Eines ist, das Sein schon da? Dann aber ist nicht das Eine das absolut Erste, sondern das
Eine und das Sein?
Plotin hatte gefragt: stimmt es denn überhaupt, dass das Eine früher ist als das Denken
(die Seele, der Geist), und er wird sagen: Ja. Nun fragt er: stimmt es, dass das Eine das
schlechthin Frühere ist, ist es früher als das Sein bzw. das Seiende? Dass es eine
gewisse Identität zwischen Einsheit und Sein gibt, bezeugt ja gerade der Gedanke, dass
jedes Seiende notwendig eines sei. Sollte die Einheit wegbleiben, wäre also gar kein
Seiendes mehr existent. Nur insofern der Mensch einer ist, kann er existieren. Ist es dann
aber nicht so, dass Eins und Sein dasselbe sind?
Das ist eine interessante und gar nicht so einfach zu beantwortende Frage. Sie läuft
darauf hinaus zu fragen, wie denn Plotin das ὄν gedacht hat, wie er „das Sein“ verstanden
hat. Plotin ist meiner Ansicht nach hier ganz der Schüler Platons und auch des Aristoteles.
τὸ ὄν, das Seiende, hat immer schon Bestimmungen an sich. Das Seiende ist immer
Etwas. Insofern es aber Etwas ist, ist es immer schon eine Vielheit. Es enthält
Bestimmungen in sich (Leben, Idee, Zahl etc.). Dann kann es aber schon ganz
ursprünglich nicht identisch sein mit dem Einen und der Einheit. Ganz zu schweigen von
der Frage, inwiefern es ein Nicht-sein gibt und wir selbst diesem eine Einheit zusprechen
können, ist es für Plotin keineswegs möglich, das Sein als ein völlig Abstraktes,
Bestimmungsloses zu denken. Das bedeutet dann aber, da ja jedes Seiende eines sein
muss, dass das Eine auch früher ist als das Seiende und das Sein. Das Eine ist das
absolut Erste.
Das Eine ist also, soviel haben wir nun verstanden, herausgehoben aus der Ordnung des
Seienden. Ich hatte ja schon pro forma vorhin auf die Seinsstufen verwiesen, in denen
sich Plotins Denken aufrichtet. Die höchste Stufe bildet das Eine. Das möchte ich nun
noch am Ende dieser Stunde aus dem bereits Gesagten heraus verstehen. Was lässt sich
dazu sagen? Warum ist das Eine das Höchste in der Ordnung des Seins?
Zunächst einmal ist es das absolut Erste im Sinne eines Grundes. Das Eine ist der Grund
von Allem. Nur indem das Eine ist, ist alles Andere, lässt sich Alles Andere denken. Plotin
erklärt sogar in der Enneade VI 9, dass das Eine die φύσις von Allem ist, d.h. dass es die
schaffende Quelle von Allem ist. Ich finde das problematisch - aus Gründen, die ich später
erläutern werde. Aber es lässt sich hier feststellen, dass das Eine das Höchste ist als
Grund und Quelle des Seins.
Damit verbindet sich ein anderer Ordnungsfaktor im Sein. Der geht auf Platon zurück. Ich
hatte Ihnen ja in der letzten Stunde bereits dargelegt, dass die Idee (eines Tisches) mehr
Sein enthält als ihr Abbild (der einzelne Tisch). Die unwandelbare Idee ist intensiver als
der vergängliche Einzelgegenstand. Für Plotin heißt das: je ein-heitlicher etwas ist, desto
mehr, intensiver ist es. Dieser Gedanke „funktioniert“ wie der Platonische. Die Tapferkeit
als Idee ist einheitlicher als die vielen tapferen Handlungen. Die Seele ist z.B. einheitlicher
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als ein Baum, obwohl sie - wie gesagt - niemals die Einheit selber sein kann. Das müsste
dann bedeuten, dass das Eine selber schlechthin am meisten Sein enthält. Damit ließe
sich verbinden, dass aus ihm dann alles stammt. Darauf werden wir in zwei Wochen
zurückkommen.
Zuletzt haben wir heute viel über das Verhältnis von Einheit und Vielheit gesprochen.
Dieses Verhältnis ist eigentlich dasselbe wie das von Sein und Nichtsein, doch in seiner
konstruktiven Bedeutung ursprünglicher. Die Welt, in der wir so leben, ist eine der
Vielheiten. Wir haben es mit Seiendem zu tun, seinen vielen Bestimmungen, wir haben es
mit Körpern zu tun, nicht nur mit dem eigenen, der schon eine Vielheit ist, indem er in Alter
und Krankheit sich in seine Einzelteile auflöst, wie wir zurecht sagen. Hier legt sich eine
Seinsordnung nahe, wonach die polymorphe Welt unten ist und das herausgehobene Eine
nun tatsächlich oben. In dieser Hinsicht führt der philosophische Weg nach oben.
Erkennen als Einheitserkennen ist ein Weg hinaus aus dieser Welt, ein Weg zunächst zur
Seele, dann zum Geist und zuletzt zum Einen.
Dazu dann in der nächsten Stunde.
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3. Stunde
Das Eine, wir hatten in der letzten Stunde über die Geschichte des Einen bis zu Plotin
gehört. Das Eine ist seit dem Beginn der Philosophie überall und stets irgendwie das
Thema. Also selbst, wenn Thales sagt: Alles ist Wasser, ist das Eine mitgedacht. Denn der
Satz sagt, dass es ein einheitliches Prinzip von Allem gibt, eine einheitliche Herkunft von
Allem, eine einheitliche Herkunft von Allem, d.h. eine einheitliche Herkunft des Vielen.
Wir hatten deshalb in der letzten Stunde uns vor allem mit der Frage nach dem Verhältnis
von Einheit und Vielheit auseinandergesetzt. Dabei kam heraus, dass das Eine allem
vorausgesetzt werden muss, selbst dem Sein. Denn der Mensch muss immer ein Mensch
sein, bevor er Mensch ist. D.h. das Sein ist für Plotin immer schon ein determiniertes sein.
Das Seiende „Mensch“ hat immer schon die Bestimmung „Mensch“, die kann aber nur
sein, wenn eben ein Mensch ist - man könnte auch sagen: wenn die Bestimmung eine ist.
Das Eine ist die Voraussetzung von Allem - ohne das Eine gibt es nichts.
In diesem Verhältnis von Einheit und Vielheit ergibt sich eine asymmetrische Ordnung, in
welcher das Eine über der Vielheit steht. Das Eine ist in der Höhe, ist oben, ist außerhalb.
Damit kommt ein Problem in Plotins Philosophie, das ich erst einmal ein wenig ein- und
ausführen muss.
Wir leben in einer Welt. Was heißt das? Wir haben es mit Dingen und Menschen, anderen
Menschen zu tun. Womit haben wir es sonst noch zu tun? Man könnte sagen, dass es
einmal eine Zeit gab, in der wir es auch mit Gott zu tun hatten. Gott aber ist weder Ding
noch Mensch, jedenfalls Gott in der trinitarischen Ordnung von Vater, Sohn und Heiligem
Geist. Gehörte Gott aber zur Welt? Nun kann man natürlich fragen: was ist Welt? Was
heißt Welt? Aber die Tradition der Philosophie hat die Welt zumeist mit der Natur
identifiziert. Natur heißt hier natürlich nicht Urwald und Tiger, sondern ein durch die
Kausalität vernetztes Verhältnis von Dingen und Menschen. Alles in diesem Verhältnis ist
„natürlich“, alles geschieht in einer von der Natur vorgegebenen Ordnung.
Gott aber gehörte nicht zu dieser Ordnung. Gott braucht nicht zu essen, er braucht keinen
Beruf zu ergreifen, er braucht sich nicht fortzupflanzen, jedenfalls nicht so, wie wir das tun.
Er ist eben nicht Ding und nicht Mensch, gehört nicht zur Ordnung der Natur. Nun kann
man sagen, dass wir in der Welt sind, Dinge und Menschen sind in einer naturgemäßen
Ordnung, die man Welt nennen kann. Dieses Sein, diese Welt bildet also eine spezifische
Immanenz aus. In diesem Wort steckt das lateinische manere, bleiben. Als Menschen
haben wir eine Bleibe in der Welt.
Die Sache ist aber: man kann nur in etwas sein, wenn es ein Außerhalb gibt. Sie können
nur in einem Haus sein, wenn es etwas außerhalb dieses Hauses gibt. Dieses Außerhalb
nennt die Philosophie Transzendenz. Das Wort stammt vom lateinischen Wort
transcendere, übersteigen. Überstiegen werden dann die Dinge und Menschen in der
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