seinem geliebten Ich zu entfernen:


„Ich bin es selbst! Ich habe es begriffen, und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide. Was tun? Bitten oder mich erbitten lassen? Worum soll ich denn bitten? Was ich begehre, ist bei mir. Der Reichtum hat mich arm gemacht. Könnte ich mich doch von meinem Körper lösen! Ein neuartiger Wunsch bei einem Liebenden: Ich wollte, der Gegenstand meiner Liebe wäre nicht bei mir! Schon nimmt mir der Schmerz die Kräfte, mir bleibt keine lange Frist mehr, und ich erlösche im Lenz meines Lebens. Doch der Tod ist mir keine Last, denn der Tod wird mir die Schmerzen nehmen. Nur wünschte ich, der Geliebte lebte länger! Jetzt werden wir zu zweit als ein Herz und eine Seele sterben.‘ Sprach’s und kehrte in rasender Leidenschaft zu demselben Spiegelbild zurück, trübte das Wasser mit Tränen, und durch die Bewegung im See wurden die Umrisse unscharf. Als er sah, daß das Bild verschwand, schrie er: ‚Wohin fliehst du? Bleib und laß mich, du Grausamer, in meiner Liebe nicht allein! Laß mich, was ich schon nicht berühren darf, wenigstens anschauen und so dem unglücklichen Wahn Nahrung geben!‘ Und trauernd zerriß er das Gewand vom oberen Saum her und schlug sich mit den marmorweißen Händen an die nackte Brust. Von den Schlägen wurde die Brust rosig, wie Äpfel, die teils weiß, teils rot sind, [...].“ (ebd. S.71)
Er tötet sich selbst, der schöne Körper zerfällt und damit verschwindet die körperliche Schönheit in der Auflösung. Der tote Körper Narcissus wird von den Göttern schließlich in eine Narzisse verwandelt.

Das „Wechselspiel von Sich-Erkennen und Verkennen von spiegelverhafteter Faszination und Aggression“, das bereits vom antiken Dichter Ovid in dessen Metamorphosen im Narcissus-Mythos thematisch vorweggenommen wird, wird sowohl von Sigmund Freud als auch von Jacques Lacan in ihren psychoanalytischen Ansätzen behandelt. (Pagel 1989, S.27) Aus der Spiegelungs-Erfahrung können Bedeutungen abgeleitet werden, die die Struktur des „Ich als Einheit“ betreffen.


Jacques Lacan prägte als einer der bedeutenden Vertreter der Psychoanalyse und des französischen Strukturalismus den Terminus des „zerstückelten Körpers“. In seinem Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion62 knüpft er sowohl an die Hegelsche „Dialektik der Begierde“63 an, an Freuds Narzißmus-Theorie als auch an die Gestaltpsychologie64.

Nach gestaltpsychologischer Auffassung müssen seelische Vorgänge unter Berücksichtigung aller im Gesamtprozeß daran beteiligten Faktoren analysiert werden und nicht isoliert als Einzelelemente des Seelischen (Atomismus), die in keinem Gesamtkontext stehen, wie es nach Ansicht der Gestaltpsychologen in der Struktur- und Assoziationspsychologie getan wird. Es wird davon ausgegangen, daß die menschliche Wahrnehmung die Tendenz hat, alle Einzelteile aus der Umwelt zu einem sinnhaften Ganzen zu formen. Der Mensch befindet sich folglich in einem permanenten Prozeß der Angleichung, der in der Gestaltsprache „kreative Anpassung“ genannt wird, ein Prozeß zwischen Organismus und bestehender Umwelt. In der Gestaltpsychologie teilt sich die Organisation eines Feldes oder Systems auf in Figur und Grund. Die Figur65 bzw. auftauchende Gestalt wird als sinnvolles Ganzes wahrgenommen.66 Ein unerledigtes Geschäft, eine unvollendete Gestalt, bewirkt in uns den Drang, das Unfertige zu vollenden, die Gestalt zu schließen, damit die gestaute Energie wieder frei werden kann. Wenn eine offene Gestalt nicht geschlossen wird, bedeutet dies, daß die Figur-Grund-Beziehung als aktive Wechselbeziehung gestört wurde. Dieser subjektive Zusammenhang, den sich das Individuum durch die wechselseitige Beziehung von Figur und Grund schafft, wird in der Gestalt-Theorie67 mit dem Terminus Gestalt bezeichnet.68



Lacan übernimmt den Gestalt-Begriff in der Beschreibung der Spiegelerfahrung, wenngleich in einer modifizierten Form. Das Spiegelstadium Lacans steht als Bild für den Prozeß der Ich-Werdung, der Identitätsbildung. Der Spiegel steht als Beschreibungsmodell einer „imaginären Intersubjektivität. Er verdeutlicht den narzißtischen Charakter menschlicher Selbstfindung, insofern diese der „Illusion des Eins-Sein-Wollens mit sich selbst als einem anderen unterliegt.“ (Pagel 1989, S.34) Bereits im frühen Kindesalter, zwischen dem 6. und 18. Monat konstruiert das sich im Spiegel betrachtende Kind ein „imaginäres Bild“69 von der vollständigen Gestalt seines Körpers. Es kommt zu einer Identifikation mit dem Spiegelbild. Das motorisch noch wenig entwickelte Kind gestaltet in der visuellen Wahrnehmung eine Einheit des gespiegelten Bildes und bezieht es auf den eigenen Körper, fasziniert von seinem „visuellen Echo“ vergleicht es „seine noch sehr unbeholfenen eigenen Bewegungen mit denen der Spiegelreflexion.“ (ebd. S.25)70 Durch eine „Identifizierung mit dem Anderen, der das Selbst sein soll“, setzt das Kind die Bewegung des Anderen im Spiegel mit dem eigenen Körper in Bezug. Im Prozeß der Ich-Werdung des Spiegelstadiums „identifiziert der noch allen äußeren und inneren Regungen ausgelieferte Körper sich mit seinem Spiegelbild.“ (Gendolla 1982, S.173) Die Identifikation im Spiegelstadium – wie Lacan sie in Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion einführt – läßt sich somit als eine Metamorphose beschreiben:
„Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. Daß ein Bild für einen solchen Phasen-Effekt prädestiniert ist, zeigt sich bereits zur Genüge in der Verwendung, die der antike Terminus Imago in der Theorie findet. Die jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes durch ein Wesen, das noch eingetaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege, wie es der Säugling in diesem infans-Stadium ist, wird von nun an – wie uns scheint – in einer exemplarischen Situation die symbolische Matrix darstellen, an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt, bevor es sich objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem andern und bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion eines Subjektes wiedergibt.“ (Lacan, Schriften I, 1991, S.64, Hervorhebung im Original)
Im obigen Zitat bedürfen zwei Aussagen Lacans einer näheren Betrachtung. Er verweist hier einmal auf die „jubilatorische Aufnahme“ des Spiegelbildes durch das „unfertige“ Wesen Kind, andererseits wird augenscheinlich, daß Lacan in seinem Ich-Begriff zu differenzieren scheint, da er auf das Ich (je) zurückgreift. Ein einheitliches Ich existiert bei Lacan nicht, vielmehr unterscheidet er zwischen dem Ich (je) und dem Ich (moi), die für ihn nicht identisch sind. In der Verwendung der Ich-Formen umreißt das Ich (je) das wahre Ich im Gegensatz zum Ich (moi), das sich auf Freuds Ego-Begriff bezieht und ein narzißtisches Ich beschreibt, das sich auf der imaginären Ebene konstituiert und mit einem „Sich-Verkennen“ einhergeht, wie die Lacan-Interpretin Gerda Pagel es beschreibt:
„Das Ich (moi) ist Ort imaginären Erkennens, das zugleich Verkennen ist, Bewegung eines Erschließens, das in spiegelverhafteter Geschlossenheit bleibt, Verbürgung und Täuschung. Es antizipiert das Bild seiner Autonomie, um gleichzeitig an der Differenz von fiktiv-imaginärer Einheit und faktischer Abhängigkeit eine Entfremdung zu erfahren.“ (Pagel 1989, S.33)
Das Selbst konstituiert sich in dem visuellen Vervollständigungsprozeß des „zerstückelten“ zum ganzen Körper. Aus der imaginären, gespiegelten Einheit erfolgt durch ein symbolisches Ordnen das Erkennen einer ganzen Gestalt.
„Solchermaßen symbolisiert diese ‚Gestalt‘ – deren Prägnanz offenbar als artgebunden zu betrachten ist, obschon ihr Bewegungsstil noch verkannt werden könnte - durch die zwei Aspekte ihrer Erscheinungsweise die mentale Permanenz des Ich (je) und präfiguriert gleichzeitig dessen entfremdende Bestimmung; sie geht schwanger mit den Entsprechungen, die das Ich (je) vereinigen mit dem Standbild, auf das hin der Mensch sich projiziert, wie mit dem [sic!] Phantomen, die es beherrschen, wie auch schließlich mit dem Automaten, in dem sich, in mehrdeutiger Beziehung, die Welt seiner Produktion zu vollenden sucht.‘ (Lacan, Schriften I, 1991, 64f.)
Die von Lacan beschriebene „jubilatorische Aufnahme“ des Körpers als Ganzheit steht im Kontext einer Selbstverkennung des Subjekts, die in der Interpretation Dietmar Kampers mit Gefühlen der kindlichen Aggression, Hilflosigkeit und Verlustangst der Mutter, wie sie bereits bei Freud beschrieben worden sind, korrespondieren (vgl. Kamper 1982, S.127).71 Das Spiegelstadium imaginiert dem Subjekt nicht nur Vollständigkeit und Beständigkeit, sondern dient dem Kind gleichsam als Garant der eigenen Präsenz. Es handelt sich um eine empfundene Omnipotenz, die sich noch nicht auf die eigene „körperliche Existenz“ gründen kann, sondern außerhalb des eigenen Körpers liegen muß. Eine „Setzung der Identität“ konstituiert sich also „in Bezug zum eigenen vorgestellten Körper, den das Kind als erlebbare Ganzheit zu erfassen und somit zu beherrschen glaubt.“ (Pagel 1989, S.25f.) Das „Ich der Spiegelerfahrung“ wird damit zur „triumphalen Setzung“ des Ideal-Ich, zum imaginären Ich außerhalb jeder Realität. Die Imagination stellt einen bewußt ablaufenden geistigen Prozeß dar, bei dem Vorstellungen und Bilder erzeugt werden können, die außerhalb der Gegenwart und realen Erfahrung liegen. Lacan beschreibt das Spiegelstadium fernerhin als einen
„[...] Spezialfall der Funktion der Imago, die darin besteht, daß sie eine Beziehung herstellt zwischen dem Organismus und seiner Realität - oder, wie man zu sagen pflegt, zwischen der Innenwelt und der Umwelt. Aber diese Beziehung zur Natur ist beim Menschen gestört durch ein gewisses Aufspringen (déhiscence) des Organismus in seinem Innern, durch eine ursprüngliche Zwietracht, die sich durch die Zeichen von Unbehagen und motorischer Inkoordination in den ersten Monaten des Neugeborenen verrät.“ (Lacan, Schriften I, 1991, S.66, Hervorhebung im Original)
Lacans Subjekt befindet sich stets in einem ambivalenten Zustand von Sich-Kennen (me connaître) und dem Verkennen (méconnaître), denn so Lacan:
„[...] das Subjekt kann sich in dieser Rückschau allein eines Bildes vergewissern, im Moment, wo es ihm gegenübersteht: des antizipierten Bildes, das es sich von sich selber macht in seinem Spiegel.“ (Lacan, Schriften II, 1991, S.183)
Das Subjekt befindet sich im konstanten Spagat aus imaginierter Wahrnehmung einer Ganzheit und „realer Uneinlösbarkeit“ des Begehrens. Das Spiegelstadium als „die vorsprachliche Fixierung an das eigene Spiegelbild, die das Ich zu einer imaginären Instanz der Täuschung macht“ wird zum Drama des Subjekts. (Bürger 1998, S.11)72 Für Peter Gendolla artikuliert sich in der Transformation vom zerstückelten zum ganzen Körper durch den Spiegel, in dem „Wunsch nach Einheit durch Spiegelung“ die „Rückkopplung eines einheitlichen Bildes“ in einem Körper, „in dem – und in dessen von ihm erfaßter und produzierter Umwelt – von nun an dies ‚Einheitsbegehren‘ eines ‚allgemeinen Anderen‘ kreist.“ (Gendolla 1982, S.173) In der Tat zieht sich Arthur Rimbauds73 paradoxer Ausspruch „Ich ist etwas Anderes“, motivisch – wie zuvor in Ovids Narcissus-Mythos aber auch in der Dialektik Hegels – als roter Faden durch das Werk Lacans. Das unmögliche Begehren des Anderen im Ich, und „die prinzipielle Unmöglichkeit der Spiegelung des Ich im anderen“ werden zum unlösbaren Konflikt. (Pagel 1989, S.33) In Lacans Interpretation führt die unbefriedigte Suche des „Anderen im Ich“ zur Suche des „Ich im Anderen“, um den Wunsch zu stillen. Das narzißtische Begehren nach mir wird damit auf den Anderen verlagert. Lacan schreibt im Aufsatz Die Bedeutung des Phallus74 über das Begehren, das sich in erster Linie auf dem Feld der Sexualität abzuspielen scheint:
„Man begreift, wie die sexuelle Beziehung dieses geschlossene Feld des Begehrens einnimmt und ihr Los hier ausspielen wird. Denn dieses Feld ist gemacht dazu, daß auf ihm sich das Rätsel produziert, das jene Beziehung im Subjekt aufwirft und das sie ihm doppelt ‚signifiziert‘: als Wiederkehr des Anspruchs, den sie auslöst, als Anspruch an das Subjekt des Bedürfnisses; als Ambiguität, die vergegenwärtigt wird bezüglich des Andern, das im beanspruchten Liebesbeweis im Spiel ist. Das Auseinanderklaffen in diesem Rätsel zeigt, wodurch es determiniert ist, in der einfachsten Formel, die es offenlegt: daß nämlich weder das Subjekt noch der Andere (für jeden der Beziehungspartner) sich damit zufrieden geben können, Subjekte des Bedürfnisses oder Objekte der Liebe zu sein, sondern einzig und allein damit, Statthalter zu sein für die Ursache (cause) des Begehrens.“ (Lacan, Schriften II, 1991, 127f., Hervorhebung im Original) 75
Das Begehren, die Suche nach dem „Anderen im Ich“ und der „zerstückelte Körper“ sind Motive, die sich in der modernen und postmodernen Kunst signifikant widerspiegeln. Das Subjekt entwirft „im faszinierenden Spiel zwischen Leib und imaginierter Leiblichkeit“ seine psychische Einheit, ein „Spiel der Identifizierung“, aus dem sich „Phantasien entwickeln, die um das Ich des Menschen und seinen Körper ranken.“ (Pagel 1989, S.26) Es handelt sich hierbei um Phantasien, die seit jeher wichtiger Gegenstand von Philosophie und Kunst waren und uns in der Malerei, Bildhauerei, in der Photographie und in der Film- und Videokunst des 20. Jahrhunderts prägnant begegnen. Das reduzierte und abstrahierte Körperfragment erfährt in diesem Jahrhundert gerade auch eine zunehmende Bedeutung in Bildhauerei und Plastik, beispielsweise in den Arbeiten von Hans Arp, einem der Mitbegründer des Dadaismus und des Züricher Cabaret Voltaire und Alexander Archipenko, der dem Kubismus nahe stand und der Abstraktion den Weg bereitete. In der Photographie des 20. Jahrhunderts gab und gibt es zahlreiche Künstler, die die Dynamik des ganzen und des fragmentierten Körpers in den Mittelpunkt ihrer schöpferischen Arbeit stellten. Hans Bellmer, Man Ray und Claude Cahun prägten als Photo-Künstler den Surrealismus und beschäftigen sich eingehend mit dem fragmentierten Körper. Gegenwärtig gibt es zahlreiche Künstler, die die fragmentarische Kunst und die Darstellung des zerstückelten Körpers populär machen und an die avantgardistischen Ahnen anknüpfen.76

Die klassische Avantgarde des 20. Jahrhunderts77 sah sich noch massiv mit dem Vorurteil konfrontiert, daß eine künstlerische Darstellung, das Ganze und nicht das Fragmentarische und Abstrakte darstellen müsse. Obwohl Freuds psychoanalytische Erkenntnisse bereits ab der Jahrhundertwende publiziert wurden, verbreitete sich, so Sigrid Schade in Der Mythos des ‚Ganzen Körpers78 nur langsam


„[...] die Erkenntnis dessen, daß die Phantasmen des ‚ganzen‘ und des ‚zerstückelten‘ Körpers als Vorstellungsbilder die imaginierte Intaktheit des Subjekts begleiten und bis in seine erotischen Projektionen hinein in den Figuren von Fetischismus und phallischen Inszenierungen und in politischen, gesellschaftlichen Machtphantasien verfolgen. Die allgemeine Ablehnung und Verdrängung der Freudschen Theorien ist eben selbst als ein Effekt der narzißtischen Kränkungen zu verstehen, deren Funktionieren er zu analysieren begonnen hatte, und die schließlich in den kollektiven Machtphantasien eines totalitären Systems kanalisiert wurden. Allein die künstlerische Avantgarde, besonders die Surrealisten, setzte sich mit der Psychoanalyse auseinander. Diese entwickelten einen Verbund von Techniken, dem Unbewußten, Verdrängten, auf die Spur zu kommen, und die Zerstückelungsphantasmen zu spiegeln.“ (ebd. S.250f.)
Schade forscht in ihrer Studie gleichfalls nach der Intention der fragmentarischen Kunsttechnik. In Abgrenzung zur nicht intentionalen Herstellung fragmentierter Körper in der Kunst – im Sinne der Entstehung der Torsi durch Zerstörung – sieht sie in der beabsichtigten künstlerischen Produktion des zerstückelten Körpers die bewußte Absage an existierende Herrschaftsverhältnisse. Damit wird in der fragmentarischen Kunst des 20. Jahrhundert die Idee einer „Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte“ deutlich. Sie spricht in diesem Zusammenhang
„[...] vom Ende einer alten patriarchalen Figur: der Selbstkonstitution des bürgerlichen Subjekts, das sich selbst als Einheit – als autonome Entität – denkt, im Besitz der Wahrheit des Wissens und der Wahrnehmung. Die narzißtische Figur, die auf dem Feld des Blicks nach der Garantie eines ‚ganzen‘ Spiegelbildes verlangt [...].“ (ebd. S.241)
„Wir alle sind Geiseln, das ist das Geheimnis der Geiselnahme, und wir alle träumen davon, den Tod zu erhalten und den Tod zu geben, anstatt dumm durch Verschleiß zu sterben.“ (Jean Baudrillard)
3. Körper und Tod
3.1 Mythos und Tod
Der Umgang mit dem Tod ist gesellschaftlich geprägt, unterscheidet sich von Kulturkreis zu Kulturkreis und unterliegt einem historischen Wandel. So wird beispielsweise in Mexiko Anfang November – ähnlich unserem Feiertag Allerseelen – der Dia de la Muerte, wörtlich der Tag des Todes, gefeiert, um der Verstorbenen zu gedenken. Dem Tod wird an diesem Tag mit Ritualen und einem Fest gedacht, es handelt sich hierbei um eine Tradition, die sich bis in die Gegenwart hinein halten konnte. Auf die Gräber legen die Angehörigen Alkoholika wie den Tequila, Zigarren, Süßspeisen, all das, was den Toten als Lebenden wichtig gewesen ist. Die Speisen und Getränke werden anschließend von den Lebenden in Gedenken an die Toten konsumiert. Es ist gleichfalls üblich, daß die Mexikaner an diesem Tag ihren Familienmitgliedern und Freunden Zuckergebäck in Totenkopfform schenken, damit diese bereits im Leben an den – wann auch immer eintretenden Tod – der liebgewonnenen Person denken. Dem Tod wird somit der Schrecken genommen, der Tod wird ritualisiert und zum Festtag aller, der Lebenden und der Toten, gemacht. Tod und Leben tauschen sich symbolisch aus, der Tod ist Teil des Lebens, im Gegensatz zum „desozialisierten“ Tod in unserem Kulturkreis, in dem der Tod weitestgehend seine soziale Funktion verloren hat. Gerade deshalb wird, um mit Jean Baudrillard zu sprechen, unsere Kultur zur wahren „Kultur des Todes“.

Christoph Wulf zeigt in seinem Essay Körper und Tod79 die Entwicklung des gesellschaftlichen Umganges mit dem Tod für unseren Kulturkreis auf. So konstruiert Wulf den historischen Verlauf seit dem Mittelalter als Prozeß einer zunehmenden gesellschaftlichen Ausgrenzung des Todes:


„Im Mittelalter löscht der Tod den Körper nicht aus. Die Körperteile der Heiligen ‚überleben‘ sogar im Diesseits. Die Körper aller Verstorbenen können bei entsprechender Lebensführung das ewige Leben erhalten. Eine Reduzierung des Körpers auf seine vergänglichen Elemente hat noch nicht stattgefunden. Sie bleibt der Neuzeit mit ihrem objektivierenden Wissenschaftsverständnis vorbehalten. [...] Die zunehmende Ausrichtung des mittelalterlichen Menschen auf die Erreichung der von der Kirche gesetzten Ziele (z.B. Kreuzzugs-, Pilgerfahrtsziele) führt [jedoch] bereits zu einer Normierung der Körper. Im Hinblick auf die Kontrolle der Körper und Wünsche hat diese im asketischen Ideal der Cluniazenser einen Höhepunkt erreicht. Im Unterschied zum Mittelalter beinhaltet Tod heute den weitgehenden Ausschluß der Verstorbenen von den Lebenden. Der Lebende weiß, daß er als Verstorbener nicht mehr dazugehört.“ (Wulf 1982, S.264f.)
Wulf geht – wie zuvor Nobert Elias und Michel Foucault – davon aus, daß der „Zugriff der Macht auf den Menschen“ über den Körper erfolgt. Das mittelalterliche Körperverständnis entspricht einer „vollkommenen Materialisierung eines Menschen“, der Körper des Individuums verweist gleichzeitig auf den kollektiven Körper. Weltliche und kirchliche Herrscher, letztere als irdische Vertretung, wirken gemeinsam mit der imaginären jenseitigen Kontrollinstanz, dem jüngsten Gericht. Sie üben Macht aus über den Körper und die Lebensführung der Menschen, das „richtige“ Leben wird zum erklärten Ziel des weltlichen Daseins (vgl. ebd.).

Zwischen den Polen Geburt und Tod bewegt sich das menschliche Dasein. Die Geschichte des Menschen läßt sich damit als die einer steten Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, mit dem Tod, begreifen. Vorstellungen über den Tod, über die Möglichkeit eines jenseitigen Lebens und einer Reinkarnation in einen neuen Körper bestimmen das Verhältnis des Individuums zu seinem Körper. Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross geht beispielsweise davon aus, daß der Mensch nach dem Sterben im Jenseits wieder die körperliche Gestalt annimmt, die er zuvor als irdisches Wesen hatte. Jenseitsvorstellungen sind stets religiös, kulturell und individuell geprägt, eine allgemein verbindliche Vorstellung über ein jenseitiges Leben oder die Negation dessen existiert für den Gegenwartsmenschen nicht mehr. Mit dem „Wegfall verbindlicher Vorstellungen vom jenseitigen Leben“ wird somit der Körper „zum alleinigen Bezugspunkt der Menschen.“ (Kamper/Wulf 1989, S.2)



Ernst Cassirer stellt in Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur80 anschaulich dar, daß die Funktion des Todes in der primitiven Kultur nicht auf der Annahme einer Endlichkeit, sondern gegenteilig, auf einem mythischen Unsterblichkeitsdenken begründet ist:
„Viele Mythenerzählungen beschäftigen sich mit dem Ursprung des Todes. Die Vorstellung, daß der Mensch seiner Natur und seinem Wesen nach sterblich ist, scheint dem mythischen und dem primitiven religiösen Denken gänzlich fremd zu sein. In dieser Hinsicht besteht ein auffälliger Unterschied zwischen dem mythischen Unsterblichkeitsglauben und allen späteren, rein philosophischen Unsterblichkeitsvorstellungen. [...] Im mythischen Denken [...] liegt die Beweislast bei der Gegenseite. Wenn hier irgend etwas eines Beweises bedarf, dann nicht die Unsterblichkeit, sondern der Tod. Doch der Mythos und die primitive Religion erkennen diese Beweise nicht an. Nachdrücklich verneinen sie schon die bloße Möglichkeit des Todes. In einem gewissen Sinne kann man das gesamte mythische Denken als beharrliche und hartnäckige Leugnung des Todes deuten.“ (Cassirer 1990, S.133f.)
Zwischen Mythos und Tod besteht eine notwendige Korrespondenz, die für die Gemeinschaft der Lebenden sinnstiftend wirkt. Die Grundlage für die Wirkweise eines Mythos ist der Glaube, Mythos und Glaubensakt bilden somit eine Entität. Mythos und die (primitive) Religion negieren die Möglichkeit des Todes, stellen eine vehemente „Leugnung des Todes“ dar, artikulieren in der Interpretation Cassirers eine „Überzeugung von der ungebrochenen Einheit und Kontinuität des Lebens“ und sind damit die „nachdrücklichste Bekräftigung des Lebens, die wir in der menschlichen Natur finden.“ (ebd. S.134) Auf den ersten Blick erscheint der Mythos chaotisch und formlos als bloße „Anhäufung zusammenhangloser Ideen“, denn jede Naturerscheinung und Erscheinung des menschlichen Denkens läßt sich mythisch deuten. Abgeleitet von der griechischen Bezeichnung für Wort, Rede, Erzählung oder Fabel läßt sich der Mythos als eine „unbewußte Fiktion“ beschreiben. Als Charakteristikum des Mythos im primitiven Denken sind der unbewußte Schöpfungsakt und die fehlende Reflexion seiner Wirkung zu nennen. Der Mythos ist also seinem Wesen nach weder theoretisch, logisch und wissenschaftlich deklinierbar, sondern entspricht in seinen Eigenschaften vielmehr jenen des Symbols, das sich durch eine dynamische Veränderlichkeit auszeichnet:
„Kennzeichnend für das menschliche Symbol ist nicht seine Einförmigkeit, sondern seine Vielseitigkeit und Wandelbarkeit. Es ist nicht satt und unbeweglich, sondern beweglich. Es stimmt allerdings, daß das Bewußtsein von dieser Beweglichkeit eine relativ späte Errungenschaft in der intellektuellen und kulturellen Entwicklung darstellt. Das primitive Denken gelangt nur selten dorthin. Es betrachtet das Symbol als eine Eigenschaft des Dinges, ähnlich den anderen Eigenschaften, die es besitzt. Im mythischen Denken ist der Name eines Gottes fester Bestandteil des Wesens dieses Gottes. Wenn ich den Gott nicht mit seinem richtigen Namen anrufe, bleibt der Zauber oder das Gebet wirkungslos. Das gleiche gilt für symbolische Handlungen. Ein religiöser Ritus, ein Opfer müssen immer auf dieselbe unveränderliche Weise und in derselben Abfolge ausgeführt werden, wenn sie Wirkung haben sollen.“ (ebd. S.65, Hervorhebung im Original)
Neben Ernst Cassirer beschäftigte sich zeitgleich der französische Ethnologe Claude Gustave Lévi-Strauss intensiv mit dem Verhältnis zwischen Mythos und Tod. Lévi-Strauss, der den strukturalistischen Ansatz in der Völkerkunde begründete, untersuchte das mythische Denken verschiedenster Kulturen81 unter dem Fokus einer gültigen Allgemeinstruktur. In seiner strukturalen Anthropologie geht Lévi-Strauss von analogen Mustern in den Kulturen und Sprachen der Menschheit aus. Um seine These zu belegen, untersucht er die Verwandtschaftssysteme schriftloser Völker, um das seiner Ansicht nach allem menschlichen Denken zugrunde liegende „strukturelle Unbewusste“ zu entschlüsseln. Für Lévi-Strauss haben Mythen die Funktion einer Erklärung für den Ursprung des Todes. Für ihn setzt die Idee des Lebens die Idee des Todes voraus, das lebendige Ding stellt im Analogschluß das Ding, das nicht tot ist, dar. Nach Lévi-Strauss bemüht sich die Religion, die voneinander abhängigen Vorstellungen des Lebens und des Todes zu trennen. Die Struktur des Mythos läßt sich am Bild eines generationsübergreifenden Kommunikationsmodells deutlich machen. Der Mythos enthält eine Nachricht, die von den „Novizen der Gesellschaft, welche die Mythen zum erstenmal hören“ empfangen wird, um damit als Träger einer Tradition der Ahnen zu fungieren. Als „Sender“ der Botschaft lassen sich die Ahnen (A), als „Empfänger“ die kontemporäre Generation (B) bezeichnen (vgl. Leach 1991, S.70f.). Der strukturalistische Mythosbegriff Levi-Strauss‘ geht von der These aus, daß es eine übergeordnete Struktur hinter den Mythen gebe und „daß der Zusammenhang zwischen logischer Struktur und emotionaler Reaktion überall nahezu gleich sei – weil die Natur des Menschen überall gleich sei.“ (ebd. S.142) In Das wilde Denken82 grenzt Lévi-Strauss das mythische Denken vom herkömmlichen Wissenschaftsverständnis eindeutig ab. Er beschreibt das mythische Denken als eine andere, als eine „erste“ Wissenschaft und spricht von einer „Wissenschaft vom Konkreten“. Die Wichtigkeit der Mythen und Riten sieht er darin begründet, daß diese in ihrem Bedeutungsgehalt auch noch (nach-) wirken, ihr Hauptwert liegt
„[...] darin, Beobachtungs- und Denkweisen, wenn auch nur als Restbestände, bis heute zu erhalten, die einer bestimmten Art von Entdeckungen angemessen waren (und es ohne Zweifel bleiben werden): jenen Entdeckungen, die die Natur zuließ, unter der Voraussetzung der Organisation und der spekulativen Ausbeutung der sinnlich wahrnehmbaren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren. Diese Wissenschaft vom Konkreten mußte ihrem Wesen nach auf andere Ergebnisse begrenzt sein als die, die den exakten Naturwissenschaften vorbehalten blieben; aber sie war nicht weniger wissenschaftlich, und ihre Ergebnisse waren nicht weniger wirklich. Zehntausend Jahre vor den anderen erworben und gesichert, sind sie noch immer die Grundlage unserer Zivilisation.“ (Lévi-Strauss 1968, S.29)
Um den Aufbau des mythischen Denkens besser verstehen zu können, zieht Lévi-Strauss den Vergleich zum technischen und handwerklichen Basteln heran. Mit dem französischen Begriff der Bricolage beschreibt er die Mythenbastelei analog dem improvisierenden technischen Bastelvorgang. Die Bricolage-Definition verweist darauf, daß Einzelelement und Gesamtheit in einem spezifschen Kontext stehen; als „Werkzeuge“ sind sie innerhalb eines bestimmten Typus beliebig wandelbar.83 Mit Hilfe der zeichentheoretischen Terminologie beschreibt er die Bricolage als Prozeß der Dekonstruktion und Neukonstruktion, in dem eine Neubestimmung von Bedeutung festgeschrieben wird:
„Das Zeichen ist, ganz wie das Bild, etwas Konkretes, aber es ähnelt dem Begriff durch seine Fähigkeit des Verweisens: beide beziehen sich nicht ausschließlich auf sich selbst, sie können für anderes stehen. Doch besitzt der Begriff in dieser Hinsicht eine unbegrenzte Fähigkeit, während die des Zeichens begrenzt ist. Die Verschiedenheit und die Ähnlichkeit sind deutlich an dem Beispiel des Bastlers zu erkennen. Sehen wir ihm beim Arbeiten zu: Von seinem Vorhaben angespornt, ist sein erster praktischer Schritt dennoch retrospektiv: er muß auf eine bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen und Materialien zurückgreifen, eine Bestandsaufnahme machen oder eine schon vorhandene umarbeiten; schließlich und vor allem muß er mit dieser Gesamtheit in eine Art Dialog treten, um die möglichen Antworten zu ermitteln, die sie auf das gestellte Problem zu geben vermag. Alle diese heterogenen Gegenstände, die seinen Schatz bilden, befragt er, um herauszubekommen, was jeder von ihnen ‚bedeuten‘ könnte. So trägt er dazu bei, ein Ganzes zu bestimmen, das es zu verwirklichen gilt, das sich aber am Ende von der Gesamtheit seiner Werkzeuge nur durch die innere Disposition der Teile unterscheiden wird.“ (ebd. S.31)84
In der Mythen-Bricolage sind die konstituierenden Einheiten des Mythos durch ihre sprachliche Herkunft bereits mit Sinn besetzt und dadurch in ihrer kombinatorischen Eigenschaft begrenzt, ähnlich – um im Bild des technischen Bastlers zu bleiben – wie dieser die Verwendung der gesammelten Materialien von deren Qualität abhängig machen muß. In der unterschiedlichen Herangehensweise an die Materialien sieht Lévi-Strauss die Unterscheidung zwischen dem Professionellen (dem Ingenieur) und dem Amateur (dem Bastler); der Ingenieur arbeitet bereits mit Begriffen, während der Bastler mit Zeichen operiert. Das Zeichen grenzt sich gegenüber dem Begriff, der nach Lévi-Strauss „in bezug auf die Wirklichkeit vollständig transparent sein will“ ab, das Zeichen „fordert, daß diese Wirklichkeit in einem bestimmten Maße durch den Menschen geprägt ist.“ (ebd. S.33) Es handelt sich also in der unterschiedlichen Wahrnehmung der Botschaften um eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Natur und Kultur und um eine divergierende Wirklichkeitsdefinition.

Einige Interpretationslinien Lévi-Strauss‘ und Cassirers ähneln der Mythenforschung Carl Gustav Jungs. Auch in der analytischen Psychologie Jungs ist die Auseinandersetzung mit der Symbolsprache als Ausdruck eines persönlichen und kollektiven Unbewußten von zentraler Bedeutung. Jung definiert das kollektive Unbewußte als „die gewaltige geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung, wiedergeboren in jeder individuellen Hirnstruktur.“ (Jung, Bd.8, 1971, S.183) Für Jung wird die psychische Grundstruktur epochen- und kulturübergreifend von archaischen Motiven bestimmt. Aus seiner Beschäftigung mit Mythen und Religionspsychologie leitet er den Archetypus ab:


„Der Begriff des Archetypus, der ein unumgängliches Korrelat zur Idee des kollektiven Unbewußten bildet, deutet das Vorhandensein bestimmter Formen in der Psyche an, die allgegenwärtig oder überall verbreitet sind. [...] Das kollektive Unbewußte entwickelt sich nicht individuell, sondern wird vererbt. Es besteht aus präexistenten Formen, Archetypen, die erst sekundär bewußt werden können und den Inhalten des Bewußtseins festumrissene Form verleihen.“ (Jung, Bd. 9/1, 1976, 55f., Hervorhebung im Original)
Archetypen sind seiner Meinung nach also jene archaischen Urbilder, die sich vom Unbewußten tradiert bis in die Gegenwart halten. Als mythologische Motive, die existentielle Urerfahrungen des Menschen wiedergeben, wirken sie in jedem Subjekt in unbewußter Form. Als Beispiele für Archetypen können Märchenfiguren wie Drachen und Kämpfer sowie Gestalten der antiken Mythenüberlieferung stehen.



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