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dig zu machen oder in Gaststätten den Siphon mit
Bier gefüllt zu bekommen, wurde ich mit dem Stadt-
teil Berlin-Schöneberg recht vertraut.
In Berlin traf ich den ebenfalls bei seinen Verwand-
ten gestrandeten Klein Nossiner Siegfried Grunst.
Trotz der wenig ermutigenden Erfahrungen, mit
meinen beiden Kösliner Schulkameraden in die
hinterpommerschen Heimatorte zu gelangen, verein-
barte ich mit ihm eines Tages doch einen weiteren
Rückkehrversuch. Wir erreichten Stettin, mussten
aber eine Strecke durch die Stadt laufen, um den
Bahnhof zur Weiterreise zu erreichen. Unterwegs
wurden wir von jungen Polen sehr aggressiv beläs-
tigt, wir ließen uns aber dadurch von unserem Ziel
nicht abhalten. Am Bahnhof bestiegen wir bei schö-
nem Wetter den Kohlentender einer Lokomotive.
Wir nahmen an, darauf die einzigen Fahrgäste zu
bleiben.
Jeder behielt seinen Rucksack auf dem Buckel. Die
Lokomotive zog zahlreiche Personenwagen für
Zivilisten und russisches Militär. Dazwischen befand
sich eine noch größere Zahl zum Teil offener Güter-
wagen, die mit Beutegut voll bepackt waren, darun-
ter auch Einrichtungsgegenstände aus privaten
Haushalten wie beispielsweise schon stark ge-
brauchte Toilettenschüsseln. Wir glaubten, mit dem
Platz auf dem Kohlentender besonders klug gehan-
delt zu haben, denn es hieß, dass alle Züge in der
Erneuter
Versuch,
nach
Klein
Nossin zu
gelangen
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Nähe Stettins langsam führen, auf freier Strecke
halten würden und dies dann das Signal sei, den
mitreisenden Deutschen das Gepäck zu entwenden
und es aus dem Zug zu werfen. Aber schon vor
Abfahrt des Zuges sahen wir uns von einigen Gestal-
ten umringt, die sich wie routiniert und stumm um
uns gesellten. Dennoch gelangten wir unversehrt bis
zu einer Blockstelle auf der Strecke nach Stargard.
Hier hielt der Zug längere Zeit, und wir stiegen aus,
um uns die Füße zu vertreten. Da wurden wir von
einer Gruppe Sowjetsoldaten in ein lebhaftes Ge-
spräch über unser Reiseziel und Hitler-Deutschland
verwickelt. Sie drohten damit, uns nach Sibirien
mitnehmen zu wollen. Zum Glück baten sie uns
nach einiger Zeit, von einem etwas entfernt liegen-
den Hause zwei Kannen Teewasser zu holen. Bevor
wir das Haus erreichten, ertönte von der Lokomoti-
ve das Signal zum Einsteigen. Und als dann der Zug
abfuhr, warfen wir die Kannen fort und rannten so
schnell wir nur konnten auf und davon, über Wiesen
und Weiden, an deren Zäunen Felle geschlachteter
Tiere wie Symbole drohender Gefahren hingen. Wir
liefen lange neben dem Bahndamm her, bis wir
wieder auf eine Straße in Richtung Stettin kamen.
Streckenweise war der Bahndamm übersät von
ausgeplünderten Koffern, Taschen und Kartons, von
Unmengen deutschem Papiergeld und Lebensmittel-
karten und menschlicher Notdurft.
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Ich weiß nicht mehr, ob wir die ganze Strecke von
der Blockstelle bis Stettin zu Fuß zurücklegten,
jedenfalls kamen wir gegen Abend wieder in Stettin
an. Hier erwies sich unsere Furcht vor neuen
Schwierigkeiten als völlig unbegründet. Wir wurden
in der Nähe des Bahnhofs lediglich von einem älte-
ren Manne nach alten deutschen silberhaltigen
Fünfmarkstücken gefragt. Enttäuscht von unserem
Misserfolg fuhren wir wieder nach Berlin zurück.
Da ich nur unregelmäßig bei einer amerikanischen
Militäreinheit beschäftigt war, hatte ich zwischen-
durch Hamsterfahrten in die Magdeburger Börde
unternehmen können, die ich aus dem Geographie-
unterricht als fruchtbare Gegend in Erinnerung
hatte. Von hier schleppte ich Kartoffeln, Gemüse
und Obst an, durchaus nicht immer legal erworben.
Nach einer Verordnung der Militärregierung
mussten alle Personen, die nach einem Stichtag – es
mag der 20. Juli oder August 1945 gewesen sein –
nach Berlin zugezogen waren und im September
1939 hier nicht ihren Wohnsitz gehabt hatten, Berlin
verlassen bzw. sie erhielten keine Lebensmittelkar-
ten mehr. Ich war davon betroffen, weil ich mich erst
zwei Tage nach meiner Ankunft – also am Tag nach
diesem Stichtag – in Berlin polizeilich gemeldet
hatte.
Genaue Daten über meinen Aufenthalt in Schöne-
berg habe ich leider nicht mehr ermitteln können, da
Wieder
in Berlin
und in
Richtung
Magde-
burg
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nach Auskunft der Senatsverwaltung von dieser Zeit
keine Melderegister mehr vorhanden sind.
Was jetzt tun? Wieder nach irgendwo? Kurz ent-
schlossen entschied ich mich für eine Bahnfahrt auf
der mir schon bekannten Strecke Berlin–Magdeburg.
Wo sich allem Anschein nach überleben ließ, wollte
ich aussteigen. Unmittelbar vor und nach Kriegsen-
de waren alle Bahnfahrten kostenlos. Aber die Züge
waren stets total überfüllt und auch die Trittbretter,
Puffer und Dächer immer voll besetzt. So wählte ich
auch für diese Fahrt bei schönem Wetter gleich das
Dach eines Wagens als Sitzplatz, um die Entschei-
dung über das Ziel meiner Reise von hier oben aus
zu treffen. Noch vor Abfahrt des Zuges – genaue
Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge existierten
noch nicht wieder – verzehrte ich meine Marschver-
pflegung, eine Portion Kartoffelsalat in einem ver-
schraubten Marmeladenglas. In Groß Kreuz, einer
Bahnstation nach Werder, verließ ich den Zug und
ging zum Bürgermeister, um bei ihm nach einer
Bleibe zu fragen. Er empfahl mir, den Bauern Karl
Stoof aufzusuchen. Dort könne ich sicher bleiben.
Mit zwei ebenfalls von ihren Familien getrennten
Jungen aus Ortelsburg und Allenstein, mit Bernhard
und Karl-Heinz, teilte ich hier mein Schicksal in
einem Raum, der bisher als Waschküche genutzt
worden war. Jeden Abend gab es Pellkartoffeln und
Quark satt, Heiligabend 1945 zur Abwechslung
Arbeit
und
Leben in
Groß
Kreutz
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