Der moralische Instinkt



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 Einleitung

Neue Metaphern

Poetische Metaphern sind oft  wirkungsvoller als akademische Prosa. Sie können 

eine Entwicklung in Gang setzen, wozu kunstvolle Sätze nicht imstande sind. In 

seinem 1725 erschienenen Buch »An inquiry into the original of our ideas of 

beauty and virtue« entwickelte der irische Philosoph Francis   Hutcheson eine Th

 e-


orie, in der er dem alten Gewissen, der geistigen Fähigkeit, die dem Menschen im 

sozialen Leben als Leitfaden dient, einen neuen Namen gab. Seine Zeitgenossen 

waren nicht gerade zimperlich mit dieser Fähigkeit umgesprungen. Die Mutigsten 

lehnten die Vorstellung ab, Gott habe dem Menschen eine »moralische Seele« ein-

gehaucht. Das Gewissen urteile aufgrund anerkannter Regeln, die Erziehung und 

Kultur uns beigebracht hätten. Wer eine andere moralische Erziehung genossen 

habe, besitze auch ein anderes moralisches Verständnis. Demnach gab es also 

Menschen mit einer ganz anderen Moral. Ja, demnach gab es sogar Menschen 

ohne Moral. Gewissenlose Menschen, die wir heute Psychopathen nennen wür-

den. Während uns dieser Gedanke heute kaum mehr schockiert, so war er für 

fromme Christen der damaligen Zeit unannehmbar. Ein Gewissen ohne Gott, 

ohne Seele oder immerwährende moralische Gesetze war undenkbar.

Der gläubige   Hutcheson suchte einen Weg, diese gotteslästerliche Schlussfolge-

rung zu vermeiden, und ersetzte das Gewissen durch den »moral sense«. So wie 

unser Auge eine erhabene Landschaft  bewundert oder wir unsere Nase angesichts 

einer stinkenden Müllhalde rümpfen, so unterscheidet unser moralisches Sinnes-

organ zwischen guten und bösen Handlungen. Menschen erkennen unmittelbar, 

was gut und schlecht ist. Das Urteil folgt unmittelbar aus der Wahrnehmung. 

Abgesehen von wenigen Ausnahmen besitzen alle Menschen den gleichen mora-

lischen Sinn, den Gott ihnen geschenkt hat. Auf diese Weise rettete   Hutcheson die 

Universalität und den göttlichen Ursprung der Moral.

Auf Hutchesons Zeitgenossen machte sein Konzept wenig Eindruck. Der fran-

zösische Schrift steller Denis   Diderot hielt diesen »sechsten Sinn« für ein Hirnge-

spinst, zwar geeignet, Dichter zu inspirieren, doch wissenschaft lich für fragwür-

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ISBN Print: 9783525404416 — ISBN E-Book: 9783647404417

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Der moralische Instinkt

dig. Eine Ausnahme bildete Jean-Jacques   Rousseau, der 1762 in »Emile, ou de 

l’éducation« (»Emile oder über die Erziehung«) begeistert von dem »göttlichen 

Instinkt« sprach. Julie   Bondeli, eine Freundin Rousseaus, war skeptischer. »Alle 

Welt spricht von ›moralischem Sinn‹ (sens moral), doch jeder gibt ihm einen 

anderen Namen«, konstatierte sie verwundert (Bodemann, 1874). Viele stießen 

sich an dem Begriff . Hutchesons französischer Übersetzer wählte anfänglich den 

Ausdruck »moralisches Gefühl«. Denn wer von einem moralischen Sinnesorgan 

sprach, musste doch eine Vorstellung haben, wo es sich im menschlichen Körper 

befand. Etwas konnte nicht gleichzeitig ein spezielles Organ sein und eine rein 

spirituelle Realität. Dennoch war   Hutcheson dieser Auff assung. Seine Bildsprache 

war sowohl modern als altmodisch. Modern, weil sie sich an den veränderten 

Zeitgeist anlehnte, der eine Vorliebe für Begriff e hatte, die auf wahrnehmbare, 

körperliche Objekte verwiesen, altmodisch, weil er Gott, Seele und immerwäh-

rende moralische Gesetze nicht loslassen konnte.

Doch Metaphern hat man nicht im Griff . Sie verselbständigen sich. Es dauerte 

nicht lange und die Metapher vom moralischen Sinn streift e alle immateriellen 

Inhalte von sich ab, die   Hutcheson ihr verliehen hatte. Sie erhielt einen Platz im 

Wortschatz von Wissenschaft lern, die er ganz sicher abgelehnt hätte. Mediziner 

brachten das menschliche Moralverhalten mit elektrochemischen Prozessen im 

Gehirn in Zusammenhang und suchten dort die Gebiete, die mit denjenigen 

Fähigkeiten verknüpft  waren, die Philosophen traditionell der Seele zuschrieben. 

Bald wurden die ersten Hypothesen aufgestellt über den genauen Ort des morali-

schen Sinns im menschlichen Gehirn (Verplaetse, 2006a). Der englische Psycho-

loge Cyril   Burt (1925) hielt die Begeisterung seiner Kollegen, die Hutchesons 

Metapher für bare Münze nahmen, allerdings für gänzlich unangebracht: »Kom-

men wir mit einer moralischen Nase oder einem moralischen Auge auf die Welt? 

Gibt es bestimmte Nervenfasern, die moralische Eindrücke zum Gehirn leiten? 

Befi ndet sich dort ein Gebiet oder ein Zentrum, das für die moralischen Prinzi-

pien oder Gefühle zuständig ist wie die bekannten, lokalisierten Hirngebiete für 

den Gesichts- oder den Geruchssinn? Wir wissen, dass dies nicht der Fall ist.« 

Gegenwärtig teilt jeder Burts Standpunkt. Im menschlichen Gehirn ist kein mora-

lisches Zentrum zu fi nden. Doch das bedeutet nicht, dass es keinen Zusammen-

hang zwischen Gehirn und Moralität gibt.

Als Metapher lebte der moralische Sinn fort und wurde von einer anderen 

Gruppe von Wissenschaft lern aufgegriff en, die   Hutcheson ebenfalls verabscheut 

hätte. Dieses Mal waren es die Evolutionsbiologen, die Moral nicht länger als Pri-

vileg der westlichen Kultur sahen. Sie erforschten das moralische Verhalten ande-

rer Völker und das soziale Verhalten der Tiere. Moral war kein bloßer kultureller 

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