reichere Bürger Roms ihre Kinder Plotin anvertrauten, ist ein Beleg der gesellschaftlichen
Bedeutung der Philosophie.
Wenn wir uns hier mit der Philosophie des Plotin auseinandersetzen wollen, dann müssen
sie immer an diese Tatsache denken. Philosophie für Plotin war keine abstrakte Theorie,
sondern ein mit Anderen gelebtes Denken. Das hatten natürlich schon Platon und
Sokrates vorgemacht. Wir werden sehen, was das heißen kann.
Auf eine gewisse Weise gehört zu dieser Auffassung der Philosophie und des Philosophen
auch, dass man ihm wunderbare Gaben zusprach. Im Philosophen lebt der Gott. Platon
hatte den Sinn der Philosophie einmal darin erfasst, dass sie eine Angleichung an den
Gott sei - vielleicht an Apollon, den Gott der Philosophen, den Gott des Orakels von
Delphi. Die Geschichte von dem ägyptischen Priester scheint darauf anspielen zu wollen.
Aber es geht auch um Anderes: wie befinden uns im dritten Jahrhundert nach Christi
Geburt. Das ist eine Zeit, in der die Frage nach der Religion, der wahren Religion von
großer Wichtigkeit war.
Das Christentum befand sich noch in seiner Anfangsphase. Wir haben uns Rom als einen
Ort vorzustellen, in dem sich ungeheuer viele Religionen zusammenfanden, nicht zuletzt
die Konfrontation einer monotheistischen Religion mit einer Menge von polytheistischen
Kulten. Dabei bekam der Neuplatonismus beinahe religiöse Züge. So gab es die
sogenannte „Theurgie“, eine religiöse Praxis, in der man rituell Kontakt mit den Göttern
aufnehmen konnte - davon berichtet eben die Geschichte mit dem ägyptischen Priester.
Proklos, den ich schon erwähnte, war der Leiter der Platonischen Akademie in Athen. Er
lebte noch in den polytheistischen Mythen der Griechen, er gestaltete seinen Alltag genau
nach rituellen Vorgaben. Von Plotin wird das nicht gesagt.
Was aber berichtet wird, das ist, dass Plotin vom Christentum und d.h. vor allem von der
Gnosis nicht viel hielt. Daher hat nach seinem Tod Porphyrios eine Schrift „Gegen die
Christen“ in fünfzehn Büchern verfasst. Diese Schrift ist verloren (wie viele andere des
Porphyrios), zerstört natürlich im Zuge des Siegeszuges der Christen. Dabei gibt es eine
Besonderheit im Verhältnis des Neuplatonismus zum Christentum.
Zunächst einmal scheinen Christentum und Neuplatonismus oder überhaupt Platonismus
sich in einigen vor allem ethischen Fragen zu ähneln. Das betrifft z.B. die Frage nach dem
Körper, dem Körperlichen schlechthin. Für Plotin hat die Materie verschiedene
Bedeutungen, eine davon ist, dass sie schlechthin identisch ist mit dem Übel, dem Bösen.
Christliche Denker wie z.B. Augustinus konnten daran leicht anknüpfen. Und in der Tat:
Augustinus’ früheres Denken ist sehr beeinflusst von Plotin. Er las ihn auf Latein in einer
Übersetzung eines anderen zum Christentum konvertierten Neuplatonikers namens
Marius Victorinus. Doch genauso wie es Neuplatoniker gab, die zum Christentum
konvertierten, gab es Christen, die Neuplatoniker wurden. Wir können uns heute nicht
mehr recht vorstellen, was es heißt, das Christentum aus einer anderen gelebten rituellen
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Wirklichkeit heraus zu betrachten. Oder nähern wir uns dem römischen Zustand einer
multireligiösen Gesellschaft an?
Zum Verhältnis von Neuplatonismus und Christlicher Theologie nur noch Folgendes. Es
scheint um 500 nach Christus einen Schüler des Proklos gegeben zu haben, der sich den
Namen Dionysius Areopagita gegeben hat. Er hat vier Bücher geschrieben: Über göttliche
Namen, Über mystische Theologie sowie über die himmlische und kirchliche Hierarchie.
Der Name Dionysius Areopagita ist biblisch, er bezieht sich auf einen Mann aus der
Apostelgeschichte, einem athenischen Bürger, der den Paulus auf dem Areopag gehört
haben soll. Im Nicht-Informations-Zeitalter war dieses Pseudonym natürlich intellektueller
Sprengstoff. Das gesamte Mittelalter wie auch noch die frühe Neuzeit haben
angenommen, dass die Schriften dieses Denkers wirklich auf die Zeit des Paulus
zurückgehen. Thomas von Aquin zitiert diesen Mann häufiger als Aristoteles, Nikolaus von
Kues bezeichnet ihn als den größten aller Theologen und Philosophen. Seit dem 19.
Jahrhundert wissen wir, dass er eigentlich ein christlicher Neuplatoniker war.
Doch wichtiger ist natürlich, wie der Einfluss des Neuplatonismus auf das Christentum
gewirkt hat. Das betrifft vor allem den Gedanken des Einen. Ich habe bereits darauf
hingewiesen, dass es sehr schwierig ist, zu sagen, was das Eine ist, weil jede Prädikation
das Eine immer schon in eine Vielheit auflöst. Dionysius hat diesen Gedanken radikal auf
die Rede von Gott übertragen. Immer, wenn wir sagen: Gott ist … entfremden wir schon
Gott von sich selbst. Gott ist nichts anderes als Gott - ja wir können noch nicht einmal das
sagen, insofern wir dann ja „ist“ sagen. Das bedeutet dann aber, dass Gott in der
unendlichen Negation seiner Eigenschaften besteht. Für Gott existiert damit noch nicht
einmal ein Wort, er ist unsagbar, undenkbar. Das ist der Anfang der sogenannten
Negativen Theologie. Gedanken der Negativen Theologie und damit des Neuplatonismus
sind in der Geschichte der Philosophie aber bis heute wichtig. M.E. ist es die einzige
mögliche Weise, auf philosophische Weise Theologie zu betreiben - wenn man das
überhaupt will.
Zurück zu Plotin und unserer Vorlesung. Ich möchte in das Denken des Plotin einführen,
d.h. ich möchte in seine Philosophie in ihrer Grundstruktur einführen. Dazu noch zwei
Dinge: einmal eben über diese Grundstruktur selbst und sodann über die Texte. Ich habe
bei meinen Hinweise auf Platon schon darauf hingewiesen, dass es verschiedene
Sphären des Seins gibt, mit denen wir es im Platonismus und Neuplatonismus zu tun
haben. Es gibt das sinnliche Seiende (μὴ ὄν) und das Übersinnliche (ὄντως ὄν), das
Reich der Ideen sozusagen. Dann gibt es aber auch noch die Sphäre jenseits dieses
Reiches, die Sphäre des Einen, die höchste Sphäre schlechthin.
Für Plotin stellt sich das so dar: das Eine bildet das Höchste schlechthin. Aus ihm fließt
alles aus (Emanation), d.h. es ist die Quelle von Allem. Warum? ist eine gute Frage, auf
die ich später zu sprechen kommen muss. Damit haben wir die erste „Hypostase“.
„Hypostase“ heißt wörtlich soviel wie: das darunter Stehende, sich darunter Sammelnde
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