Die nun folgende Beschreibung legt sich zunächst darauf, die Stille und Leere des
Zustandes zur Sprache zu bringen. In der vollkommenen Vereinigung war kein Gefühl da,
kein λόγος (kein Begriff), keine νόησις (kein Denken), ja es war auch kein αὐτός (kein
Selbst) mehr, „sondern gleichsam hinaufgerissen, oder vielmehr in ruhiger Gotterfülltheit
ist er in die Abgeschiedenheit (ἐρημία, auch Einsamkeit) eingetreten, in einen Zustand der
Bewegungslosigkeit, und er wird in seinem ganzen Sein nirgends abgelenkt, auch nicht zu
sich selbst hingedreht, völlig stillstehend und gleichsam selbst Stillestehen“. Der Begriff
der „Abgeschiedenheit“ ist dann in der Geschichte der „Mystik“ ein Topos, eine tradierte
Denkweise geworden. Das Denken, das sich dem Geheimnis näher, sei das das Eine, sei
es Gott, geschieht in einer „Abgeschiedenheit“, sei diese eine innere oder äußere. Der
Eremit denkt und lebt allein, einsam, jenseits der Menschen.
Wichtig ist hier auch, dass die Erfahrung des Einen offenbar darin besteht, dass nicht ein
Subjekt eine Erfahrung macht, sondern dass das Subjekt die Erfahrung wird, es gibt
keinen Unterschied zwischen mir und der Erfahrung. Das liegt in Plotins Aussage, dass
der Mensch dort oben nicht stillsteht, sondern selber Stillstehen wird.
Das Ziel des Aufstiegs ist aber die innere Kammer, das ἄδυτον, das Unzugängliche, das
Allerheiligste in der Architektur des Griechischen Tempels, der Ort, an dem die
Götterstatue aufgebaut war und an den nur der Priester selber gehen konnte. Er betritt
diese innere Kammer, das Unzugängliche, und verlässt sie wieder. Plotin meint, dass das
erste, was der, der in der Kammer war, sieht, die Götterbilder des Tempels sind. Sie sind
die zweiten Schaunisse. Dann heißt es: „Jenes aber war wohl kein Schaunis, sondern eine
andere Weise des Sehens, Aussichtreten (ἔκστασις), sich selbst Einfachmachen und
Darangeben, Hinstreben zur Berührung und Stillstehen und Bedachtsein auf Anmessung;
nur so kann man das in der innersten Kammer erblicken. Blickt er aber auf andere Weise,
so erscheint ihm gar nichts.“ Ein Wort müssen wir vielleicht noch zur Kenntnis nehmen.
Plotin nennt den Zustand hier ἔκστασις, aus sich Heraustreten. Das ist ein wichtiges
Wort, das den Aufstieg zum Höchsten am Besten trifft. Doch muss man sich stets darüber
im Klaren sein, dass das Höchste, zu dem hier aufgestiegen wird, sich im Inneren des
Menschen befindet.
Ganz zuletzt nennt Plotin den Aufstieg eine πορεία, eine Reise, einen Weg. Vollzieht man
ihn ganz bis zuletzt, wird man nicht dort bleiben können, jedenfalls so lange die Seele
noch sich in einem Leib befindet. Die Enneade schließt mit dem berühmten Satz: „Das ist
das Leben der Götter und der Philosophen, Abscheiden von allem andern, was hienieden
ist, ein Leben, das nicht nach Irdischem lüstet, Flucht des allein Einen zum allein Einen.“
Ein Platonisches Motiv natürlich - ich hatte schon darauf hingewiesen, der Philosoph strebt
nicht nach den Dingen der Welt, sondern er strebt danach, diese zu verlassen. Er strebt
nach Freiheit. Philosophie ist demnach ein Erotisches Streben nach der Freiheit.
Was ist abschließend dazu zu sagen? Ich greife das Letzte auf, allerdings eine
Interpretation. Die Philosophie muss frei sein. Der Philosoph darf sich nicht (ich betone:
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darf sich nicht) in der Welt der Dinge heimisch machen. Warum nicht? Weil er so nur
wiederholt, was in der Welt der Dinge immer schon ist. Philosophie ist aber im Sinne des
ἄφελε πάντα, des Lass los von Allem, eine Befreiung. Die Philosophie muss m.E. das
Andere zu denken versuchen, eben das, was hier nicht ist, was vielleicht niemals hier ist,
eventuell aber eben doch, z.B. in einem gerechteren Gemeinwesen. Dieses gerechtere
Gemeinwesen kann der Philosoph nur kennen, wenn er in der Lage ist, das schon reale zu
übersteigen, es zu verlassen (Philosophie muss hyperpolitisch sein, um politisch sein zu
können). Daher ist die neoplatonische Initiative wichtig. Um das Mögliche zu kennen,
müssen wir das Unmögliche kennen.
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5. Stunde
Im Aufbau von Plotins Denken befindet sich unter der ersten Hypostase, der ersten
Seinsstufe oder Überseinsstufe des Einen die Stufe des Geistes. Dazu muss ich etwas
allgemeiner ausholen. Denn bereits das Wort „Geist“ ist mehrdeutig. Griechisch heißt
Geist zunächst νοῦς, was von νοεῖν, Denken, kommt. Dann gibt es ein theologisches
Verständnis von Geist, das πνεῦμα heißt. Dieses Wort bedeutet ursprünglich Atem,
Hauch. Dann ist es z.B. von Paulus als die Fülle des göttlichen Geistes gefasst worden. Im
Lateinischen gibt es drei Begriffe, die den Geist betreffen, animus, die Geistseele, mens
und spiritus. Daraus ist im Englischen mind und spirit geworden. Mens betrifft mehr das
Erkenntnis- und Denkvermögen des Menschen, spiritus ist die Übersetzung eher von
πνεῦμα. Im Deutschen können wir Geist mit Verstand und Vernunft erläutern. Als Verstand
ist der Geist das, was im Englischen mind bedeutet, eben das Vermögen der Erkenntnis.
Doch schon mit der Vernunft ist das nicht so einfach, denn es kann ja auch die Welt
„vernünftig“ sein, aber gewiss wiederum nicht „geistig“. Geist ist einer jener Begriffe der
deutschen Philosophie, die schon in sich - so sagen Kritiker - vollkommen unklar sind.
Doch gerade die Dunkelheit der deutschen Sprache hat natürlich Philosophen immer
wieder angezogen, nicht nur deutsche Philosophen übrigens.
Schauen wir uns einmal die griechische Philosophie vor Plotin an. Denn auf sie bezieht er
sich sehr häufig, gerade in seiner Aufassung des νοῦς. Da ist zuerst Parmenides, den ich
schon erwähnt habe. Er sagt etwas Entscheidendes für die gesamte Geschichte der
Philosophie. Manchmal werden solche Sätze ausgeprochen und 2500 Jahre später denkt
man noch an sie und über sie nach. Er sagt: „Denn das Selbe ist Denken und Sein.“ Für
Denken steht dort νοεῖν, das Verbum des Substantivs νοῦς, Geist. Was bedeutet der
Satz? Er besagt, dass es eine Identität zwischen Denken und Sein gibt. Das wiederum ist
nicht so gemeint, als gäbe es keinen Unterschied zwischen Denken und Sein.
Selbstverständlich gibt es den, sonst hätte Parmenides den Satz ja gar nicht gesagt, sonst
wäre der eine bloße Banalität. Der Satz sagt, dass das Sein nur insofern ist, als es
gedacht wird. Das ist natürlich eine schwerwiegende Behauptung, die dann in der
gesamten Geschichte des Idealismus immer wieder bestätigt wurde. Es gibt nichts, was
nicht gedacht wird, Bewußtsein ist Sein. Doch wie ist es mit dem Realismus? Können wir
wirklich sagen, dass es das Universum nur gibt, weil und indem wir es denken? Waren
denn die Dinosaurier nicht auch ohne uns (Fossilien)?
Wie dem auch sei. Parmenides sagt diesen Satz und er hat gewirkt. Später hat dann ein
gewisser Anaxagoras Folgendes über den νοῦς gesagt: „Der Geist allein ist unvermischt,
er ist unendlich und er herrscht selbständig, für sich.“ Der Geist sei ἄπειρον, er kennt
keine Grenze, er ist mithin ewig. Er herrscht selbständig, d.h. er ist unabhängig, man
könnte sagen „absolut“, wobei das missverständlich ist, weil der „absolute Geist“ ein
besonderer Begriff der Hegel’schen Philosophie ist. Unabhängig meint hier, dass z.B. der
Körper keine Macht gegen ihn hat. Vielmehr wird ja der Körper vom Geist bzw. der
Vernunft beherrscht. Der Körper tut so, was ich bzw. der Geist, will, vorschreibt. Gewiss
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