Leitmotive im 20


Der menschliche und der göttliche Körper



Yüklə 428 Kb.
səhifə5/10
tarix15.10.2018
ölçüsü428 Kb.
#74167
1   2   3   4   5   6   7   8   9   10

3.2 Der menschliche und der göttliche Körper

Menschen- und Körperbilder korrespondieren mit den Gottesvorstellungen ihrer Epoche. So definierte sich der Mensch stets in Abgrenzung zu seinen Gottesvorstellungen. Die imaginierten Götter, respektive im Monotheismus der imaginierte Gott, wirken in einem reziproken Verhältnis auf die Vorstellung des Menschen zurück. Erst mit dem von Nietzsche proklamierten „Tod Gottes“ sollte die Rückwirkung des göttlichen Körpers auf den menschlichen Körper an Aussagekraft verlieren.



Christoph Wulf beschreibt in Der Körper der Götter85 die konstituierende Bedeutung der Verkörperung der Götter bzw. Gottes für jede Religion. Er sieht in der personifizierten Darstellung der Götter durch Menschen- und Tierkörper die „interessantesten Verkörperungen menschlicher Einbildungskraft“. Die „Verkörperungen des Göttlichen“ werden überdies zum Pfeiler „der religiösen Vorstellungen, Sehnsüchte und Wünsche des Menschen“, der sich in seinem Denken und Fühlen auf diese beziehen kann. Gleichzeitig muß der transzendente Charakter Gottes bewahrt werden, denn der menschliche Körper unterscheidet sich vom göttlichen vor allem durch seine Vergänglichkeit. Der göttliche Körper ist unsterblich oder besitzt die Fähigkeit zur Wiedergeburt in einen anderen Körper, die einzige Form menschlicher „Unsterblichkeit“ liegt im kollektiven Gedächtnis, der Erinnerung anderer an das Leben und die Taten des verstorbenen Individuums. Der menschliche Körper – im Gegensatz zum transzendenten, allgegenwärtigen, göttlichen Körper – zeichnet sich durch (seine) Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Lokalisierung im Hier-und-Jetzt aus. Der göttliche Körper artikuliert sich in Zeichen, „Worte, Bilder, Riten, verweisen auf seine Andersheit“ oder in der Verkörperung durch die Physis „ausgewählter Menschen, durch die er seine Wirkungen entfaltet.“ Im monotheistischen Judentum existierte das Verbot der Gottesdarstellung, Gott wurde zu dem Anderen, „von dem sich der Mensch keine Bilder machen kann“, denn Gott sollte in seiner Allmacht anerkannt und nicht mit dem Menschen – in einer körperlichen Abbildung – verglichen werden.86 Als weiteres Exempel führt Wulf die christliche Vorstellung des Gotteskörpers an. In der monotheistischen Religion des Christentums verweist „die Inkarnation Gottes, die Fleischwerdung des Wortes [...] auf einen vom Geist durchdrungenen Körper“ (vgl. Wulf 1989, S.11-18). Der Mensch als das Ebenbild des Schöpfers deutet mit seinem Körper auf die Nähe zu Gott hin. Die Würde, die dem menschlichen Körper im Christentum zukommt, entfaltet sich – nach Christioph Wulf – allein im „sozialen Körper“, denn
„[d]er einzelne Mensch bedarf des Anderen. Ohne ihn kann er sein Potential nicht entwickeln. Zudem bedarf die menschliche Gattung der körperlichen Vereinigung der Menschen, um weiterleben zu können. Auch diese Voraussetzungen menschlicher Existenz finden im Christentum ihre Transzendierung im Hinblick auf Gott und seine Verkörperung im Menschen.“ (ebd. S.18)
Dem menschlichen Körper kommt im Christentum zwar eine höhere Würde, gleichzeitig aber auch das Leiden zu, er bedarf der Erlösung, die allein durch Gott erfolgen kann. Im Ritual des Abendmahls, der Eucharistie, wird die Bedeutung des Erlösungsopfers Christi in seiner symbolischen Wiederholung deutlich,
„[h]ier erfolgt die Einverleibung des Körpers und des gekreuzigten Gottes in die Körper der Gläubigen. Wenn Gott in dieser Handlung körperlich abwesend ist und seine Gegenwart den an dieser Handlung teilnehmenden Gläubigen erfahrbar macht, bedarf es keiner Opfer, um Gott zu erreichen. Im Abendmahl wird an einen abwesenden göttlichen Körper erinnert, der dadurch anwesend und zugleich Zeichen für seine Abwesenheit und eine nicht ausstehende Gegenwart wird.“ (ebd. S.17f.)
Auffällig erscheint die Verkörperung der Götter in Tierkörper und Mischwesen, wie sie im Alten Ägypten üblich war. Religion und Jenseitsglauben waren dort sehr ausgeprägt und es existierten heterogene und höchst unterschiedliche Verkörperungen der Götter. Aus der alten Fellachenreligion der prähistorischen Zeit mit vielen ortsgebundenen tiergestaltigen Göttern transformierte sich eine Sonnenreligion mit wenigen Universalgottheiten, die den König in das Göttersystem einbezog. Der Weltschöpfer Amun87, der später mit dem Sonnengott Re gleichgesetzt wurde, stellte den obersten Gott dar. Vor allem im Osiris-Kult wird deutlich, daß die Ägypter an ein Fortleben der Toten glaubten. Der Unterweltskönig Osiris hält Gericht über die Toten, wägt das Tun der Menschen ab. Die Toten, die in die Unterwelt eingehen sollen, bedürfen der Opfergaben. In der Vorstellung der Ägypter wohnten ihre Götter wahlweise im Himmel oder in der Unterwelt. Damit sie auf der Erde einen Platz einnehmen konnten, bauten die Ägypter ihnen Tempel, zu denen nur ausgewählte Menschen – die Priester – Zugang hatten.88
Der antike römische Dichter Ovid erklärt im ersten Buch der Metamorphosen, einer Sammlung, die 250 Verwandlungssagen aus der griechischen und italischen Mythologie beinhaltet, die Entstehung der Welt und des Menschen – ähnlich wie es die Schöpfungsgeschichte in der Bibel beschreibt – als Schöpfungsakt. Zuerst wurden Himmel und Erde erschaffen, dann wurde diese mit Tieren belebt:
„Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese, fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und imstande, die übrigen zu beherrschen. Es entstand der Mensch, sei es, daß ihn aus göttlichem Samen jener Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren Welt, sei es, daß die junge Erde, erst kürzlich vom hohen Äther getrennt, noch Samen des verwandten Himmels zurückbehielt; diese mischte der Sproß des Iapetus mit Regenwasser und formte sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter.“ (Ovid 1988, S.11)
Der Mensch wird als Ebenbild der Götter geschaffen, um fortan über das Erdenreich zu herrschen. Ovid will die Metamorphosen, die Verwandlungen der Götter in „neue Körper“ beschreiben, die „vom allerersten Ursprung der Welt“ bis zu seiner eigenen Zeit im ersten Jahrhundert reichen, um sie mit seiner Dichtung für die Nachwelt festzuhalten. Die griechische Mythologie umfaßt eine Vielzahl von Göttern, unter denen die Olympier89 die Hauptgötter darstellen. Festgehalten wurden die zahlreichen Mythen in den Sammlungen von Hesiod (die Theogonie) und Homer90 (die Ilias und die Odyssee), der mit seiner Überlieferung des antiken Menschen- und Götterbildes großen Einfluß auf die nachfolgende Philosophie und Literatur hatte. Im Gegensatz zu den Verkörperungsformen Gottes in den monotheistischen Religionen und zu den Tierdarstellungen im Alten Ägypten sind die homerischen Götter der griechischen Antike den Menschen in Körper und Charakter ähnlich. Der Körper der griechischen Götter zeichnet sich jedoch auch hier durch das Merkmal der Unvergänglichkeit aus, es handelt sich somit um einen – dem menschlichen Körper – prävalenten Körper:
„Hier haben die Götter einen unvergänglichen Körper und unsterbliches Blut; sie essen kein Brot und trinken keinen Wein; sie sind nüchtern, berühren nicht das Fleisch der geopferten Tiere, sondern behalten für sich lediglich die Gerüche, die von den Opfergaben zum Himmel steigen. Der Körper der Götter ist ein überlegener Körper ohne Begrenzungen und Angewiesenheit auf außen; er verkörpert die Fülle und zeigt dadurch die Unterlegenheit des menschlichen Körpers.“ (Wulf 1989, S.14f.)
Das antike Theater basierte auf rituellen Kulthandlungen und kann nur vor diesem kultischen Hintergrund interpretiert werden. Die ersten Tragödien wurden im griechischen Theater91 zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt und setzten sich thematisch mit dessen Schicksal auseinander. Der Dionysos-Kult entstand zu Ehren des gewaltsam ermordeten, dann wieder auferstandenen und damit unsterblichen Gottes Dionysos, der sowohl in der griechischen als auch nachfolgend in der römischen Mythologie – als Gott des Weines und der Ekstase Bacchus – verehrt wurde. Zu seinem Gedenken wurden exzessive Tanz- und Trinkfeste gefeiert. Im Stadtstaat Athen wurde die Festfolge zu Ehren des Dionysos als Dionysien bezeichnet. So fand ein ausgelassener Umzug, der unserem heutigen Karneval ähnelt, statt und im sogenannten Satyrspiel traten im Gefolge des Dionysos „bocksbeinige Waldwesen“ – die Satyrn – auf.92 Die Sage um Dionysos und Apollon, den Gott der Musik und der Weissagung93, wird von antiken Autoren nicht einheitlich, vielmehr in Variationen wiedergegeben. Christoph Wulf gibt einen pointierten Überblick über die divergierenden Mythen, die sich im Kern jedoch gleichen:
„Angeregt von der eifersüchtigen Hera zerreißen die Titanen das Kind Dionysos; sein Körper soll gekocht, gebraten und anschließend verzehrt werden. Doch dies lassen Athene und Zeus nicht zu. Athene rettet das Herz des Kindes [...]; und Zeus vernichtet die Titanen mit seinem Blitzstrahl und überantwortet die Glieder des Dionysos dem Apollon, damit er sie begrabe. Nun weichen die Erzählungen voneinander ab. Nach dem Bericht des Clemens von Alexandria begrub Apollon den zerstückelten Leichnam, den zwar die Titanen nicht angerührt hatten, der jedoch die Sterblichkeit dieses Gottes bewies. [...] Anders lautet hier die Erzählung des epikureischen Philosophen Philodemos, der Euphorion von Chalcis aus dem 3. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung zitiert. Hiernach werden die Glieder des Dionysos durch die Göttin Rhea, deren Namen das Fließen des Weines bedeutet, zusammengesetzt und zum Leben erweckt. Dionysos wird in dieser Tradition mit dem Weinstock und dem Wein identifiziert. So findet eine Metamorphose und Auferstehung seines zerstückelten Körpers statt, die der Unsterblichkeit der Götter Rechnung trägt. Wieder anders ist die Erzählung Olympiodors akzentuiert. Nach ihr vergräbt Apollon nicht den zerrissenen Körper des Dionysos in der Erde des Parnass, sondern er setzt ihn wieder zusammen. Damit wird er seinem Namen A-Pollon (nicht viele) gerecht, der Ausdruck seiner Fähigkeit ist, eine Einheit zu stiften. Während in der Erzählung des Clemens von Alexandria Apollon die Vernichtung des Dionysos durch das Begräbnis seines zerstückelten Körpers fortsetzt, hebt Apollon in der Erzählung des Olympiodors die Tat der Titanen wieder auf, erweckt ihn zum Leben und gibt seinem Körper eine Einheit und Integrität. Damit erfolgt eine Wiedergeburt des Gottes in einer neuen Gestalt.“ (ebd. S.16, Hervorhebung im Original)
Dionysos wird durch das Verbrechen der Titanen in seiner Ganzheit zerstört, als eher leidende, passive Figur steht er für Auflösung, Fragmentierung und Metamorphose des Körpers. Dem aktiven Apollon wird die Kraft zugeschrieben, die Vielgestaltigkeit zugunsten einer neuen Integrität aufheben zu können. Eine Wiederherstellung des alten Körpers ist nicht möglich, das Ergebnis ist ein neuer Körper, ein „apollinischer“ Dionysos, der nur auf die ursprüngliche Gestalt verweisen kann (vgl. ebd., S.17). Jan Kott bezieht die strukturelle Gleichartigkeit aller Dionysosmythen auf die Übereinstimmung der Motive Wahnsinn, mystische Trance und Kindesmord. Die Ermordung und Zerstückelung94 des Sohnes interpretiert er als religiöses Opferritual:
„Der Mord besteht in einer Zerstückelung (Sparagmos) des Opfers; er hängt eng mit dem Verzehr von rohem Fleisch zusammen (Omophagia). In seiner Grundstruktur ist dieses Motiv kein Mythos, vielmehr handelt es sich hier um ein bestimmtes Ritual, das Ereignisse wiederholt und in Erinnerung ruft [...]. Die Zerstückelung des Dionysos [...] ist Ausdruck [...] der ewigen Erneuerung, des Todes, der Wiedergeburt, des Chaos und des Kosmos [...] die Fruchtbarkeit (kann) sich nur einstellen durch eine neuerliche Vereinigung von Himmel und Erde. Aus der Hierogamie geht ein Sohn oder (gehen) Söhne des Gottvaters hervor. Die Mutter ist entweder die Erde oder eine Sterbliche, die in der Folgezeit zur Großen Mutter wird. Der Sohn Gottes wird getötet, zerstückelt, und sein Körper dient zur Nahrung. Die verstreuten Teile seines Körpers werden wieder zusammengefügt, der Sohn Gottes ersteht zu neuem Leben, er steigt ins Reich der Toten hinab und geht mit seiner Mutter in den Himmel ein.“ (Kott 1975, S.17f. zit. n. Kamper 1982, S.129)

Die „Wiederholung der Passion und der Opferung des Gottessohnes“ als „Heilsgarantie“, die von Kott als wesentliches Element des Dionysos-Mythos herausgearbeitet wird, zeigt deutlich die Analogie zum Christentum. (ebd.) Es erscheint offensichtlich, daß die christliche Legendenbildung an die griechische Mythologie anknüpft und den Dionysosmythos variiert. Der christliche Glaube von Tod und Auferstehung steht damit in der Tradition des Dinoysoskultes, auch die Motive Brot und Wein – anstelle von Fleisch und Blut – stimmen überein.95 Tod und Wiedergeburt können als Motive des menschlichen Schöpfungsaktes und der Initiation gesehen werden. Initiationen markieren Übergänge in signifikanten Lebensphasen wie Geburt, Pubertät, Hochzeit und Tod, sie stellen die Trennung vom alten und die rituelle Einführung in den neuen Lebensabschnitt dar.96 Bei (archaischen) Übergangsriten wie Pubertätsriten hat die Symbolik von Sterben und Wiedergeburt eine signifikante Bedeutung. Die Kindheit ist tot, die Zeit der Geschlechtslosigkeit verlassen, ein neues Lebens kann beginnen. Der rumänische Religionsphilosoph und vergleichende Religionswissenschaftler Mircea Eliade stellt diesen Zusammenhang eindrücklich dar:


„[...] dieses Ende (mort) der Kindheit, der Geschlechtslosigkeit und der Unwissenheit, kurz, des profanen Daseins, ist die Veranlassung für eine totale Regeneration des Kosmos und der Gemeinschaft. Man wiederholt die schöpferischen Taten der Götter, der kulturbringenden Helden, der mythischen Ahnen, und dadurch bewirkt man ihre erneute Gegenwart und Wirksamkeit auf der Erde. Der mystische Tod der Kinder und ihr Erwachen in der Gemeinschaft der initiierten Männer sind folglich ein Teil einer großartigen Wiederholung der Kosmogonie, der Anthropologie und aller ‚Schöpfungsakte‘, welche die Urepoche, die ‚Traumzeit‘ charakterisierten. Die Initiation ist eine Zusammenfassung der heiligen Geschichte des Stammes, also letzten Endes der heiligen Geschichte der Welt.“ (Eliade 1961, S.45 zit. n. Kamper 1982, S.130)
3.3 Vom Lärm der Totengräber: Nietzsche
3.3.1 Die dionysische Kultur
Friedrich Nietzsche, dessen Denkmodelle stark von der griechischen Philosophie Platons und Aristoteles’ sowie von Arthur Schopenhauer und der Evolutions-theorie geprägt war, wirkte bestimmend auf die nachfolgende Literatur sowie Geisteswissenschaft der Moderne. Beeinflusste er in der deutschen Literatur namhafte Autoren wie Gottfried Benn, Hermann Hesse, Karl Kraus, Robert Musil, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig, um nur einige zu nennen, so kann in der Philosophie und Psychologie seine elementare Wirkung in der Existenzphilosophie und in der Psychoanalyse von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung verfolgt werden. Neben deutschen Philosophen wie Martin Buber, Martin Heidegger und Karl Jaspers u.a., beschäftigte sich gerade auch die französische Philosophie und Literatur intensiv mit Nietzsche, so erfolgte etwa bei Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Georges Bataille, Michel Foucault und Jacques Derrida eine intensive Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedankengut, das sich in den Ansätzen der modernen und postmodernen Autoren deutlich widerspiegelt.
Religion, Wahnsinn und Kunst stehen für Friedrich Nietzsche allesamt als mögliche Formen der Metamorphose dionysischer Energien. Nietzsche geht davon aus, daß die Dionysoskultur die Keimzelle des griechischen Dramas darstellt. Der Dionysoskult war nicht nur in der griechischen, vielmehr in zahlreichen Kulturen zu finden, wenngleich sich in der Ausprägung starke Differenzen zeigen. Dennoch, es lassen sich signifikante Übereinstimmungen aufweisen, die sich in erster Linie auf die Momente des Rausches, der Ausschweifung und der Geschlechtlichkeit beziehen. Nietzsches Kulturbegriff, den er in Die Geburt der Tragödie97 entwickelt, basiert auf dem Spannungsverhältnis zweier Grundtriebe, die er nach den griechischen Göttern Apollon und Dionysos nennt. Apollon und Dionysos bezeichnen für Nietzsche nicht nur die „Kunsttriebe der Natur“, die das an sich grausame Dasein erträglich machen, sondern das Gegensatzpaar determiniert generell den Menschen in seinem Menschsein, der Mensch ist für ihn ein dissonantes Wesen. Somit lassen sich aus den künstlerischen Stilmerkmalen die bestimmenden metaphysischen Lebensmächte ableiten. Die dionysische Kraft braucht den Gegenpol des Apollinischen, es darf „von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann“. (Nietzsche, KSA 1, S.155) Nietzsche gebraucht den Ausdruck des Dionysischen nicht stringent. Für ihn ist sowohl die „absolute Wirklichkeit“ das Dionysische als auch das „Barbarische“, „vorzivilisatorische Gewalt- und Sexualexzesse“ wie das „Unterzivilisatorische der Triebhaftigkeit“. Doch, folgen wir der Analyse Rüdiger Safranskis in dessen jüngst erschienenem Werk Nietzsche. Biographie seines Denkens98, so impliziert der Begriff des Dionysischen bei Nietzsche stets „eine theoretische Entscheidung, die ihrerseits auf eine Grunderfahrung zurückgeht. Bereits für den jungen Nietzsche ist das Sein etwas Bewegtes, bedrohlich und verlockend zugleich.“ Für Safranski bleibt die „kulturhistorische bzw. anthropologische Verwendung des Begriffs“ bei Nietzsche „bezogen auf seine ontologische und metaphysische Kernbedeutung“ konstant, mit dem Dionysischen wird das „Ur-Eine“, das „nicht begreifbare umgreifende Sein“ bezeichnet (vgl. Safranski 2000, S.72f.).

Nietzsches Untersuchungsgegenstand der Kultur ist die antike griechische Tragödie. Ihm gilt die antike griechische Kultur insgesamt als gelungene, elitäre Hochkultur, die von ihm bewundert, gar verklärt wird. Er definiert den Ursprung der griechischen Tragödie „aus dem Geiste der Musik“99, erwachsen aus einem tief empfundenen Gefühl der Hoffnungslosigkeit. So schreibt er in der Abhandlung Die dionysische Weltanschauung: „Die Tragödie, aus der tiefen Quelle des Mitleidens entstanden, ist ihrem Wesen nach p e s s i m i s t i s c h. Das Dasein ist in ihr etwas sehr Schreckliches, der Mensch etwas sehr Thörichtes.“ (Nietzsche, KSA 1, S.546, Hervorhebung im Original)



Rüdiger Safranski weist in seiner Rezeption mit Recht darauf hin, daß Nietzsche im Gegensatz zur zeitgenössischen Altphilologie den Interpretationsrahmen sprengt, indem er sich in das „Delirium“ der Dionysos-Feste hineinversetzte. So beschreibt Nietzsche
„[...] die Ekstasen und Exzesse der aufgewühlten, begeisterten Menge. Er vergleicht sie mit den St. Veitstänzen des Mittelalters, die von manchen Gelehrten als Volksseuche bezeichnet werden. Wie unrecht sie mit dieser despektierlichen Beurteilung haben, zeige sich eben darin, daß in der Antike diese sogenannte Volksseuche, der dionysische Festexzess also, das griechische Drama entstehen ließ und ihm seine Kraft gab. [...] Wie aber führen Exzess und Ekstase zur Tragödie auf der Bühne? Nietzsche schildert den Vorgang in seinen einzelnen Phasen. Im Rausch verliert der Einzelne das Bewußtsein seiner Individualität; er geht in der erregten Festmasse auf, verschmilzt mit ihr. In diesem erregten Kollektivkörper zirkulieren Visionen und Bilder, mit denen sich die zur Einheit verschmolzenen Einzelnen gegenseitig anstecken. Die dionysischen Schwärmer glauben, dasselbe zu sehen und zu erleben. Dann aber und jedesmal wieder kommt der Augenblick des Erwachens aus diesem Taumel, und jedermann fällt zurück in seine Vereinzelung. Das ist der schwierige und riskante Übergang in die Ernüchterung, ein Übergang, der eine rituelle Begleitung und Abstützung verlangt. Die Aufführung der Tragödie am Ende der dionysischen Feste ist nichts anderes als dieses Ritual des Übergangs aus dem kollektiven Taumel ins alltägliche Leben der Stadt.“ (Safranski 2000, S.53, Hervorhebung im Original)
Bereits in seinem ersten öffentlichen Vortrag über die griechische Tragödie mit dem Titel Das griechische Musikdrama hebt Nietzsche die tragende Bedeutung der Musik hervor.100 Der Musik kommt im griechischen Musikdrama die Aufgabe zu, durch ihre Unmittelbarkeit direkt auf das Gefühlsleben der Zuhörer zu wirken, die Musik dient hierbei als Mittel zum Zweck, das Wort, die Poesie, wird durch das Erzeugen von Empfindungen, unterstützt und ergänzt. Auch in dem sich anschließenden Werk Die Geburt der Tragödie thematisiert Nietzsche ausführlich die Bedeutung und Wirkung der dionysischen Musik. Deutlich betont er die symbolischen Kräfte der Musik, die durch Rhythmik, Dynamik und Harmonie transportiert werden:
„Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!“ (Nietzsche, KSA 1, S.33f.)
Für Nietzsche bezeichnet die „dionysische Weisheit“ letztlich „die Kraft, die dionysische Wirklichkeit auszuhalten“, den Ekel wie „eine nie gekannte Lust“. Nach der dionysisch-erhabenen Erfahrung der Grenzenlosigkeit, wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, „wenn das Alltagsbewußtsein wieder Herr über das Denken und Erleben wird, dann überkommt den ernüchterten Dionysiker ein Ekel“, ein unerträgliches Entsetzen, ein Leiden am Sein. (Safranski 2000, S.73)101 Der dionysische Mensch leidet an seinem Leben und an der Welt, denn – so Nietzsche – „[i]n der Bewusstheit der einmal erschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins“, er beginnt zu leiden. (Nietzsche KSA 1, S.57)

Die dionysische Kunst hat den Rausch, die Gewalt und die Destruktion zum Bezugspunkt. Damit gehören das dionysische Element und der Krieg gedanklich zusammen.102 „Der kriegerische Aspekt des Dionysischen“ wird durch die „kulturellen Umgestaltungen durch Ritualisierung und Sublimierung“ transformiert. So deutet Nietzsche den antiken Wettkampf – eine wichtige Institution der antiken Kultur – als Beispiel für eine derartige „kulturelle Metamorphose“. Die „kriegerische Grausamkeit“ wird in der griechischen Kultur durch einen „Wettkampf, der überall stattfindet, in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Kunst“ auf positive Weise sublimiert. Nietzsche geht hier von einem „Konzept der Umwandlung des Krieges in den Wettstreit“ gleichwie von der „Umwandlung dionysischer Energien in eine lebbare apollinische Form“ aus. Die „Gefahr, daß in den apollinischen Formen die dionysische Energie erlischt“, wird dadurch gebremst, daß zyklisch „ihr furchtbarer Untergrund hervorbricht und wie die Lava eines Vulkans, das Erdreich erneuert zu womöglich größerer Fruchtbarkeit.“ Somit interpretiert Nietzsche den „militärischen Genius“ positiv in seiner Funktion als kulturschöpferische Macht. Nietzsche deutet seine Idee der „Kulturnotwendigkeit von Krieg und Sklaverei“ in Die Geburt der Tragödie nur an, indes werden diese Gedanken in seinen Aufzeichnungen deutlich formuliert (vgl. Safranski 2000, S.61ff.). Nietzsches Kriegsverherrlichung zugunsten der Kulturentwicklung und sein Verfechten der griechischen Sklavenkultur behaften seine – im Kern denkrichtige kulturelle Auseinandersetzung – mit einem negativen Beigeschmack. Er spricht sich eindeutig gegen soziale Gerechtigkeit, gegen das Ideal der Gleichheit und damit gegen eine demokratische Kultur aus. Für Nietzsche ist die Kultur ihrem Wesen nach ungerecht und grausam, wie die Welt per se als ungerecht und grausam gedeutet werden muß. Der Mensch leidet an sich selbst, empfindet das Dasein als schmerzvolle Last. Es handelt sich hierbei um ein Leiden an der „Wunde des Daseins“, das zu unterschiedlichen Formen der Verarbeitung bzw. des Wunsches, zu flüchten, führt, ein Leiden, das gleichsam den Ursprung für Religion, Wahnsinn und Kunst darstellt.



3.3.2 Der ‚Tod Gottes‘
Nietzsches philosophischer Grundgedanke vom „Tod Gottes“ stellte nicht nur die Ausgangsbasis für seine nachfolgenden Ideen der „ewigen Wiederkehr“ und des „Übermenschen“ dar, sondern er dient gleichsam der modernen und postmodernen Subjektphilosophie als elementare Bezugsquelle. Ausgehend von Nietzsches These vom „Tod Gottes“ kann die Auflösung des Körpers wie des Subjekts abgeleitet werden, Auflösungsprozesse, wie sie überdeutlich am Ausgang des 20. Jahrhunderts abgelesen werden können. Der menschliche Körper, der sich vom transzendenten göttlichen Körper durch seine Sterblichkeit abgrenzt, befindet sich mit dem „Tod Gottes“ im Prozeß der Auflösung. Es handelt sich hierbei um eine Entwicklung, die sich im philosophischen wie im gesellschaftlichen Umgang mit der Endlichkeit des Körpers, mit dem Tod, deutlich widerspiegelt. So beschreibt etwa Christoph Wulf die „neue Unübersichtlickeit“ in Folge des Verlustes des alten Menschenbildes im Resultat als Ende jeder Körper-Subjekt-Einheit:
„War der göttliche Körper Garant der Individualität und Einheit des menschlichen Körpers, so ist mit dem Erlöschen dieser Garantie nach dem ‚Tode Gottes‘ die Fragmentarisierung des Körpers und der Subjekte unaufhaltbar. Sie beinhaltet ein Zerbrechen der Einheit des Körpers und des Subjekts; eine neue ‚Unübersichtlichkeit‘ ist die Folge. In jedem seiner Teile werden sich Körper und Subjekt heute ähnlich. [...] Die menschlichen Körper sind atomisiert und mit ihnen das Bewußtsein. Jeder Teil hat seinen eigenen Bezugs- und Referenzrahmen. Jeder Splitter enthält das ganze Universum. Eine Situation ist entstanden, in bezug auf die man ‚vom Tod des Menschen‘ sprechen kann und die auf das Versagen des mit dem Begriff ‚Mensch‘ im empathischen Sinne bezeichneten Anspruchs verweist.“ (Wulf 1989, S.20)
Nietzsches philosophische These vom „Tod Gottes“ führt somit unmittelbar zum gegenwärtigen Diskurs um den „Tod des Subjekts“. Die Stelle, die Gott einst einnahm, bleibt markiert, der Mensch kämpft nun „mit jener Leere, die der tote Gott hinterläßt.“ (Bürger 1998, S.12) Bereits in der Rede des „tollen Menschen“ aus Die fröhliche Wissenschaft103 steht das Bild der Schwerelosigkeit symbolisch für das Fehlen jeglicher Daseins- und Handlungsorientierung nach dem „Tod Gottes“:
„Was thaten wir, als wir diese Erde von der Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! [...]Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‘ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.“ (Nietzsche, KSA 3, 480f.)
Die Aussagen Nietzsches, die dem „tollen Menschen“ in den Mund gelegt werden, überraschen durch ihre Prägnanz und den prognostischen Charakter für die Moderne. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts verweist Nietzsche in diesem geschichtsphilosophischen Schlüsseltext auf kommende Entwicklungen, der „tolle Mensch“ wird somit zu einer symbolhaften Figur für das 20. Jahrhundert. Fatalerweise verbringt auch Nietzsche seine letzten Lebensjahre im Wahnsinn, bis er im Jahre 1900 stirbt. Mit der Aussage „Ich komme zu früh, [...], ich bin noch nicht an der Zeit“ ist der „tolle Mensch“ – und mit ihm Nietzsche – seiner Zeit voraus ist. Gott ist tot und diesem Tod entspricht die Metapher der Zerstörung der Laterne. Die erloschene Laterne symbolisiert die neue Situation des Menschen „in der Nacht der Gottesfinsternis“, die zersprungene Laterne verweist als Bild „auf den Wahnsinn und das Irre als der einzig legitimen Behausung des Geistes.“ (Ries 1985, S.99, Hervorhebung im Original) Nietzsches „Tod Gottes“ artikuliert sich auf der Ebene des Subjekts eher als Mangel denn als gewonnene Freiheit.104 Zu Beginn des dritten Buches in Die fröhliche Wissenschaft heisst es bereits: „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrhunderte lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“ (Nietzsche, KSA 3, S.467) Nietzsche knüpft hier an das platonische Höhlengleichnis an und verweist gleichzeitig darauf, daß die Auseinandersetzung des Menschen mit der Stelle, die Gott einst einnahm, zu dessen mühevoller Aufgabe wird. In seinem Werk Also sprach Zarathustra105 setzt er sich mit dem Zustand der Gottlosigkeit und daraus ableitbarer Konsequenzen für die Entwicklung der menschlichen Spezies auseinander. Seine Intention war es, mit einer unmittelbaren, bildhaften, prophetischen Sprache ein breites Publikum zu erreichen. Nietzsche selbst bezeichnet seinen Zarathustra als Stimme über Jahrtausende hinweg, er sieht seine vorausdeutende Kraft, ahnt seinen mutmaßlichen Einfluss, sieht sein Werk als ein Werk der Zukunft an. Der Name Zarathustra geht hierbei auf einen altpersischen Religionsgründer zurück, gleichfalls stammt das Bild vom „Tod Gottes“ aus der Religion. Die bildhafte Sprache des Zarathustra knüpft zweifelsohne an die Evangelien an, es handelt sich hier eindeutig um die Sprache der Religion. Walter Kaufmann weist in seiner Nietzsche-Interpretation106 darauf hin, daß zwar bereits die Philosophie Hegels den „Tod Gottes“ thematisierte, jedoch Nietzsche diesem alten Bild eine neue Bedeutung gebe. Kritisch sieht Kaufmann jedoch, daß Nietzsche voraussetzt, „daß Gott einst gelebt hat“ und daß es nunmehr keinen Gott mehr gibt. Diese These „scheint er als eine absolute Voraussetzung anzunehmen – und damit wären wir auf eine fragwürdige Annahme gestoßen, die er selbst nicht mehr angezweifelt hätte.“ (Kaufmann 1988, S.116)


3.3.3 Die Umwertung aller Werte
Nach dem „Tod Gottes“ muß sich der Mensch ändern, nichts kann mehr so bleiben, wie es war, denn Gott hat als „Grund von Wahrheit, Einheit und Sein“ seine Bedeutung verloren, „das überlieferte Denken als Gefüge von Ontologie, Logik, Grammatik und theologischer Metaphysik“ bricht somit in sich zusammen. (Ries 1985, S.50) Die Leerstelle Gottes muß nun neu besetzt werden, der Sinn des Lebens neu definiert, Moral und Werte auf einer anderen Grundlage bestimmt werden. In seiner Wertephilosophie geht es Nietzsche stets um die Problematik der Sinnvorstellungen in der neuen Epoche nach dem „Tod Gottes“. So unterscheidet er sich, wie es Kaufmann ausdrückt, von anderen naturalistischen Philosophen in zweilerlei Hinsicht:
„[...] erstens durch seine tiefschürfende Beschäftigung mit der Frage, ob allgemein gültige Werte und ein sinnvolles Leben in einer gottlosen Welt überhaupt möglich sind; zweitens durch seine leidenschaftliche Verachtung aller, die bestimmte Werte schon deswegen für gültig halten, weil sie zufällig von ihrer Religion, Klasse, Gesellschaft oder ihrem Staat hochgehalten werden.“ (Kaufmann 1988, S.119)
Ein dem Tod geweihtes, traditionelles Moralfundament basierend auf dem alten Glauben findet in der beginnenden modernen Gesellschaft keinen Ersatz. Mehr noch, Nietzsche diagnostiziert seine zeitgenössische Kultur als krankhafte und gefährdete. Der Terminus der Umwertung aller Werte beinhaltet bei Nietzsche weniger eine Festsetzung neuer Werte, als die radikale Absage an alle etablierten, es geht ihm um „eine Umdrehung herrschender Wertungen, die ihrerseits aus der Umkehrung antiker Wertungen entstanden waren.“ (ebd. S.129) Aus heutiger Sicht erscheint Nietzsches Auseinandersetzung mit der Werteproblematik auf bestechende Weise fortschrittlich, hier ist sicherlich auch eine Ursache für die zeitlose Popularität vieler Nietzsche-Texte zu finden.
„Nietzsche untersuchte die Frage, ob man Werte auch ohne übernatürliche Rechtfertigung aufrechterhalten könne, derart, daß er die Existenz Gottes ‚existentiell‘ in Frage stellte. Weil er sie tatsächlich in Frage gestellt hat, konnte er nicht so leichthin wie Lessing und Kant glauben, daß sich unsere alten Werte bewahren ließen, obwohl wir den alten Gott aus dem Reich des philosophischen Denkens verbannt haben. Schon in seinen Frühwerken beschäftigte ihn das Problem, ob sich Werte ohne Rückgriff auf die ‚ewige Vorsehung‘ oder auf die ‚Naturabsicht‘ aufrechterhalten lassen. [...] Nietzsche untersuchte zuerst ästhetische Werte – wohl deshalb, weil die moralischen Werte so eng mit transzendenten Rechtfertigungen verbunden gewesen sind – handele es sich dabei um Gott oder um Platons Idee des Guten.“ (ebd. S.149)
Der moderne Mensch jenseits des traditionellen Moralkonsens ist – wie es der spätere Nietzsche-Anhänger Jean-Paul Sartre formuliert – „zur Freiheit verdammt“, der Mensch kämpft nun mit dem Schatten des Verlorengegangenen. Über die scheinbare Freiheit bzw. das Gefahrenpotential der neuen Freiheit belehrt im Kapitel Vom Wege des Schaffenden Zarathustra einen Jünger:
„Frei wozu? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei w o z u ?

Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?

Furchtbar ist das Alleinsein mit dem Richter und Rächer des eignen Gesetzes: Also wird ein Stern hinausgeworfen in den öden Raum und in den eisigen Athem des Alleinseins.

Heute noch leidest du an den Vielen, du Einer: heute noch hast du deinen Muth ganz und deine Hoffnungen.

Aber einst wird dich die Einsamkeit müde machen, einst wird dein Stolz sich krümmen und dein Muth knirschen. Schreien wirst du einst ‚ich bin allein!‘

Einst wirst du dein Hohes nicht mehr sehn und dein Niedriges allzunahe; dein Erhabnes selbst wird dich fürchten machen wie ein Gespenst. Schreien wirst du einst: ‚Alles ist falsch!‘“ (Nietzsche, KSA 4, S.81, Hervorhebung im Original)


Der am Ekel der Welt leidende Zarathustra versteht sich selbst als Mittlerfigur zwischen alten und neuen Werten. Wie biblische Vorbilder aus dem Alten Testament oder Philosophen der griechischen Antike beschäftigt sich Zarathustra mit Gesetzestafeln, mit jenen der Vergangenheit und der Zukunft, wissend, daß er – wie der „tolle Mensch“ in der Fröhlichen Wissenschaft – seiner Zeit voraus ist. Schöpferische Tätigkeit und die Negation bestehender Werte gehören bei Nietzsche zwingend zusammen, denn „wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen.“ (ebd. S.149)107 Alte Werte und Verbindlichkeiten müssen zerbrochen werden, damit sich neue bilden können, damit Platz geschaffen wird für Neues. Für Nietzsche sind die wahren Veränderungen die kleinen, alltäglichen.108 So spricht Nietzsche davon, daß nicht das Laute, Lärmende Veränderung bringe, vielmehr brächten die stillen Ereignisse die grössten Änderungen mit sich, wie er es im Kapitel Von grossen Ereignissen beschreibt:
„Und glaube mir nur, Freund Höllenlärm! Die grössten Ereignisse – das sind nicht unsre lautes-ten, sondern unsre stillsten Stunden.

Nicht um die Erfinder von neuem Lärme: um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt; u n h ö r b a r dreht sie sich.“ (ebd. S.169, Hervorhebung im Original)




3.3.4 Der Wille zur Macht
Nietzsches philosophische Konzepte des „Willens zur Macht“ und des „Übermenschen“ entstehen keineswegs linear, vielmehr tauchen diese Ideen in Also sprach Zarathustra fragmentarisch und widersprüchlich auf. Erst der späte Nietzsche entwickelte die These vom „Willen zur Macht“. Er legt der Zarathustra-Figur die in den Jahrzehnten nach seinem Tod so oft missbrauchte Wortschöpfung vom „Willen zur Macht“ in den Mund. So heisst es etwa im Kapitel Von der Selbst-Ueberwindung:
„Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.

Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen.

Und wie das Kleinere sich dem Grösseren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran.

Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagniss ist und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen.

Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein. Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und bis in's Herz dem Mächtigeren – und stiehlt da Macht. [...]

‚Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich's dich – Wille zur Macht!

‚Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht!‘ – “ (Nietzsche, KSA 4, S.147ff., Hervorhebung im Original)
Nietzsche etabliert hier den „Willen zur Macht“ als einen den Menschen bestimmenden Grundtrieb, mehr noch, er macht diesen darüber hinaus zur „Grundtendenz aller lebenden Wesen“ und stellt damit die Hypothese auf, „daß der Wille zur Macht die Grundkraft des gesamten Universums sei.“ (Kaufmann 1988, S.241)109 Im gleichen Zarathustra-Zitat wird auf den Eros, den Geschlechtstrieb, sowie auf die Bedeutung der Selbstüberwindung eingegangen:
„Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. ‚Siehe, sprach es, ich bin das, w a s s i c h i m m e r s e l b e r ü b e r w i n d e n m u s s.

‚Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess ist Eins und Ein Geheimniss. [...]

‚Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom ‚Willen zum Dasein‘: diesen Willen – giebt es nicht!“ (Nietzsche, KSA 4, S.148, Hervorhebung im Original)
Hier stoßen wir auf ein für unseren Diskurs interessantes Moment, das uns in den späteren Kapiteln bei der Interpretation der Ansätze eines Georges Bataille und Sigmund Freud110 wieder begegnen wird. Nietzsche setzt hier den „Willen zur Zeugung“ mit dem „Willen zur Macht“ gleich. Der Geschlechtstrieb gilt ihm nur als eine Variante der Ausprägung des Grundtriebes. Nach Nietzsche sind jegliche Formen von künstlerischem oder geistigem Schaffen – sei es in der Kunst oder Philosophie, in Dichtung oder Musik – als Ausprägungen des schöpferischen Eros zu sehen. Die Lust am Schaffen korrespondiert – überdeutlich erkennbar an der Zarathustra-Figur – mit dem Leiden am Menschen. Zur Selbstüberwindung und Höherentwicklung des Menschen benötigt dieser das Leiden und den Schmerz. Der „Wille zur Macht“ im Sinne Nietzsches äußert sich weniger als politische oder wirtschaftliche Macht, denn als Zuwachs an Selbsterkenntnis und Wahrheit. So überrascht es nicht, daß ihm der Heilige, der Künstler und der Philosoph als Varianten des „wahren Menschen“ gelten. Neben dem „Willen zur Zeugung“ rechnet Nietzsche auch den „Willen zur Wahrheit“ als Funktion des „Willens zur Macht“ (vgl. ebd., S.236). So kommt es gleich einleitend im bereits erwähnten Zarathustra-Kapitel Von der Selbst-Ueberwindung zu einer Gleichsetzung verschiedener Willensformen:
„‚Wille zur Wahrheit‘ heisst ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht?

Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse i c h euren Willen!

Alles Seiende wollt ihr erst denkbar m a c h e n: denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist.

Aber es soll euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.



Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht; und auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Werthschätzungen.“ (Nietzsche, KSA 4, S.146)
Im Zarathustra treten die „Weisesten“ in der Doppelfunktion als Denkende und Wertesetzer auf und werden als „Schaffende“ und Machtausüber charakterisiert. Denn im Sinne Nietzsches ist stets der Prozeß einer Neu- und Umbewertung als massiver Eingriff in das bestehende Wertekonstrukt gleichzeitig ein Ausüben von Macht (vgl. Schmidt/Spreckelsen 1995, S.154). Die geistig hochstehendsten Menschen zählen für Nietzsche zur Elite, weil sie die „Stärksten“ und Mächtigsten sind, als Vorbilder dienen ihm hierbei stets die antiken Philosophen, die er bewundert. Für Nietzsche kann das Moralische vom Außermoralischen durch das Merkmal der Selbstüberwindung unterschieden werden. Die kleinste Gemeinsamkeit von verschiedenen Moralsystemen ist bei genauerer Betrachtung die Ähnlichkeit in der Forderung nach Selbstüberwindung, einer Überwindung des Einzelinteresses zugunsten eines höher gestellten Zieles. Diese moralische Forderung findet sich in den christlichen Geboten genauso wie in Kants Ethik als auch in sogenannten primitiven Moralsystemen als Merkmal wieder. So kann damit das Streben nach Selbstüberwindung als das tragende Charakteristikum angesehen werden, welches allen Moralsystemen gemein ist, angefangen von „Totem und Tabu“ bis hin zum Buddhismus und Christentum (vgl. Kaufmann 1988, S.247). Die Idee von Moral beruht in jedem Kulturkreis auf der Vorstellung einer menschlichen Fähigkeit der Triebsublimierung und Selbstüberwindung, so besteht Moral stets im Kern
„[...] darin, nicht einfach seinen Trieben nachzugeben. Jedes Moralsystem ist ein System von Verboten, das uns dazu auffordert, bestimmten Triebregungen nicht zu folgen. Und positiv bestehen moralische Gebote in der Aufforderung zum Sieg über die animalischen Instinkte.“ (ebd. S.249)
Nietzsche prägte den Begriff der Sublimierung maßgebend, einen Begriff, den der spätere Freud mit seiner Psychoanalyse populär machen sollte, der jedoch schon zuvor in der Literatur bekannt war. Er fordert, wie Kaufmann aufzeigt, keine Triebvernichtung oder gar -verneinung, sondern einen positiven Umgang mit den Trieben, eine Kanalisation und Sublimierung. Nietzsche wertet den Geschlechtstrieb affirmativ und anerkennt damit gleichzeitig den Menschen als ein ganzheitliches, körperliches und geistiges Wesen. Seine Auffassung, den Menschen in seiner Eigenschaft als Geschlechtswesen positiv zu sehen, läßt sich sicherlich auch auf seine Bewunderung der griechischen Antike zurückführen, die sich schon früh zur Geschlechtlichkeit bekannte und diese nicht, wie etwa das Christentum, negieren und bekämpfen mußte. Die traditionelle Dualität von Vernunft und Trieb bleibt für Nietzsche ohne Gültigkeit, vielmehr sind für ihn die Vernunft wie der Geschlechtstrieb Ausgestaltungen ein und desselben Willens, nämlich des „Willens zur Macht“. Der Prozeß der Triebsublimierung oder Selbstüberwindung ist keineswegs ein einfacher Prozeß, im Gegenteil es handelt sich hierbei um einen schmerzhaften, leidvollen Weg zur Metamorphose, dessen Ziel die „wahre“ Macht ist. In einem solchen Wachstumsprozeß ist das Individuum aufgefordert, sich selbst gegenüber grausam zu sein, denn nur durch das Leiden erfährt der Mensch Stärke und Wachstum. Nietzsche geht gedanklich gar so weit, sich eine Züchtungsmethode, eine Lehre, die stark genug ist, „züchtend zu wirken“ und den Entwicklungsprozeß für den „wahren“ Menschen voranzubringen, zu imaginieren (vgl. ebd., S.251-286; S.355). Nietzsche weist in seiner Philosophie der Macht darauf hin, daß der Mensch Leid und Schmerz als Quell der Selbstvervollkommnung benötigt, denn es sei ihm ohne das Häßliche und das Böse unmöglich das Schöne und das Gute zu erkennen. Für Nietzsche trägt – nicht zuletzt aufgrund der eigenen Erfahrung – die Seelennot zur Weiterentwicklung des Menschen bei, der Schmerz dient ihm als Methode zur Läuterung und Selbstvervollkommnung. Die Askese wird von ihm zum Ideal erklärt, die höchste Ausformung der Macht liegt somit in der höchsten Form der Selbstbeherrschung, der Asket gehört in diesem Sinne zu den mächtigsten Menschen. Nietzsche war sich der Schwierigkeit des „Willens zur Macht“ durchaus bewußt, so nimmt er in Kauf, daß es nur ausgewählten Menschen gelingen kann, ihren „Willen zur Macht“ positiv und kraftvoll in schöpferischer Kraft auszuleben, wogegen sich überwiegend der „Wille zur Macht“ in aggressiveren Erscheinungsformen äußert. Beispielsweise beherrschen und unterdrücken Menschen einander, weil sie nicht in der Lage sind, ihren eigenen Trieb konstruktiv zu beherrschen (vgl. ebd., S.293f.; S.297).111 Schwache Menschen neigen eher dazu, sich einer traditionellen Moral anzupassen und erfahren damit gerade nicht die wahre Macht und die Chance des Glücklichseins. Nach Nietzsches Auffassung sind jedoch „die Schwachen nicht dazu fähig [...], zum höchsten Glück vorzudringen. Das Glück, nach dem alle Menschen streben, erreicht nur, wer stark ist.“ (ebd. S.448) Für Nietzsche, der seine zeitgenössische Kultur gefährdet sieht, ist gerade der moderne Mensch weiter denn je davon entfernt, glücklich zu sein. Er charakterisiert Glück als einen Zustand der Macht und faßt Glück damit „nicht als einen Bewußtseinszustand auf, sondern als einen Seinszustand“ auf. (ebd. S.310) Jeder Mensch strebt bewußt oder unbewußt nach Glück, doch nur eine kleine Elite ist in diesem Streben fähig zum Glück und zu einem wahrhaft guten Leben.

3.3.5 Der Übermensch und die ewige Wiederkehr des Gleichen
Nietzsches Philosophie der Macht ist eng verknüpft mit seiner Vision vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkunft. In Also sprach Zarathustra kreiert er den Übermenschen als Menschen nach dem Menschen. Der Mensch soll sich selbst überwinden, um eine höhere Stufe des Menschseins zu erlangen, um über den Menschen hinaus zu wachsen, um so zu einem Über-Menschen zu werden. Der Begriff des Übermenschen, der in der Literatur seit dem 17. Jahrhundert existiert und beispielsweise von Lord Byron oder Goethe verwandt wurde, bekommt mit Nietzsche eine neue Bedeutung (vgl. Kaufmann 1988, S.360). Manfred Riedel charakterisiert Nietzsches Übermenschen als Ideal der menschlichen Selbstüberwindung und als verkörpertes „Streben nach immer höheren Menschheitszielen“ (Riedel 1997, S.70). Riedel stellt in seinem Werk Nietzsche in Weimar112 ausführlich dar, daß bereits zu Niezsches Lebzeiten die Metapher vom Übermenschen missdeutet wurde. Das Wortspiel „Übermensch“, mit dem er einen „Typus höchster Wohlgeratenheit“ im Gegensatz zum „modernen“ Menschen bezeichnen wollte, wurde von Nietzsche – jenseits von politischen und ideologischen Direktiven – als Frage- und Denkzeichen intendiert (vgl. ebd., S.39). Sein Begriff des Übermenschen ist von Anfang an strittig, er lässt Platz für Fehlinterpretationen, die in den Folgejahrzehnten nach seinem Tod gehäuft auftreten sollten.113 Der nietzscheanische Übermensch steht – so die Interpretation von Wiebrecht Ries – für eine radikal neue Daseinsform,
„[...] für jenes Dasein, das die Nacht der Gottesfinsternis zur Sonne macht. Das heißt: mit dem Namen des Übermenschen bezeichnet Nietzsche jene menschlich-unmenschliche Daseinsform, die aus der radikalen Gott- und Sinnlosigkeit heraus zu leben vermag. [...] Nach dem Wegfall der die menschliche Existenz bestimmenden und sie verpflichtenden Gottesidee wird der Mensch zu jenem Wesen, das – auf sich selbst zurückgeworfen – erst noch darüber zu befinden hat, was es sein kann: der ‚Übermensch‘ als der siegreiche Überwinder Gottes und des Nichts oder der ‚letzte‘ Mensch, der nicht mehr nach dem ‚Sinn‘ seines Daseins fragt und sich nurmehr mit dem ‚Glück‘ einer technisch bestimmten Daseinsfürsorge begnügt.“ (Ries 1985, S.52f.)
Bereits in der ersten Zarathustra-Rede spricht Nietzsche vom Gang des „letzten Menschen“ zum höheren Menschen und schließlich zum Übermenschen. Nietzsche definiert – wie er es selbst beschreibt – seinen Übermenschen in Abgrenzung zum „letzten“ Menschen: „Der Gegensatz des Übermenschen ist der letzte Mensch: ich schuf ihn zugleich mit jenem.“ (Nietzsche, KSA 10, S.162, Hervorhebung im Original) Zarathustra stellt – indem er an die Ehre des Volkes appelliert – diesem den „letzten Menschen“ als den verächtlichsten und verachtungswürdigsten vor:

„So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen: das aber ist d e r l e t z t e M e n s c h. ‘

Und also sprach Zarathustra zum Volke:

Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“ (Nietzsche, KSA 4, S.19, Hervorhebung im Original)


Mit dem Aufruf zur Selbstüberwindung erreicht Zarathustra das Gegenteil dessen, was er will, anstatt sich kollektiv auf den Weg zum Übermenschen zu machen und den „letzten Menschen“ hinter sich zu lassen, will das Volk an diesem festhalten. Zarathustra hält sich selbst nicht für den Übermenschen, er sieht sich vielmehr – und hier zeigt sich erneut eine Parallele zum christliche Religionsverständnis, zum Auftrag Jesu Christi als Verkünder Gottes auf Erden – als dessen Botschafter: „Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch.– “ (ebd. S.18)

Zarathustra steht dem Massenmenschen der Mittelmäßigkeit, dem Herdenmenschen wie dem zugehörigen Modell der Herde und des leitenden Hirten ablehnend gegenüber. Im Gegensatz dazu steht das Bild des Übermenschen als „eines der Machtvollkommenheit, die sich in Selbstbestimmung und Selbständigkeit, in Autonomie und Autarkie äußert.“ (Schmidt/Spreckelsen 1995, S.148) Folgerichtig sucht Zarathustra keine lakaienhaften Jünger und Anhänger, sondern gleichberechtigte Gefährten, die sich auf denselben Weg begeben wollen.

Nietzsches Übermensch ist historisch zeitlos, so erklärt es Nietzsche selbst, er ist unabhängig von der Fortschrittsidee und dem zeitgenössischen Darwinismus zu sehen. Seinen Übermenschen will er nicht als ein Symbol für den Glauben an den endlosen Fortschritt verstanden wissen. Für ihn gab es vielmehr zu jeder Zeit „höchste Exemplare des Menschsein“, einzelne große Menschen, Über-Menschen. Mit den populären Ideen eines Charles Darwin, hier ist in erster Linie seine Evolutionstheorie zu nennen, setzte sich Nietzsche kritisch auseinander. Nietzsche bestreitet, daß sich beim Menschen eine lineare Fortschrittsentwicklung festmachen läßt. Der Übermensch hat für ihn in der Vergangenheit schon viele Male existiert, er ist gänzlich unabhängig von der Idee des Fortschritts. Im Werk Ecce homo – erst 1908 posthum erschienen – definiert er den Übermenschen als Gegensatz zum zeitgenössischen modernen Menschen. Der Übermensch ist vielmehr, wie er im Zarathustra ausführt, ein „idealistischer“ Typus“, eine „höhere Art Mensch“, eine Melange aus Heiliger und Genie.

Deutlich bringt Nietzsche zum Ausdruck, daß er den modernen Menschen für falsch hält und daß sich in ihm alles andere als eine Höherentwicklung widerspiegelt, als Beispiele für höherentwickelte Menschen dienen ihm vielmehr überragende Zeitgenossen des alten Griechenlands und der Renaissance (vgl. Kaufmann 1988, S.366; S.374). Für Nietzsche


„[...] stellt die Menschheit insgesamt seiner Meinung nach keinen größeren Fortschritt gegenüber anderen Tierarten dar, als beispielsweise die Reptilien den Fischen ‚überlegen‘ sind. Ihm geht es um die ‚glücklichen Zufälle‘, um Sokrates oder Caesar, um Leonardo oder Goethe: um Menschen, denen ihre ‚Macht‘ keinen Vorteil im (wie immer gearteten) ‚Kampf ums Dasein‘ verschafft.“ (ebd. S.385)
Nietzsche ist mit Darwin in wesentlichen Punkten uneinig, auch wenn er unbestritten in vielerlei Hinsicht an Darwins Erkenntnisse anknüpft, so teilt er die Annahme, daß der Mensch vom Affen abstammt und damit nicht mehr als ein „Überschimpanse“ ist. Nietzsche, den Peter Sloterdijk nicht zu unrecht als den „Meister des gefährlichen Denkens“ tituliert, geht von einem streitbaren Menschenbild aus. Für ihn gibt es keine Gleichheit der Menschen, mehr noch, Nietzsche gesteht nicht jedem Menschen einen Wert zu, sondern nur bestimmten, „höheren“ Menschen. Walter Kaufmann interpretiert in seiner Nietzsche-Rezeption dessen anthropologische Auffassung, die in der Folgezeit, gerade im Nationalsozialismus einer faschistoiden Theorie des arischen Herrenmenschen zum ideologischen Nährboden dienen konnte, folgendermaßen:
„Nietzsche behauptet, daß die Kluft zwischen Plato und einem Durchschnittsmenschen größer ist als die zwischen diesem und einem Schimpansen. [...]

Die meisten Menschen sind ihrem Wesen nach Tiere. Sie unterscheiden sich nicht grundlegend von den Schimpansen, höchstens durch eine Fähigkeit, die die wenigsten in Anspruch nehmen. Sie können sich zwar über die Tiere erheben, aber sie tun es nur selten. Der Mensch ist fähig, seine tierische Natur zu überwinden, er kann zu einem ‚Nicht-mehr-Tier‘, zum ‚wahrhaften Menschen‘ werden; aber nur ein paar ‚Philosophen, Künstler und Heilige‘ erreichen diesen Standard [...]. Die unphilosophische, unkünstlerische und unheilige Masse bleibt tierisch.“ (ebd. S.176f., Hervorhebung im Original)


Deutlich betont werden muß, daß der höhere Mensch Nietzsches nichts mit einem faschistischen, nationalen Rassengedanken zu tun hat, denn für Nietzsche ist gerade die deutsche Kultur, die er achtet, durch die Rassenmischung, speziell durch eine starke Vermischung mit slawischem Blut entstanden. Für ihn ist die „Rassenmischung der Quell großer Kulturen“, dringend müssten deshalb gerade die Juden mit ihren kulturell wertvollen Eigenschaften Teil der zukünftigen Mischrasse sein (vgl. ebd., S.354f.). Nietzsche versteht unter dem von ihm verwandten Terminus einer „Herrenrasse“ eine „zukünftige, international gemischte Rasse von Philosophen und Künstlern [...], die eiserne Selbstbeherrschung üben.“ (Nietzsche zit. n. Kaufmann 1988, S.353)114 Der Mythos einer Herrenrasse, auf den sich Nietzsche in seiner Übermenschtheorie bezieht, läßt sich bis in die griechische Antike rekonstruieren:
„[...] der Mythos von der Herrenrasse scheint sich aus griechischen Vorstellungen entwickelt zu haben. Die Griechen haben sich durch ihre einzigartige Genialität dazu hinreißen lassen, sich selbst als eine Rasse von Herren anzusehen, alle anderen Völker dagegen als bloße ‚Barbaren‘, die von Natur aus zur Sklaverei bestimmt sind. Diese Anschauungen sind auch in den Schriften von Plato und Aristoteles zu finden.“ (Kaufmann 1988, S.333)115

In Nietzsches Zarathustra-Werk gehören die Idee des Übermenschen und die der ewigen Wiederkehr unabdingbar zusammen. Es gibt jedoch – wie bei den philosophischen Überlegungen zum „Willen zur Macht“ – keine geschlossene Theorie des Übermenschen oder der ewigen Wiederkunft, vielmehr existiert ein Konglomerat experimenteller, fragmentarischer Gedanken. Der Übermensch, den wir bereits als epochenübergreifende Ausnahmefigur charakterisieren konnten, ist in der Interpretation eines Walter Kaufmann in die Ewigkeit des Kosmos eingebettet, verwoben mit dem Geheimnis, daß alles wiederkehrt (vgl. ebd., S.374). Die Idee der ewigen Wiederkunft ist einer jener zentralen Gedanken, die bereits, wie die These vom „Tod Gottes“, in der vorhergehenden Abhandlung Die fröhliche Wissenschaft als Vermutung eingeführt wurde. So wird dort im vierten Buch die Frage aufgeworfen:


„Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘“ (Nietzsche, KSA 3, S.570)
Die Lehre von der ewigen Wiederkehr ist ein Denkmodell Nietzsches, das sich in weiten Zügen auch auf seine eigene Erfahrung gründet, „die höchste Erfahrung eines an Leiden, Schmerz und Qual ungewöhnlich reichen Lebens.“ (Kaufmann 1988, S.378)116 Das Motiv der Wiederkehr des Gleichen wird im Zarathustra an mehreren Stellen aufgegriffen. Zarathustra deutet das Leben unter der Prämisse der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, so ruft er etwa aus: „[O]h wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft!“ (Nietzsche, KSA 4, S.287) An anderer Stelle, im Kapitel Der Genesende, wird Zarathustra explizit als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“ bezeichnet:
„Denn deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden musst: siehe,

d u b i s t d e r L e h r e r d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t –, das ist nun d e i n Schicksal!

Dass du als der Erste diese Lehre lehren musst, – wie sollte diess grosse Schicksal nicht auch deine grösste Gefahr und Krankheit sein!

Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns.

Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens giebt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von Neuem umdrehn, damit es von Neuem ablaufe und auslaufe: –

– so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind im Grössten und auch im Kleinsten, – so dass wir selber in jedem grossen Jahre uns selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten.“ (ebd. 275f., Hervorhebung im Original)


Alle Ereignisse wiederholen sich – sowohl in der Geschichte als auch im Leben des Einzelnen – endlos, ohne daß es einen Plan oder ein Ziel für sie gibt. Ein Sinn ist nicht erkennbar, der Mensch wird in einem solchen sinnentleerten Stück zur Marionette degradiert, wird zu einer Figur in einem „Märchen [...] erzählt von einem Blöden, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“, wie es Nietzsche ausdrückt. (Nietzsche zit. n. Kaufmann 1988, S.383). Nietzsches Lehre von der Wiederkehr des Gleichen wird vom Interpreten Walter Kaufmann ferner gedeutet als „Antithese zum Glauben an einen unendlichen Fortschritt“ gleichwie als „Antithese zum Glauben an eine andere Welt“. (Kaufmann 1988, S.375)

Auch Rüdiger Schmidt und Cord Spreckelsen weisen in ihrer Nietzsche-Einführung darauf hin, daß es Nietzsche in seinem Ansatz der ewigen Wiederkunft des Gleichen um ein radikal diesseitiges Leben gehe. Es handle sich gerade nicht um Transzendenz, vielmehr beinhalteten Nietzsches Ideen eine eindeutige „Absage an die Transzendenz, an alle Versuche, hinter dem und jenseits des Daseins etwas Wahreres, Ewiges oder auch nur Anderes zu setzen“, zur gleichen Zeit forderten diese „am immanenten Sinn des Lebens nicht zu verzweifeln.“ (Schmidt/Spreckelsen 1995, S.182) So appelliert Zarathustra auf resolute Weise im Schlußkapitel des ersten Buches – Von der schenkenden Tugend an seine Jünger, eine diesseitige Orientierung der jenseitigen vorzuziehen:


„Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntniss diene dem Sinn der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch.

Lasst sie nicht davon fliegen vom Irdischen und mit den Flügeln gegen ewige Wände schlagen! Ach, es gab immer so viel verflogene Tugend!

Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück – ja, zurück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn!“ (Nietzsche, KSA 4, S.99f.)
Zarathustra fordert hier vehement den Rückbezug der Tugend „zur Erde“, „zu Leib und Leben“, damit der verlorengegangene „Menschen-Sinn“ wiedergefunden werden kann. Zarathustra, der am Ekel, am Leben der Menschen leidet, sieht sich selbst als Seher der Zukunft, als Brücke zu einer (möglicherweise) positiven Zukunft, in der sich die Dinge in ihr Gegenteil verkehren, und das Leiden am Menschen beendet sein könnte.


Yüklə 428 Kb.

Dostları ilə paylaş:
1   2   3   4   5   6   7   8   9   10




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©www.genderi.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

    Ana səhifə