Noch einmal: wir haben ja schon gesehen, wie gemäß der „Negativen Theologie“ das Eine
alle Bestimmungen verliert. Für Plotin ist das evident: das Eine ist jenseits des Seins, d.h.
auch jenseits jeder Wirklichkeit, jeder Aktualität, auch jenseits des Geistes und des
Denkens. Das Eine denke auch selber nicht. Es erfasst sich nicht selbst, hat also auch
kein Selbstbewusstsein (wie auch, ohne Denken). Es ist erhaben über das
Selbstbewusstsein und jeden Denkakt. Es braucht sozusagen gar nicht zu denken. Es
steht über ihm wie es über Allem steht.
Was soll das also heißen: „Über-Denken“? In der schon bekannten Enneade VI 9 spricht
er einmal davon, dass dieser Zustand außerhalb der Welt, dieser innere Zustand im Einen,
das wir in uns selbst finden, eine Gegenwärtigkeit sei, die höher ist als alles Wissen. Auch
das ist ein Versuch, die Erfahrung, um die es hier geht, zu bezeichnen. Wenn wir die
Gegenwart von etwas erfahren, nur die Gegenwart, dann ist das so ein „Stillstehen“, ein
Offensein, nicht für etwas, das anwesend ist, sondern für die Gegenwart selber, für die
Gegenwärtigkeit der Gegenwart.
Die Erfahrung, um die es hier geht, ist die sogenannte „Henosis“. Es geht um die
Vereinigung, Einswerden mit dem Einen. Porpyhrios berichtet, dass Plotin diese Erfahrung
in den fünf Jahren, in denen Porphyrios bei ihm war, viermal gemacht habe. Der Zustand,
um den es also geht, scheint für Plotin lokalisierbar zu sein, auch wenn er über ihn selber
keine Angaben machte und ja auch keine machen konnte. Denn wie soll man von dem
Unsagbaren sprechen?
Ich hatte Ihnen ja schon in der letzten Stunde etwas vorgelesen aus der Enneade VI 9, die
auch in dieser Hinsicht so etwas wie eine Programm-Enneade ist. Sie werden wenig
verstanden haben von dem, was ich da vorgebracht habe, aber vielleicht ist dem einen
oder anderen die Sprache aufgefallen, die Plotin hier, ungefähr im letzten Drittel der
Enneade VI 9 spricht. Mit ihr, so meine ich, versucht er auf eine andere Weise auf das
Unaussprechbare, das Unsagbare zu reagieren.
Wir kennen ein Wechsel in der Redeweise, im Sprechstil, auch schon von Platon. Stets,
wenn es um Einsichten geht, die womöglich nicht in klarer Darstellung zugänglich sind,
wählt Platon den Mythos. Sie wissen, dass es auch in Platons Dialogen Mythen gibt,
allerdings Mythen, die Platon geschrieben hat, die also sich zwar der allgemein bekannten
Mythen da und dort bedienen, die aber doch eigenständig sind und daher zuweilen noch
rätselhafter werden als die bekannten Mythen der Griechen ohnehin schon sind. Freilich -
ich muss etwas vorsichtig sein mit diesem Hinweis auf den Mythos bei Platon. Man könnte
nämlich auch sagen, dass Platon gerade dort zu Mythen greift und diese schreibt, wo der
gewöhnliche Zuhörer mit seinem Verstand nicht mehr folgen kann. Dann wäre der Mythos
so etwas wie eine vereinfachende Darstellung dessen, was sonst nur die Philosophen
wirklich zu verstehen in der Lage sind. Vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, beide
Ursachen irgendwie zu verbinden. Das philosophisch Undenkbare lässt sich in mythischer
Sprache „schöner“ darstellen als in den letzten und höchsten Begriffen der Philosophie.
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Jedenfalls ist es in der Enneade VI 9 so, dass Plotin das Eine in seinem Verhältnis zum
Guten sehr ausführlich darstellt, und zwar in einer argumentierenden, klaren Sprache.
Dann heißt es einmal: „Wenn du aber deswegen, weil es nichts von diesen Dingen ist, mit
deinem Erkenenn ins Unbestimmte gerätst, so nimm deinen Standort eben in den
genannten Dingen und von da aus schau. Beim Schauen vergeude aber deine Gedanken
nicht in der Richtung nach außen; denn es liegt ja nicht irgendwo und läßt die übrigen
Dinge seiner beraubt sein, sondern für den, der es greifen kann ist es … gegenwärtig, wer
aber zu schwach dazu ist, für den ist es nicht gegenwärtig.“ Der Text wechselt also in die
offene Ansprache, zum Du. Das tut Plotin auch an anderen Stellen. Das erwähnte ἄφελε
πάντα! ist ja auch schon eine direkte Ansprache.
Wichtig hier ist dann auch, dass Plotin differenziert, sozusagen die Frage stellt: gibt es
eine Fähigkeit zur Schau? Gibt es Menschen, die die Gegenwärtigkeit der Gegenwart
erfahren können (vielleicht ertragen können) und solche, die es nicht vermögen, vielleicht
weil sie zu sehr an der Welt hängen. So heißt es in der selben Enneade etwas später: Die
Seele müsse frei von Form und Gestalt werden. „Ist dem so, dann muß man von allem,
was außen ist, sich zurückziehen und sich völlig in das Innere wenden, man darf keinem
Äußeren mehr geneigt sein, sondern muß das Wissen von all dem auslöschend, schon
vorher in seiner eigenen Haltung, jetzt aber auch in den Gestalten des Denekns, auch das
Wissen von sich selbst auslöschend in die Schaue Jenes eintreten; und ist man so mit
Jenem vereint und hat genug gleichsam Umgang mit ihm gepflogen, so möge man
wiederkehren und wenn mans vermag auch anderen von der Vereinigung mit Jenem
(συνοὐσία) Kunde geben; in solcher Vereinigung stand vielleicht auch Minos, weshalb er
in der Sage als ‚des Zeus vertrauter Genosse‘ galt, und dieser Gemeinschaft gedenkend
gab er als ihr Abbild seine Gesetze, durch die Berührung des Göttlichen befruchtet zur
Gesetzgebung.“
Wir kennen nun schon das, was Plotin in der ersten Hälfte des Satzes fordert. Wir müssen
das Äußere hinter uns lassen und uns in das Innere, in unser Inneres begeben, um dort
die wunderbare, staunenswerte Gegenwärtigkeit des Einen zu erfahren. Doch der
Übergang zum Mythos ist uns bisher unbekannt. Er wird natürlich von Plotin bewusst
eingeflochten. Was will uns dieser Mythos sagen, wovon ist überhaupt die Rede.
Minos ist ein legendärer, mythischer König Kretas, mythisch schon deshalb, weil er Sohn
des Zeus und der Europa ist, demnach eigentlich ein Halbgott. Als diese Gestalt, in Form
dieses Mythos erscheint er schon bei Homer in der „Odyssee“. Es gibt auch einen pseudo-
platonischen Dialog namens „Minos“, in dem Sokrates mit einem Gesprächspartner das
Wesen des Gesetzes bzw. der besten Gesetzgebung bespricht. Minos wird dann zuletzt
genannt und gelobt, als Gesetzgeber Kretas, so dass auch Lykurg, der Gesetzgeber
Spartas, den Sokrates, so wird berichtet, sehr verehrt habe, etwas von der kretischen
Verfassung übernommen hat.
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