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Einleitung
und funktionieren genauso schnell wie unsere Wahrnehmung. Insofern verfügen
Menschen tatsächlich über ein moralisches Organ, allerdings nur im übertragenen
Sinn. Wir brauchen Moralität nicht als etwas ausschließlich »Übersinnliches« auf-
zufassen, etwas, das nur durch Kultur, Ideologie und Religion entsteht und das Ver-
standeskräft e, Abstraktionsvermögen und Sprache voraussetzt. Moralität steht nicht
zur Disposition, sondern sie gehört zur Grundausstattung des Menschen.
Wie die naturalistischen Forscher des 19. Jahrhunderts wussten, stellt Moral
keine monolithische Einheit dar. Der Mensch besitzt keine doppelte Moral,
sondern mehrere, nicht nur einen Instinkt, sondern mehrere. Menschen handeln
»moralisch« aus sehr verschiedenen Gründen und sie bewerten ihre eigenen
Handlungen und die anderer unterschiedlich. Hauptmerkmal jeder Moral ist, dass
sie unsere individuelle Freiheit einschränkt und zwar zugunsten eines höheren
Guts, nämlich des Erhalts und Fortbestands der Gemeinschaft . Nicht alles, was
möglich ist, ist auch erlaubt. Wenn unsere Eigeninteressen mit den Gemein-
schaft sinteressen kollidieren, dann sagt uns die Moral, wie wir zu handeln haben.
Sie steuert unsere Gefühle, unser Verhalten und unsere Urteile. Damit wir zu
gemeinsamen Zielen beitragen und die sozialen Regeln einhalten, hat uns die Evo-
lution mit allerlei nützlichen Fähigkeiten ausgestattet.
Doch die Gründe, warum wir etwas als gut oder schlecht erfahren, etwas für
gut oder schlecht halten, sind sehr vielfältig. Wir helfen Verwandten, weil wir mit
ihnen aufgewachsen sind und uns mit ihnen verbunden fühlen. Denen, die unsere
Kooperationsbereitschaft ausnutzen, widersetzen wir uns, weil wir es nicht er-
tragen können, dass jemand nur nimmt, aber nicht gibt. Unfaires Verhalten ist uns
zuwider. Doch wir sind auch zu großer Selbstlosigkeit fähig. Eltern setzten sich
vorbehaltlos für ihre Kinder ein. Wahre Freunde führen nicht Buch über das, was
sie geben und nehmen. Da sich die Pfl ichten und Regeln mit den Umständen
ändern, verfügt der Mensch über mehrere Moralitäten.
Dieses Buch versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, welche moralischen
Instinkte es gibt und was ihre biologische Grundlage ist. Der Leser wird fünf
moralische Systeme kennenlernen, von denen vier auf Intuitionen und Emotio-
nen beruhen. Nur eines hat eine rationale Basis. All diese Formen der Moral ver-
pfl ichten Menschen, etwas anzustreben oder zu meiden, aber aus unterschiedli-
chen Gründen und auf unterschiedliche Weise. Ich unterscheide die folgenden
Formen: die Bindungsmoral, die Moral der Gewalt, die Moral der Reinigung, die
Moral der Kooperation und die Prinzipienethik. Dieses Konzept ist keineswegs
neu, es fi ndet sich in der wissenschaft lichen Literatur ( Blair, 2008; Haidt u. Joseph,
2004). Dennoch glaube ich, dass mit diesem Buch zum ersten Mal eine umfas-
sende Darstellung dieser Th
ematik vorliegt. Andere Autoren beschränken sich auf
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Der moralische Instinkt
einen Abriss oder eine Kompilation, die das Material eines einzigen Wissens-
zweigs zusammenstellt. James Blair (2008) und Jonathan Haidt (2004) ordneten
(neuro)psychologische Erkenntnisse nach dem von ihnen so genannten Multiple-
Moralities-Ansatz. Wenn meine Vorgehensweise auch Ergebnisse anderer Wis-
senszweige mit einbezieht, so bin ich ihren Arbeiten und den sich aus ihnen erge-
benden Diskussionen doch zu großem Dank verpfl ichtet.
Fünf Facetten der Moral
Jedes Kapitel dieses Buches ist einer der fünf Ausprägungen der Moralität gewid-
met. Die Bindungsmoral bestimmt unser Verhalten gegenüber uns nahe stehenden
Menschen. Sie beruht auf angeborenen Fähigkeiten wie Nachahmung, Bindung
und Empathie, die mit der großen Abhängigkeit des Kindes vom Erwachsenen
zusammenhängen. Unsere persönliche Entwicklung ist undenkbar ohne die
Zuwendung anderer. Einfühlungsvermögen und Bindung resultieren in Sorge und
uneigennützigem Verhalten. Diese Moral hemmt zudem unsere Aggressivität
gegenüber uns nahen Menschen. Die Bindung kann rasch entstehen, sie kann sich
ausweiten, aber auch dramatisch abnehmen.
Dass es eine Moral der Gewalt geben soll, erscheint auf den ersten Blick unsin-
nig. Ist Gewalt nicht das genaue Gegenteil von Moral? Dennoch betrachte ich sie
als eigenständiges moralisches System. Dies ist wohl eine der kontroversesten
Th
esen dieses Buches. Doch die Gewalt spielt im Leben der Menschheit seit hun-
derttausenden Jahren eine wichtige Rolle. Menschen leben seit Anbeginn in
lebensbedrohlichen Situationen. Sie mussten sich und ihre Gruppenangehörigen
vor wilden Tieren und kriegerischen Nachbarn schützen. Die gefährliche Außen-
welt weckte unsägliche Furcht, die nur zu überwinden war, wenn man bereit war,
Gewalt mit Gewalt zu beantworten und sich ein kämpferisches Auft reten zuzule-
gen. Aggressivität vertreibt sowohl Ängste wie Feinde. Eine Gewaltkultur ver-
pfl ichtet Krieger zu Gebräuchen, wie man sie heute noch bei Straßengangs, Kin-
dersoldaten, Hooligans oder in Kriegszeiten fi ndet. Diese eng mit Ehre und Status
verbundenen Codes, Rituale und Pfl ichten sind in sich zwingend, wie unsinnig
und primitiv sie uns auch erscheinen mögen.
Die Verbindung von Sauberkeit und Moral ist uralt. Die Moral der Reinigung
verbindet das Gute und Böse mit Gefühlen von Reinheit und Besudelung. Sie
beruht auf dem evolutiv herausgebildeten Instinkt, der uns vor gesundheitlichen
Gefahren warnt. Ekel warnt uns, wenn wir krankheitserregende Stoff e einnehmen
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Einleitung
oder anfassen. Dies ist eine starke adaptive Emotion. Wovor man sich ekelt, lernt
man während der Sozialisation. Auch unmoralische Handlungen rufen Abscheu
hervor. Einem Mörder die Hand zu geben, fällt uns nicht leicht. Wir fühlen uns
beschmutzt und unrein und haben das Bedürfnis, uns die Hände zu waschen.
Durch Reinigungsriten können Gruppenmitglieder ein Vergehen sühnen, sie die-
nen aber auch dazu, Außenstehende auf grausame Weise zu strafen. Auch die
Moral der Reinigung hat ihre Schattenseiten.
Die Moral der Kooperation dient als Kompass für Entscheidungen, die die Inte-
ressen der gesamten Gemeinschaft berücksichtigen. Zusammenarbeit bietet Vor-
teile, birgt aber auch Risiken in sich. Menschen tun sich zusammen, um etwas zu
verwirklichen, das sie allein nicht erreichen können. Doch eine nicht geringe Zahl
von Menschen liegt immer auf der Lauer, um ohne Gegenleistung die Früchte der
Zusammenarbeit zu ernten. Glücklicherweise sind wir mit Instinkten ausgestattet,
solche Trittbrettfahrer und Betrüger zu entdecken oder zu meiden und so die
Kooperation instand zu halten. Die Moral der Kooperation setzt Wohlwollen vor-
aus, erfordert aber auch die Fähigkeit zur Entrüstung gegenüber Menschen, die
die Kooperation gefährden. Vergeltung und Sanktionen sind dann unumgänglich.
Die Prinzipienethik schließlich bietet Lösungen für die Nachteile, mit denen
die anderen Moralitäten zu kämpfen haben, die uns intuitiv handeln oder urteilen
lassen, ohne dass wir uns darüber Rechenschaft ablegen. Wir sind diesen Formen
der Moralität mehr oder weniger ausgeliefert. Die Prinzipienethik hingegen
begründet und systematisiert die Moral vor jedem Handeln, teils aus einem
Widerstand gegen die »unmoralischen« Folgen, die die anderen Moralitäten mit
sich bringen, teils weil Instinkte und Bauchgefühle komplexe moralische Prob-
leme nicht lösen können oder sie falsch lösen. Denn eine demokratische Gesell-
schaft erfordert nicht nur moralisches Verhalten, sondern sie erwartet vor allem
auch rationale Begründungen für dieses Verhalten. Die rationale Ethik stellt Prin-
zipien wie Gleichheit, Würde oder Freiheit als oberste Richtlinien auf. Handlun-
gen werden an diesen mit logischen Argumenten und nachprüfb aren Tatsachen
unterbauten Grundsätzen gemessen. Die Prinzipienethik ist eine off ene und trans-
parente Moral. Sie ist die Moral der Zukunft , wenn wir auch unsere moralische
Vergangenheit nie ganz verleugnen können. Die moralischen Paradoxe, auf die
ich im letzten Kapitel eingehe, off enbaren das komplexe Verhältnis zwischen Ver-
nunft und Emotion, zwischen Absicht und Folgen. Moral ist sowohl auf Vernunft
gegründet als auch auf unsere Wünsche und Emotionen. Es gibt nicht nur morali-
sche Instinkte, sondern auch ethische Rationalität.
Ich behaupte nicht, dass es nur fünf Arten der Moral gibt. Es geht mir nicht um
Vollständigkeit. Doch die wichtigsten Formen der Moral glaube ich behandelt zu
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haben. Das Missverhältnis zwischen den vier auf Gefühlen beruhenden Moral-
arten einerseits und der Ethik andererseits ist zugegebenermaßen groß. Ich hätte
die rationale Ethik noch weiter unterteilen können in religiöse, ideologische und
politische Moralitäten, um für mehr Ausgewogenheit zu sorgen. All diese Systeme
rechtfertigen moralische Auff assungen auf explizite Weise. Sie stimmen mit der
jeweiligen religiösen Überzeugung, dem Parteiprogramm oder der ideologischen
Ausrichtung überein. Auch auf die ethischen Th
eorien, die in der Prinzipienethik
eine Schlüsselrolle spielen, hätte ich näher eingehen können. Kein Wort habe ich
zudem über die Tugendethik verloren, was mir manche Moralphilosophen
bestimmt nicht verzeihen werden. Dennoch glaube ich, dieses Missverhältnis ver-
teidigen zu können. Erstens ist bereits sehr viel über diese Überzeugungssysteme
geschrieben worden, zweitens geht dieses Buch von einer anderen Grundauff as-
sung aus. Es handelt nicht vom Geist der Ethik, sondern vom Fleisch der Moral.
Es konzentriert sich nicht so sehr auf den Reichtum an Lösungen, die Kulturen
entwickelten, um dem Eigeninteresse zum Wohl der Gemeinschaft die Zügel
anzulegen. Diese Lösungen sind sehr vielfältig. Religionen und Ideologien gibt es
in vielen Ausprägungen. Dieses Buch richtet sich nicht auf das, was uns trennt
und was zeitlich ist, sondern auf das, was uns eint, was transhistorisch ist und
universell. Es sucht eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Fähigkeiten und
Veranlagungen der Mensch besitzt, um die Kluft zwischen Eigeninteresse und
Gemeinschaft ssinn zu überbrücken. Es lenkt das Hauptaugenmerk von der kultu-
rellen Diversität auf die biologischen Gegebenheiten, ohne diese Diversität oder
die Wichtigkeit ihrer Erforschung leugnen zu wollen.
Neurowissenschaften
Die jüngsten Erkenntnisse der Neurobiologie, die in diesem Buch präsentiert wer-
den, zeigen, welche Prozesse im Gehirn moralisches Verhalten begleiten und
ermöglichen, beziehungsweise wie Schädigungen bestimmter Hirnareale morali-
sches Verhalten beeinträchtigen können. Moral wird nicht nur von sozialen und
kulturellen Faktoren bestimmt, sondern auch von Vorgängen in unserem Gehirn.
Moralisches Verhalten ist so zwingend oder fl exibel wie die Gehirnzellen und
neuronalen Netzwerke, die ihm zugrunde liegen. Die Hirnforschung ermöglicht
zudem einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der menschlichen Moral.
Aufb au und Funktion unseres Gehirns spiegeln die Probleme und Entscheidungs-
fragen wider, vor die sich der Mensch während seiner Evolution gestellt sah. Das
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galt auch für moralische Konfl iktsituationen, wenn die Interessen des Einzelnen
und die der Gruppe aufeinanderprallten. Moral setzt dem Eigennutz Grenzen. Die
Untersuchung des »moralischen Gehirns« zeigt, wie unser Gehirn den Gegensatz
zwischen Individuum und Gemeinschaft zu versöhnen versucht. Sie zeigt, welche
Teile des Gehirns eine wichtige Rolle beim Fördern des Altruismus und dem
Unterdrücken des Egoismus spielen, beim Einfühlen in den Mitmenschen und bei
der Bestrafung asozialer Gruppenmitglieder.
Der wichtigste Grund, warum ich dem Leser diese Forschungsergebnisse vor-
stelle, ist der, dass sie einen überzeugenden Beweis für die Tatsache liefern, wie tief
die Moral in unserer Physis verankert ist. Die Entdeckung der Spiegelneurone hat
verdeutlicht, dass Empathie oder Mitleiden – für Schopenhauer die Grundlage der
Moral – eine neurobiologische Tatsache ist. Die bildgebenden Verfahren der Hirn-
forschung haben aufgedeckt, dass sogar an den abstraktesten moralischen Dilem-
mata sehr alte Hirnstrukturen beteiligt sind, die wir mit allen Säugetieren teilen.
Neurochemiker entdeckten Stoff e, die eine Schlüsselrolle in Prozessen wie Bindung,
Angstunterdrückung und Aggression spielen. Moralische Systeme beruhen auf
einer neuronalen Basis, die zur Grundausstattung des Menschen gehört. Ohne die-
ses Fundament wäre moralisches Verhalten, wie unterschiedlich es auch sein mag,
ein ganz anderes oder völlig inexistent. Es würde sehr viel Mühe kosten oder gänz-
lich unmöglich sein, anderen Menschen in Not zu helfen, Kooperation zustande zu
bringen oder eine Gemeinschaft vor Gefahren von innen und außen zu schützen.
Unsere moralischen Instinkte sorgen dafür, dass wir diese Handlungen spontan ver-
richten oder uns die Fähigkeit dazu sehr schnell aneignen. Menschen, die aufgrund
einer Gehirnschädigung diese Intuitionen verloren haben, zeigen uns, wie schwierig
dies ist. Ihr moralisches Verhalten ist anders. Ihre Moral ähnelt der eines außerirdi-
schen Wesens, das seine sozialen Entscheidungen nur rational trifft
. Ohne morali-
sche Emotionen und Instinkte sind Menschen nichts anderes als Zombies.
Raum für die Vernunft
Unsere moralischen Werte und Normen sind selbstverständlich nicht das Ergeb-
nis der natürlichen Selektion, Moral ist eine Kombination von Emotion und Ratio,
von Natur und Kultur. Dies zu leugnen, wäre unsinnig. Doch da die Bedeutung
der Gefühle und Instinkte für unsere Moral lange Zeit vernachlässigt wurde –
auch in der Moralpsychologie nach dem Zweiten Weltkrieg –, möchte ich diesen
Aspekt stärker in den Vordergrund rücken. Auch Hutcheson wusste, dass sich
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Der moralische Instinkt
Moral auf die Vernunft gründet. Er war sogar der Erfi nder des Grundsatzes, auf
den sich Jonathan Bentham, der Begründer des Utilitarismus, berief: Handle so,
dass du das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl an Menschen
hervorbringst. Wie Hutcheson bin ich mir darüber im Klaren, dass unsere mora-
lischen Instinkte große Nachteile und Risiken in sich bergen, ja äußerst gefährlich
sein können, wie in diesem Buch zur Genüge dargestellt wird. So wie unsere Sin-
nesorgane fehlbar sind und uns täuschen können, so können uns unsere morali-
schen Instinkte in die Irre führen, wenn wir vor komplexen Problemen stehen, sie
können uns über zwischenmenschliche Konfl ikte falsch oder einseitig informie-
ren. Eine Prinzipienethik kann dann unsere Urteile korrigieren, sie wird jedoch
immer unseren tief verwurzelten moralischen Instinkten Rechnung tragen müs-
sen. Dass diese moralischen Intuitionen und Emotionen im Mittelpunkt dieses
Buches stehen, darf allerdings nicht als Plädoyer missverstanden werden. Wir sind
nicht die Gefangenen unserer angeborenen Moralinstinkte. Wenn wir auch ohne
sie nicht auskommen, so wird eine zukünft ige Moral doch vorzugsweise eine rati-
onale Ethik sein, die sich bis zu einem gewissen Grad von ihrer moralischen Natur
befreit hat. Doch diese Befreiung wird nie vollständig sein und erfordert zudem
wiederum ein tieferes Verständnis unserer Natur. Dazu möchte dieses Buch einen
Beitrag leisten.
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Die Bindungsmoral
Optimisten sind der Meinung, der Mensch sei von Natur aus gut. Sie haben recht.
Es ist zwar nur die halbe Wahrheit, aber es ist nicht zu leugnen, dass Menschen
sehr großherzig sein und sich für andere bedingungslos einsetzen können. Sie
würden niemals einem Mitmenschen bewusst Schmerzen zufügen. Wenn sie
einen anderen leiden sehen, leiden sie selbst. Sie wollen helfen, selbst wenn es sich
um Tiere handelt. Selbst der größte Pessimist kann nicht abstreiten, dass das Gute
tief im Menschen verwurzelt ist. In diesem ersten Kapitel möchte ich erklären, wie
es kommt, dass wir uns Mitmenschen gegenüber so selbstlos verhalten können
und warum uns vor Gewalt so graust. Es sind die zwei Seiten derselben Medaille.
Dieses ethische Verhalten hat, so glaube ich, seinen Ursprung in unserer großen
Abhängigkeit voneinander. Von allen Geschöpfen sind Menschenkinder diejeni-
gen, die am meisten der Sorge bedürfen. Ohne die Zuwendung von Eltern oder
Erziehern könn(t)en sie nicht überleben. Die Bindung zwischen Eltern und Kind
garantiert diese Fürsorge. Die Eltern sorgen sich um das Kind. Das Kind hat Ver-
trauen zu den Eltern. Es ist die ideale Voraussetzung für die Vermittlung von Wer-
ten und Normen. Das Kind fühlt sich geborgen.
Die Bindung vollzieht sich umso reibungsloser, je mehr die Beteiligten sich in
die Gefühle, die Nöte und die Gedankenwelt des anderen hineinversetzen können.
Und je leichter das Kind die Verhaltensweisen der Eltern nachahmen kann. Auch
Empathie und Imitation haben ihren Ursprung in unserer sozialen Abhängigkeit.
Die Folgen dieses Prozesses, den wir von früher Kindheit an durchlaufen, sind
gravierend. Wir verspüren ein tiefes Bedürfnis, Menschen in Not zu helfen, und
fühlen uns unbehaglich, wenn wir ihnen Schmerzen zufügen. Kummer und Leid
anderer lassen uns nicht unberührt, auch wenn wir manchmal selbst die Ursache
dafür sind. Die Bindungsmoral, von der dieses erste Kapitel handelt, umfasst alle
unsere Intuitionen, Fähigkeiten und Refl exe, die auf diese starken sozialen und
gefühlsmäßigen Erfahrungen zurückgehen. Die Gefühlsmoral erklärt die Selbst-
losigkeit gegenüber Personen, mit denen wir uns eng verbunden fühlen, und die
Abneigung gegen menschliches Leid. Diese Moral kann sich weit ausdehnen. Alles
und jeder kann Objekt der Bindung und der Empathie werden. Auch das Leid von
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