Der moralische Instinkt



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Einleitung

Firnis, sondern war tief in der biologischen Natur des Menschen verankert.   Dar-

win widmete ein ganzes Kapitel in »Die Abstammung des Menschen« (1871) dem 

moralischen Sinn, und für den  anarchistischen Prinz   Kropotkin war er »eine 

natürliche Fähigkeit wie der Tast- und Geruchssinn« (  Kropotkin, 1889). Genera-

tionen von »Naturalisten« verstanden die menschliche Moral als einen Instinkt. 

Als einen  moralischen Instinkt. In dieser Gestalt überlebte das alte Gewissen, als 

die Evolutionstheorie die biblische Schöpfungsgeschichte ablöste und einen Kul-

turschock auslöste. Die Th

  eorie bewies, dass der Mensch nie aus dem Paradies 

vertrieben worden war, sondern sich im Lauf vieler Millionen Jahre an eine irdi-

sche Wildnis angepasst hatte. Der Mensch war ein Produkt der natürlichen Aus-

lese und keine sterbliche Kopie eines vollkommenen Gottes.

Für die Umdeutung des Gewissens zahlten die naturalistischen Philosophen 

einen hohen Preis. Der moralische Instinkt war zwar tief in unserer Natur verwur-

zelt, doch augenscheinlich sehr unterschiedlich und abhängig von den jeweiligen 

Lebensbedingungen. Man musste sich also von der Vorstellung einer universalen 

Moral verabschieden, von dem Glauben, dass jeder Mensch überall auf der Welt 

und zu allen Zeiten den gleichen moralischen Instinkten gehorcht. Diese Über-

zeugung hatte bereits mehrere Krisen erlebt. So hatte der englische Philosoph 

John   Locke in »An essay concerning human understanding« (1690) die Frage 

gestellt: »Ich berufe mich auf Alle, die sich nur etwas mit der Geschichte der 

Menschheit bekannt gemacht und über den Rauch ihrer Feueresse hinweggesehen 

haben, ob es Moralsätze gibt, in denen alle Menschen übereinstimmen?« Nicht 

nur vergangene Zeiten, sondern auch ferne Länder lieferten reichlich Beispielma-

terial für Grausamkeiten, die für fremde Völker die normalste Sache der Welt 

waren. Trotz alledem blieb Francis   Hutcheson davon überzeugt, dass jeder Mensch 

von Natur aus einen moralischen Sinn besaß. »Wir müssten ein Land fi nden, wo 

man kaltblütigen Mord, Folter und alle sonstigen Übel ohne Rücksicht auf den 

Nutzen wenn schon nicht billigt, so doch als indiff erent ansieht, und wo sich bei 

unbeteiligten Beobachtern keine Abneigung gegen den Täter einstellt. [...] Obwohl 

das Universum groß genug ist und erfüllt von einer nicht unbeträchtlichen Vielfalt 

von Charakteren, kann man bezweifeln, ob es uns dafür irgendein Beispiel liefern 

wird.« Für den gläubigen   Hutcheson war es undenkbar, dass Gott solche schlech-

ten Menschen erschaff en könnte.

Anhänger der Evolutionstheorie wunderten sich weniger über das gnadenlose 

Schauspiel, das die Natur bot. Evolution hat es abgesehen auf einen möglichst star-

ken Zusammenhalt sozialer Gruppen, nicht auf möglichst wenig Blutvergießen. 

Manchmal sorgt gerade das Niedermetzeln eines Nachbarstamms für die stärkste 

Gruppenkohäsion. Wie unterschiedlich moralische Auff assungen sein können, 

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Der moralische Instinkt

illustriert eine schöne, auch von   Darwin zitierte Anekdote, die der kanadische 

Arzt Henry   Landor (1871) berichtete, der einige Jahre als Beamter in Westaustra-

lien lebte:

»Der Eingeborene, der der ursprüngliche und rechtmäßige Besitzer meiner Farm war, 

verlor eine seiner Frauen durch Krankheit. Er kam zu mir und sagte, er sei im Begriff , zu 

einem entfernten Stamm zu gehen, um dort ein Weib mit dem Speer zu töten und damit 

eine Pfl icht gegen seine verstorbene Frau zu erfüllen. Ich entgegnete, dass ich ihn zu 

lebenslänglichem Gefängnis verurteilen würde, wenn er es täte. Er blieb noch einige 

Monate auf der Farm, magerte aber außerordentlich ab und klagte, dass er weder schla-

fen noch essen könne, da ihn der Geist seines Weibes verfolge, weil er kein anderes 

Leben für das ihre geopfert habe. Ich blieb unerbittlich und versicherte ihm, dass nichts 

ihn retten könne, wenn er es täte. Trotzdem verschwand er und blieb über ein Jahr 

abwesend. Als er zurückkehrte, hatte er sich gut erholt, und seine andere Frau erzählte 

mir, dass ihr Gatte eine Frau aus einem entfernten Stamm getötet habe, es war jedoch 

unmöglich, einen gesetzlich gültigen Beweis zu erbringen.«

Auch auf der Südhalbkugel wurde also jemand, der seine moralische Pflicht nicht 

erfüllte, von Gewissensbissen geplagt. Während allerdings das sechste Gebot auf der 

Nordhalbkugel vorschrieb: »Du sollst nicht töten«, so lautete es bei den Aborigines 

unter bestimmten Umständen: »Du sollst töten.« Die Forscher des 19. Jahrhunderts, 

die dem Naturalismus anhingen, waren versessen auf derartige Anekdoten, die 

belegten, dass es keine universelle Moral gab. Die moralischen Instinkte unterschie-

den sich von Kulturkreis zu Kulturkreis und konnten Menschen oft zu radikal entge-

gengesetzten Handlungen zwingen. Und nicht alle moralischen Instinkte waren gut.

Natur und Moral

Die Wende im Denken über die menschliche Moral, die mit   Hutcheson und   Dar-

win begann, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Moral ist in nicht unbeträchtli-

chem Maße das Produkt biologischer, selbstorganisierter und emotionaler Prozesse. 

Die Evolution bildete emotionale, instinkthaft e Reaktionen auf Verhaltensweisen 

heraus, die uns befähigen, uns moralisch zu verhalten. Moral greift  auf Mechanis-

men zurück, die tief in unserer Natur verankert sind. So wie unser Körper und 

unser Gehirn »Bausteine« enthalten, die Sinneswahrnehmung ermöglichen, so 

besitzen wir von Natur aus Bausteine der Moralität. Moralische Prozesse sind 

genauso physisch wie die sinnlichen, sind genauso natürlich wie Sehen oder Hören 

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