Das ist für Plotin verbindlich. Auch für ihn ist das Eine außerhalb des Seins, absolut
transzendent, nicht in der Immanenz der Welt zu finden. Um das Verhältnis vom Beginn
wieder aufzunehmen: das Eine befindet sich jenseits der Vielheit. (Wie gesagt: würden wir
dem Einen ein Sein zusprechen, wäre es schon zwei, d.h. es wäre Vielheit.) Die Vielheit,
wir hatten das in der letzten Stunde gesagt, muss eine Einheit voraussetzen, weil sie ja
nur durch eine Einheit Vielheit sein kann, Vielheit ist immer eine Vielheit. Diese
Voraussetzung gilt nach Plotin absolut. Das Eine ist der absolute Ursprung von Allem
(ἀρχή παντῶν).
Das ist natürlich eine schwerwiegende Aussage. Das kann nur gerechtfertigt werden durch
das logische Verhältnis von Einheit und Vielheit. Es gibt eine Welt der Vielheit, die
notwendig einen Ursprung haben muss. Dieser Ursprung ist einer. Vielleicht ist es hilfreich,
wenn ich hier eine Differenz einführen kann, die wichtig ist. Das Eine eint. Das Eine ist das
Einende. Das ist nicht unwichtig. Die Vielheit der Welt ist eine Zerstreuung, die keine
deutliche Einheit zeigt. Warum eigentlich meinen wir, dass es eine Einheit der Welt gibt,
eine Universalität? Was berechtigt uns, zu meinen, dass die Menschen am Amazonas
genauso denken wie wir? Genauso denken bedeutet: in denselben Formen (natürlich nicht
inhaltlich identisch).?
Für Plotin liegt der Sinn dieser Enheit im einenden Einen, d.h. in einer alleresten Einheit
von Allem, die sich so verwirklicht, dass sie alles in Eins eint. Das ist ein altbekannter
Gedanke der abendländischen Metaphysik. Das zerstreute Einzelne, die Vielheit, kann
ihren Ursprung nicht aus einer Zerstreuung nehmen. Zerstreuung setzt semantisch
voraus, dass etwas Einheitliches zerstreut werden muss. Das bedeutet, dass die
Begründungsverhältnisse im Zerstreuten sich nicht symmetrisch in den Begründungen
wiederfinden lässt. Es wäre metaphysisch sehr schwer zu verstehen, dass jedes Einzelne
sich gesondert beweisen müsste, dass es existiert. Nein, jedes Einzelne, das in
irgendwelchen Zusammenhängen sich befindet, muss, wenn es sich in einem sinnvollen
Zusammenhang wissen will, eben ein Eines voraussetzen.
Das bedeutet, dass sich das Viele von diesem Einen insofern unterscheidet, als das Viele
eine Vielheit von Voraussetzungen kennt, das Eine aber schlechthin voraussetzungslos
ist. Mit anderen Worten: in der Vielheit, in der Welt, ist alles pural zu begründen, (alles hat
seine Gründe, also wirklich Mehrheit? ), aber diese Welt muss, jedenfalls in den Augen
Plotins, selbst einen Ursprung haben. Der aber muss dann einheitlich sein, weil sich die
Schöpfung der Vielheit als Vielheit kaum denken lässt. D. h. in der Welt der Vielheit ist
alles vielfältig zu begründen, doch der erste Grund von allem, das Eine, hat keinen Grund
mehr vor sich.
Das muss dann klar sein. Ein erster Grund kann nicht selber noch begründet werden,
denn dann wäre er nicht der erste Grund. Das ist freilich ein seltsamer Gedanke, Es gibt
ein Eines, ein Einendes, das es von vornherein schon gibt, weil sich sonst der sinnvolle
Zusammenhang der Vielheit nicht denken ließe. So heißt es: „So ist es denn gar kein
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Wunder - oder ist es gerade ein Wunder? -, wie die Vielheit des Lebens aus der Nicht-
Vielheit stammt, und wie die Vielheit nicht dasein konnte, wenn es nicht das vor der
Vielheit gäbe, das Nicht-Vielheit ist. Denn der Urgrund zerteilt sich nicht auf das Ganze;
denn zerteilte er sich, so würde er damit das Ganze vernichten, und dieses würde auch
nicht von neuem entstehen können, wenn der Urgrund nicht in seiner Andersheit für sich
bliebe.“ (III, 8) Es muss demnach ein absolut transzendentes Eines geben, eine Nicht-
Vielheit, die die Vielheit selber ermöglicht, eint. Dieses begründende, einende Eine aber
bleibt selber gleichsam ohne Grund. Denn hätte es selber wieder einen Grund wäre es
nicht absolut und nicht absolut transzendent.
Dieses Verhältnis nun, dass das Viele auf ein Eines begründet wird, bildet die Struktur des
ganzen Plotinschen Denkens. Vieles wird immer auf Eines zurückgeführt - immer, d.h.
dass diese Bewegung des Zurückführens sich nicht nur in diesem Verhältnis finden lässt.
Zudem ist sie jeweils als ein Aufstieg zu verstehen. Ich hatte schon darauf hingewiesen,
dass das absolut Transzendente sich über allem anderen befindet. So heißt es einmal:
„Deshalb führt denn auch die Zurückführung (anagoge) (des Begründeten auf den Grund)
überall auf ein Eines. Und bei jedem Einzelnen gibt es ein Eines, auf das man es
zurückführen kann, auch dieses All auf das vor ihm liegende Eine, das aber noch nicht
einfachhin Eines ist, bis man bei dem einfachhin Einen ankommt; dieses aber lässt sich
nicht mehr auf ein anderes zurückführen. Wenn nun dieses Eine - das heißt eben den in
sich bleibenden Urgrund - bei der Pflanze und das Eine beim Lebewesen, das Eine bei der
Seele und das Eine beim All ins Auge fasst, so hat man jedes mal das Machtvollste und
das eigentlich Wertvolle.“ (III, 8) Die Rückführung von Vielheit auf Einheit gibt es demnach
nicht nur im Verhältnis des Einen Urgrunds zum All, des Einen einenden Nicht-Vielen zum
Vielen, sondern überhaupt in Verhältnissen, in denen es um das Viele und Eine geht.
Es lassen sich hier drei Stufen unterscheiden: 1. von den Einzelerscheinungen zu den
Ideen; 2. von der Welt als Einheit aller Erscheinungen zum seienden Einen als der Einheit
aller Ideen; 3. vom seienden Einen zum absoluten Einen, das absolut vielheitslos ist und
darum keiner weiteren Rückführung mehr bedarf. Die Bewegung des Ganzen findet man
schon grundsätzlich bei Platons Erläuterung des Jenseits des Seins. Bei Plotin erhält sie
aber einen etwas anderen Aufbau.
Zu 1. Es gibt jeweils immer Vieles, nämlich die einzelnen erscheinenden Dinge, die auf ein
Eines - auf eine Idee - zurückgeführt werden müsse. Pflanzen, die Vielheit von Pflanzen,
erfordern eine Einheit der Pflanze, d.h. die Eine Pflanzen-Idee. Dabei ist es der Fall und
auch entscheidend, dass die Idee eben über der Vielheit sich befindet, d.h. der Vielheit
transzendet bleibt.
Zu 2. Diese Einheit im Verhältnis zur Vielheit findet sich aber nicht nur im Verhältnis von
Einzelerscheinung zur Idee, sondern im Verhältnis aller Erscheinungen, d.h. des Alls, der
Welt, zu ihrer spezifischen Einheit. Die Einheit des Weltganzen setzt eine Einheit
außerhalb dieses Weltganzen voraus. Diese Einheit hat selber Ideencharakter. D.h. es gibt
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