Zeugen des gegenwärtigen Gottes Band 038 D. Walter Michaelis Nachlese aus fünfzigjährigem Dienst auf dem Acker des Evangeliums



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Michaelis





    1. Behörde. Es war mir selbstverständlich, daß ich meinen Freund P. mit den drei Herren bekannt machte, und ich war wirklich beeindruckt von seinem sicheren und dabei ganz bescheidenen Auftreten in diesem Augenblick. Die beiden Generalstabsoffiziere (einer war mein Bruder, der andere sein Freund) und der Geheimrat machten ihn durchaus nicht verlegen. Er begrüßte sie in der beschriebenen Weise, und ich geleitete ihn dann in mein Studierzimmer. Es ist vielleicht in der heutigen Zeit nicht überflüssig, zu bemerken, daß diese Begegnung sich im Jahre 1891 vollzog, also zu einer Zeit, wo ja die Standesunterschiede noch stark ausgeprägt waren und auch ein Weltkrieg sie noch nicht zusammengeschmolzen hatte.

    2. Wenn ich mich frage, wer unter den Führern der Bewegung die markantesten Persönlichkeiten waren, so kann ich nur das persönliche Urteil abgeben, daß auf mich den größten Eindruck gemacht haben Graf Pückler und der Prediger und Evangelist Elias Schrenk. Dabei waren beide so verschieden wie überhaupt nur möglich. Graf Pückler gehörte einem alten Reichsgrafengeschlecht an. Prediger Schrenk war aus einer ganz einfachen, nach dem Tode des Vaters finanziell bedrängten Familie hervorgegangen. Der Graf hat nie irgendeine theologische, schulmäßige Ausbildung genossen, war aber geschichtlich sehr gebildet und hatte klare biblische Begriffe. Elias Schrenk war Zögling gewesen im Seminar der Baseler Mission, wo eine sehr gründliche theologische Bildung vermittelt wurde. Der Graf war und blieb unverheiratet. Schrenk hatte eine vielköpfige Kinderzahl. Pückler wußte etwas von Inspiration, sie bestimmte sein

    3. Handeln in hohem Maße. Ich komme noch darauf zu sprechen. Schrenk wußte sehr wohl von Geistesleitung in schwierigen Stunden seines Lebens zu sagen. Aber er war eine nüchtern erwägende Natur und durch seine ungewöhnlich große Seelsorge von einer reichen Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, die ihn leitete. Der Graf wurde viel angegriffen. Sein Begriff von Geistesleitung und sein Wunsch, dem Leiten des Geistes unbedingt gehorsam zu sein, veranlaßten ihn öfters, auf diese Geistesleitung zu warten und eine ganze Konferenz damit hinzuhalten, wo er einfach nach seiner christlichen Erkenntnis hätte handeln müssen. Ich habe immer hohen Respekt gehabt vor diesem Gehorsam, denn er wußte recht gut, daß es Leute gab, die an dieser seiner Art oft schweren Anstoß nahmen. Aber wenn er seinen guten Tag hatte, so konnte er in hinreißender und oft auch sehr geistvoller Weise zur Nachfolge Christi auffordern. Und auch auf Studentenkonferenzen, wo die jungen Leute ihn reichlich kritisierten, machte er doch immer wieder einen tiefen Eindruck, weil man ihm anmerkte, er ist bereit, in jedem Augenblick das Haupt für den Heiland auf den Block zu legen. Für Gemeinschaftsfragen hatte er einen feinen Instinkt. Er hat dem Gnadauer Verband eine Verfassung gegeben, die bis auf eine geringfügige Änderung bis heute uns gedient hat. Es steckt in dem Maß der Gebundenheit und Freiheit, das sie aufweist, eine große Weisheit. Und er war ein wirklicher Bruder. Er, der Graf und Besitzer von drei Rittergütern in Schlesien, konnte dem schlichtesten Bruder mit herzgewinnender Freundlichkeit begegnen ohne eine Spur von Herab

    1. lassung. Von ihm werden Aussprüche berichtet, die durch ihren Radikalismus z.B. der Kirche gegenüber erschrecken könnten. Aber man mußte bei ihm unterscheiden, wie in der Natur die Luftströmungen, die nahe der Erde sind, und die in den höheren Regionen, die eigentlich das Wetter bestimmen. Wer eine Prognose stellen wollte aus den Luftströmungen über der Erde, kann leicht vorbeiprophezeien. Bei Graf Pücklers sprunghafter Natur konnte er solche Aussprüche tun, die von den tieferen Luftschichten bestimmt waren. Aber das Handeln war von den konstanten Winden in der Höhe bestimmt. Er war ein unbedingter Verteidiger der Selbständigkeit der Gemeinschaftsbewegung gegenüber den kirchlichen Instanzen. Aber er war ein loyales Mitglied seiner Kirche, frei von allem Sektengeist. Als nach dem Ersten Weltkrieg und der nachfolgenden Revolution die verfassunggebende Kirchenversammlung gewählt wurde, ließ er sich auf die Liste setzen und betrat damit einen ihm sonst unbekannten Boden. Aber er glaubte zu erkennen, wieviel jetzt für die Kirche auf dem Spiele stünde. Da wollte er nicht abseits stehen.

    2. Durch die Beziehungen zu Graf Pückler erlebte ich auch eine sehr eindrucksvolle Waldevangelisation in der Jungfernheide im Norden von Berlin. Dorthin zogen an Sonntagen mit schönem Wetter Tausende von Arbeiterfamilien mit Kind und Kegel und lagerten sich im Walde. Die meisten waren wohl der damaligen Haltung der Sozialdemokraten entsprechend kirchen- und religionsfeindlich. Aber ihre Ansammlung in der Jungfernheide gab Graf Pückler Gelegenheit, mit einem

    3. Häuflein Getreuer auch dorthin zu gehen, einen der vielen kleinen Hügel zu besteigen und ein christliches Lied anzustimmen, was natürlich zu einer Menschenansammlung um den Hügel her führte. Auch ich sollte dort ein Wort sagen. Aber kaum hatte der erste Redner zu sprechen begonnen, so erhob sich ein wahrhaft diabolischer Lärm. Wutschreie deckten die Worte des Redners zu. Für kurze Augenblicke gelang es Graf Pückler noch, das Zuhören der Leute zu gewinnen. Dann mußten wir abbrechen. Von Versammlung zu Versammlung verstärkte sich der Widerspruch und drohten Tätlichkeiten. Der Landrat schrieb deshalb an Graf Pückler, er müsse ihn bitten, die Versammlungen einzustellen, er könne nicht für das Leben seiner Leute garantieren. Bei solchem Kampf Mann gegen Mann unter persönlichen Gefahren war der Graf so recht in seinem Element.

    4. Wenn Prediger Schrenk, der vom früheren Basler Missionar an der Goldküste auf verschiedenen Zwischenstationen der bahnbrechende Evangelist in Deutschland geworden war, auf eine Kanzel stieg, so tat er es im Talar und Bäffchen und begann mit dem Friedensgruß, Textverlesung und Gebet, wie es in der Kirche Brauch ist. Aber dann kamen seine Predigten, seine Evangelisationsreden, klar, wuchtig, praktisch ins Menschenleben eingreifend. Sein Verhältnis zu Gott wurzelte in der Gewißheit, daß, wer an Christum glaubt, in ihm durch den Glauben gerecht ist vor Gott. Ich entsinne mich noch, wie gelegentlich einer Gnadauer Konferenz, als wir von einem Bruder sprachen, der über seine Heiligungslehre später selbst in große innere Not geriet,

    5. Schrenk zu mir sagte: es geht immer schief, wenn der Boden der Versöhnung wegen irgendeiner Stufe höheren Lebens verlassen wird.

    6. In seinem Alter konnte er die überaus anstrengenden Evangelisationen von 8—14 Tagen mit täglich zweimaliger Versammlung und überfüllter Sprechstunde nur noch im Glauben durchhalten. Es machten sich doch die Folgen der schweren Fieber an der Westküste Afrikas geltend, und das Herz wollte oft nicht mehr so, wie es sollte. Als ich aus dem Dienst als Missionsinspektor ausgeschieden war und als freier Evangelist arbeitete, schrieb er eines Tages an mich: „Ich habe heute wieder die ganze Nacht wegen meines Herzens im Lehnstuhl zubringen müssen. Vor mir Hegen zwei meiner größten Evangelisationsarbeiten, in Stuttgart und Kassel. Ich muß Schluß machen. Ich bitte Dich, für mich einzuspringen.“ — Ich schrieb: „Dann muß ich erst von den Zusagen entbunden werden, die ich für diese Zeit gegeben habe“. — Die Brüder, die mich dafür gerufen hatten, gaben mich aber dafür nicht frei. So mußte ich leider dem Bruder Schrenk abschlägigen Bescheid geben. Als Antwort bekam ich eine Postkarte: „So muß der Herr mir helfen wie schon tausendmal im Leben“. — An dem letzten Tage seiner Evangelisation in Kassel hatte ich in dieser Stadt zu übernachten und ging in seine Abendversammlung. Die Kirche war übervoH. Aber der Mann mit dem schwach gewordenen Herzen predigte nicht nur in geisdicher Vollmacht, sondern auch mit einer körperhchen Kraft, der man nichts anmerkte. Und hinterher war er noch so wenig erschöpft, daß er eine ganze Reihe von Anzeigen von Versammlungen, die seine Arbeit jetzt fortsetzen sollten, aus dem Kopf machte. Ich konnte es beobachten, weil ich Platz gefunden hatte oberhalb der Kanzel, von wo aus man erkennen konnte, daß er für diese Anzeigen keine schriftlichen Unterlagen hatte. — „So muß der Herr mir helfen wie schon tausendmal in meinem Leben.“ Männer wie Pückler und Schrenk hat die Gemeinschaftsbewegung nicht mehr. Möchten wir treu erfunden werden mit dem geringeren Pfund, das uns verliehen ist!

    7. Es gehört hierher noch ein Wort über das Verhältnis zur übrigen Kirche. Dasselbe bewegt sich in mannigfachen Abstufungen zwischen zwei Polen: erstens sind wir keine Freikirche und wollen keine Freikirche werden (falls nicht ganz neue umstürzende Umstände eintreten). Zweitens unterstellen wir uns nicht der Leitung der Kirche, sondern leiten unser Werk in voller Selbständigkeit. An dem einen Ort ist dann zwischen den Organen der Kirche, d. h. in der Hauptsache dem Pfarrer, und uns ein brüderliches oder wenigstens freundliches oder ein schiedlich-friedliches Verhältnis, oder aber leider ein gespanntes. Die Schuld liegt dann meist nicht nur auf einer Seite, oder Fehler der Vergangenheit wirken sich aus. In den obersten Stellen der Kirchenbehörde weiß man meist sehr wohl, was man trotz unserer Fehler an uns hat. In der preußischen Generalsynode vom Jahre 1925 gelang es mir, im Ausschuß für Gemeinschaftspflege und Evangelisation folgenden Beschluß durchzusetzen: „Die Ausgestaltung und Pflege eines friedlichen und für beide Teile fruchtbringenden Verhältnisses zwischen Kirche und Gemeinschaftsbewegung wird besser als durch Einzelbestimmungen auf dem Boden gegenseitigen Vertrauens und gemeinsamen Glaubens gefördert.“ Er wurde auch vom Plenum gebilligt. Abmachungen mit Kirchenbehörden kommen daher kaum vor.

    8. Um diese Zeit erhielt ich einen Brief vom Vizepräsidenten des Ev. Oberkirchenrats in Berlin mit der Anfrage, ob ich bereit wäre, eine der beiden Generalsuper- intendenturen in Pommern, nämlich die für Hinterpommern zu übernehmen. Das Schreiben machte mir keine Beunruhigung. Ich erwiderte sehr bald: ich dankte für das darin liegende Vertrauen; aber ich glaubte der Kirche und dem Reiche Gottes besser dienen zu können in meiner Stellung als Gnadauer Vorsitzender.

    9. Erschwert ist leider neuerdings das Verhältnis durch die Stellung der „Bekennenden Kirche“. Das liegt einmal an dem Gegensatz zwischen Barthscher Theologie und Pietismus, außerdem aber an dem Leitungsanspruch, den die Bekennende Kirche innerhalb der übrigen Kirche erhebt. Neuerdings werden vereinzelte Stimmen laut, die hoffnungsvoller klingen. Möchte auf beiden Seiten Weisheit und Liebe walten, daß diese Stimmen sich mehren. Ein bemerkenswerter Versuch der Verständigung waren zwei Zusammenkünfte in Stuttgart, bei denen die Bischöfe von Bayern und Württemberg, jeder in Begleitung eines Professors der Landesuniversität und eines hervorragenden Mitgliedes der Kirche, zugegen waren und ich in Begleitung zweier maßgebender Gnadauer. Ein greifbares Ergebnis wurde nicht erzielt.

    10. Aber die brüderlich verlaufende Aussprache wird nicht vergeblich gewesen sein. Das gleiche gilt von 2wei größeren Zusammenkünften in Bad Boll zwischen den Führern von hüben und drüben. Nur der zweiten konnte ich beiwohnen. Auf ihr bestätigte sich mir die immer wieder gemachte Beobachtung, daß der auf unserer Seite vertretene biblizistische Standpunkt und drüben der systematisch-dogmatische nicht zueinander finden.

    11. Übrigens ist das Verhältnis der offiziellen Kirche zur Gemeinschaftsbewegung im Laufe der Zeit kein gleichmäßiges. Wenn der Kirche Gefahren drohen, steigen wir in ihrer Wertschätzung. Das war sehr auffallend nach der Revolution, die dem Ersten Weltkrieg ein Ende machte. Preußischer Kultusminister war der durch seine Feindschaft gegen die Kirche bekannte Zehn- Gebote-Hoffmann. Derselbe hatte ohne Frage weitgehende Absichten, der Kirche ihre Güter und ihre Rechte zu nehmen. Er schreckte allerdings zurück, als ihm der Geheimrat Kahl, der bekannte Kirchenrechtslehrer an der Berliner Universität, entgegenhielt: dann werden dz. stellvertretender Vorsitzender der sogenannten vereinigten Rechten, die aus konfessionellen Lutheranern, Positiv- Unierten und uns Gemeinschaftsleuten bestand. Zu meinem Erstaunen erhielt ich vor Zusammentritt dieser Kirchenversammlung aus dem Ev. Oberkirchenrat die Aufforderung, die Eröffnungspredigt im Dom zu halten. So geschah es denn auch. Was für ein Wechsel der Zeiten: vordem so oft Bekämpfung und Geringschätzung, und jetzt der Gnadauer Vorsitzende auf der Domkanzel zur Eröffnungspredigt! Ein Dokument von diesem Ereignis ist die dort gehaltene Predigt, die auf Antrag eines der konfessionellen Lutheraner im Wortlaut dem Synodalbericht vorgedruckt wurde. Der Hoffmann- sturm legte sich. Es blieb eigentlich alles beim alten. Und auf der nächsten Generalsynode war von der bevorzugten Stellung, die man uns eingeräumt hatte, nichts mehr zu spüren. Dieser Wechsel unserer Wertschätzung hat sich auch sonst vollzogen. Er hat mich nie verdrossen und unlustig zum Dienst in der Kirche gemacht, auch auf ihren synodalen Körperschaften. Mehr hat es mich geschmerzt in der Seele der Kirche selbst.

    1. Im Kampf mit dem Schwarmgeist

    1. Wollte ich meine persönlichen Erfahrungen in diesem Kampf schildern, so müßte ich es in der Ausführlichkeit tun, mit der ich es in meinem Buch II. Auflage, Seite 13 9ff. getan habe. Das käme aber auf eine Wiederholung hinaus. Ich beschränke mich daher darauf, Grundsätzliches zu den Begriffen schwärmerisches Christentum und Schwarmgeisterei zu sagen. Zumal wenn jemand eine ganz bewußte, zeitlich fixierbare Bekehrung erlebt, und nun sein neues Leben unter ganzer Hingabe an Jesus leben will, so geschieht es leicht, daß er über das Ziel in manchen Stücken hinausschießt. Er nimmt hier und da eine Haltung ein, die etwas Übertriebenes an sich hat. Wachsende Erfahrung gleicht das dann später oft aus. Aber bis dahin sagen die anderen Christen von ihm, er habe ein schwärmerisches Christentum. Der Ausdruck ist insofern berechtigt, als solch ein junger Christ mit seinen Übertreibungen mehr herumschwärmt als gesunde Tritte auf dem Boden der Schrift tut. Man darf das nur nicht damit verwechseln, daß er einen Schwarmgeist habe. Jenes ist eine Kinderkrankheit, dies eine Katastrophe, wenn ein Schwarmgeist bei ihm einkehrt. Bei der letzteren sind stets dämonische Einflüsse im Spiel, und zwar dieses Wort im Sinn des Neuen Testamentes verstanden.

    2. Etwas anderes ist es, wenn durch den Schwarmgeist eine ganze Bewegung entsteht und viele wohlmeinende Christen in seinen wirbelnden Strom zieht. Dann muß man unterscheiden zwischen den Mitläufern und den von dem Geist der Bewegung Ergriffenen, bei denen sich dann ekstatische Zeichen kundtun. Ihnen ist im Grunde nicht beizukommen. Das ist ja auch erklärlich. Sie glauben, ein reicheres Maß des Geistes zu besitzen. Wie sollten wir Armseligen ihnen da etwas bieten können? Sie hören erst auf die Kritik, wenn sie in der Bewegung selbst etwas entdeckt haben oder erleben, was sie befremdet oder ins Nachdenken führt. Die Midäufer sind natürlich von dem Geist weniger berührt. Aber beeinflußt wird ihr geistliches Leben erklärlicherweise doch, wenn sie in den Versammlungen der Bewegung ihre geistliche Nahrung suchen. Wir haben es so manches Mal erlebt, daß durch Verzug in einen anderen Ort ein solches Mitglied der Pfingstbewegung sich der Gnadauer Gemeinschaft an dem neuen Ort anschloß. Es fiel den Urteilsfähigen bald etwas Fremdardges auf in der Art der Gebete in den Gebetsstunden und meist auch in den Ansichten über Heiligung. Auch von den anderen, den vom Geist Beherrschten, mag mancher gegen Ende seines Lebens noch zurechtkommen. Ein Freund von mir, Theologe, erlebte den Schmerz, daß eins der eifrigsten und treuesten Mitglieder seiner Gemeinschaft zu den Pfingstleuten überging. Alle seine Bemühungen, sie von ihrem Irrtum auch bezüglich ihres Heiligungsstandes zu überzeugen, schlugen fehl. Nach Jahren ging es mit dieser Frau zum Sterben. Der ganze Ernst der Ewigkeit, vor der sie stand, zerstreute den Nebel. Sie ließ ihren alten Seelsorger zu sich bitten und sagte zu ihm: „Herr Pastor, Sie haben vollkommen recht gehabt. Es gibt für mich jetzt nur eins: die Vergebung der Sünden.“

    1. Die Ravensberger und Siegerländer Erweckungsbewegung

    1. Beide Landschaften, damals noch ausschließlich begabt mit einer bodenständigen Bevölkerung, haben ungefähr zu gleicher Zeit eine Erweckung gehabt. Den

    2. Ravensbergern war so etwas schon im 18. Jahrhundert zuteil geworden. Der Mittelpunkt des neu entstehenden Lebens war Friedrich August Weihe, ein seltener Seelsorger und Pfarrer. Aber dann ging der Winter des Rationalismus über das Land. Auf den Kanzeln war das biblische Evangelium fast ganz ausgestorben. Es blieben nur kleine Kreise von Gläubigen, die unter sich zusammenkamen. Und nachdem sie — bemerkenswerterweise — sonntags am Vormittag zu den rationalistischen Pfarrern in die Kirche gegangen waren, lasen sie nachmittags in ihren Versammlungen kernige Predigten alter Meister. Und sie beteten, sie beteten für die Pastoren und für ihr Land und Volk. Im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts begann die Erhörung. Der Pastor Johann Hinrich Volkening, Pfarrer von Jöllenbeck, das ungefähr in der Mitte des Ravensberger Landes lag, wurde ihr Führer. Er war ein geistesmächtiger Prediger. Und Gott schenkte es, daß bald ein Pastor nach dem anderen in seine Fußstapfen trat. Der Rationalismus war aus dem Felde geschlagen. Viele, sehr viele wurden gläubig. Die Kirchen füllten sich, es mehrten sich die Stunden, da die gläubigen Bauern unter sich zusammenkamen, meist in Anwesenheit des Pfarrers. Die Pastorenschaft hatte unbedingt die Führung der ganzen Bewegung in der Hand und handelte mit großer Umsicht. Sie gab ihnen ein Sonntagsblatt, sie gab ihnen ein Liederbuch für die freien Versammlungen: „Die kleine Missionsharfe“, sie gründete ein Monatsblatt, mehr für nachdenkliche Leute geschrieben, in dem die Lage der Welt und Kirche von der biblischen Sicht aus

    3. durch einen Sohn Volkenings trefflich dargestellt wurde, und sie sammelte sie politisch in der christlich-konservativen Partei, die nach ihrer Meinung eine wirklich christliche Partei sein sollte mit dem dreifachen Kampfruf : christlicher Staat, christliche Ehe, christliche Schule, und keine Interessenvertretung darstellen sollte, also etwas anderes war als die spätere deutschnationale Partei. Eine so tief geistliche Persönlichkeit wie Superintendent Schmalenbach war ihr Vorsitzender. Und wenn die Quartalversammlungen der Partei gehalten wurden, begann man mit einer Bibelstunde, und dann nach einer Kaffeepause für die weit Hergekommenen besprach man die politischen Fragen. Wie fest die Bevölkerung in diese ganze, wenn man so sagen will, Organisation gefügt war, zeigte sich um das Jahr 1890 bei der Reichstagswahl. Das Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kirche im benachbarten Bielefeld war ein sehr gespanntes. In Jöllenbeck, eine Stunde von Bielefeld entfernt, gab es noch viele Hausarbeit mit geringem Verdienst, ein guter Nährboden für die sozialdemokratische Agitation. Trotzdem wurden in jener Reichstagswahl um 1890 in Jöllenbeck lauter christlich-konservative Stimmen abgegeben und nur drei sozialdemokratische. Das ist ja ein Gradmesser, an dem man wirklich erkennen kann, wieweit der Sauerteig die Bevölkerung durchsäuert hatte. Aber es ist nicht so geblieben. Die Privatversammlungen gingen mehr und mehr ein. Man hatte genug an der Sonntagspredigt. Und während die Erweckung zunächst einen rein pietistischen Charakter trug, bog sie mehr und mehr in das konfessionell

    4. lutherische Gleis ein. Ich hörte eine Äußerung aus dem Munde einer ehrwürdigen Pfarrfrau, die noch eine Konfirmandin Volkenings war und die ganze Erweckung mit innerer Teilnahme miterlebt hatte. Im Hause ihres Schwiegersohnes, wo sie sich gerade befand, fand eine Aussprache statt mit den Vertretern der neueren Gemeinschaftsbewegung, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auch in Ravensberg zu wirken begann. Gegenüber dem Maurermeister Wolk von Bethel, einem der begabtesten Laienevangelisten, denen ich je begegnet bin, saßen einige lutherische Pastoren und stritten mit ihm — in aller Freundlichkeit — über die Bedeutung der Sakramente, über die Frage der Wiedergeburt usw. Die alte Frau Pastorin S. saß mit am Tisch und strickte ruhig an ihrem Strickzeug. Mit einem Mal sah sie auf und sagte nur ganz kurz: als die Erweckung war, war von dem allen nicht die Rede, das haben die Pastoren erst später dazu gemacht. Dabei war sie selber eine Pastorenfrau, wie gesagt, und hatte mehrere Pastorenschwiegersöhne. Die Erweckung war unter der Führung der Pastoren mehr und mehr in lutherisch geprägte Kirchlichkeit übergegangen. Diese erlitt einen schweren Stoß nach Beendigung des Ersten Weltkrieges, wo viele Arbeiter im Ruhrgebiet gesucht wurden und alle Montagfrüh und Samstagnachmittag ein Extrazug die Verbindung zwischen dem Ravensberger Land und dem Ruhrgebiet herstellte. Da kamen die kirchlichen Ravensberger in Berührung mit den kommunistischen Strömungen, und wenn sie über Sonntag zu Hause waren, SO mußte der Garten besorgt werden und die Frau sich

    5. um Wäsche'und Kleidung kümmern, dazu kamen andere in der Zeit liegende Gründe, so daß das Ravensberger Land gewiß noch im Vergleich mit anderen Gegenden eine gut kirchliche Gegend ist, aber die Erweckung ist, soweit ich es beurteilen konnte, solange ich in Bielefeld und Bethel in diesem Landstriche wohnte, völlig zum Stillstand gekommen. Und in der Pastorenschaft sind wohl nicht wenige, die überhaupt keine Freunde einer Erweckung sind. Das ist zu arg pietistisch.

    6. Ganz anders verlief die Sache im Siegerland. Ein einfacher Mann, brennend für die Sache des Reiches Gottes, war der Ausgangspunkt der Bewegung. Sie breitete sich aus nicht nur im Kreis Siegen, sondern auch in den benachbarten Grenzen. Der konfessionelle Unterschied von Ravensberg war der, daß im Siegerland der Heidelberger Katechismus herrschte. Ein anderer sehr wichtiger Unterschied von Ravensberg bestand im Verhältnis zur Kirche und den Pastoren. Als die Bewegung im Siegerland aufkam, war wohl kein Pastor, der in ihr ein Werk Gottes erkannte. Man war Gegner oder gar Feind. So blieb die Führung ausschließlich in Händen von Laien. Der Gerbereibesitzer Jakob Gustav Siebei in Freudenberg war der geborene Führer und leitete die Bewegung mit großer Weisheit. Welche Kraft das Evangelium im Volke hatte in seiner durchsäuernden Wirkung, kann man daran erkennen, daß im politischen Kampf um die Reichstagswahl wiederholt Adolf Stöcker gegen den Widerstand aller anderen Parteien den Reichstagssitz eroberte. Er war sich dessen ganz bewußt, was für einen großen Anteil an diesem Wahlausgang die Stundenleute

    7. hatten. Das war ja ein ähnlicher Vorgang wie der vorhin aus Ravensberg berichtete. Aber dadurch, daß Laien die Leitung hatten und Pastoren nicht in der Lage waren, die Bewegung, wie man sagt, in die Kirche zu überführen, ist das Siegerland ein Land der Versammlungen geblieben. Es ist wohl kein Ort, in dem nicht Versammlungen sind, und an manchen Orten sind mehrere, da ja auch unter solchen Verhältnissen die Freikirchen immer Eingang finden. Unsere Gemeinschaften aber, das sollten ihre Gegner nicht vergessen, sind ein Schutzwall gegen Abwanderung erweckter Gemeindeglieder in die Freikirchen. Auch hat das Siegerland immer wieder bis in die neueste Zeit Erweckungen erlebt, zwar nicht in dem Umfang wie vor 150 Jahren, aber eben doch Erweckung, hier und da auch gerade unter der Jugend. Die Führer wachten darüber, daß das gespannte Verhältnis zur Kirche nicht zur Kirchenentfremdung oder gar zu Kirchenaustritt führte. Auch jetzt noch ist jeder Pfarrer, der sich als Bruder zu den Stundenleuten hält, ein willkommener Gast, dessen Mitarbeit man gern sieht. Aber wenn ich Ravensberg und Siegerland miteinander vergleiche, so ist die Geschichte dieser beiden Erweckungsbewegungen nach meiner Meinung ein klarer Beweis, daß eine geistliche Bewegung selbständig und unabhängig von der Leitung der Kirche bleiben muß, und daß damit auch der Kirche der beste Dienst geschieht.


    8. 65

      J Michaeli!

    1. Ich und mein Bruder Esel

    1. Der ehrende Zusatz „mein Bruder“ sagt dem Leser wohl von selbst, daß er jetzt keine lustige Bubengeschichte erwarten darf, Erlebnisse mit einem Esel bei Verwandten während eines ländlichen Aufenthaltes in den Ferien. Der Ausdruck „Esel“ ist hier symbolisch zu verstehen und stammt vom heiligen Franz von Assisi. Er hatte bekanntlich ein nahes Verhältnis zu den Tieren, liebte sie, und sie waren seine Brüder. So sprach er von seinem Körper als von seinem Bruder Esel, und soll am Ende seines Lebens gesagt haben, daß er seinen Bruder Esel oft zu schlecht behandelt habe. Das muß ich nun auch sagen. Ich habe oft meinem Bruder Esel Lasten aufgeladen, wie ich es in diesem Maße nicht hätte tun dürfen. Es waren oft nicht Aufträge vom Herrn, welche das Maß der Arbeit übervoll machten, sondern ein Nachgeben gegen Aufforderungen zu auswärtigen Diensten, die man hätte ablehnen sollen. Einige Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges bockte denn auch mein Esel. Zweimalige längere Urlaube stellten die Kraft nicht wieder her. Nach dem zweiten traf ich mit D. Zöllner, meinem damaligen Generalsuperintendenten, zusammen, der mich fragte: „Wie geht es Ihnen nun ?“ — Ich konnte nur eine unbefriedigende Antwort geben. Da sagte dieser großzügige Mann: „Sie müssen einmal ein ganzes Jahr Urlaub nehmen“. — Ich war natürlich ganz bestürzt und sagte dem Generalsuperintendenten: „Aber was soll aus meiner Gemeinde so lange werden? Wer soll meine Arbeit dort tun ?“ — „Das müssen Ihre Kollegen

    2. in der Gemeinde übernehmen.“ — Ich erwiderte: weder wollte ich diesen solche Last auflegen noch die Gemeinde schädigen, da meine Kollegen ja doch als meine Vertreter neben ihrer eigenen großen Arbeit nur das Notwendigste tun könnten. Wenn ich aber einen vollamtlichen Vertreter fände, so würde ich gern sein Geschenk annehmen. — Es wohnte in Bielefeld ein Agent der rheinischen Missionsgesellschaft, ausgebildeter Missionar mittleren Alters, damals in der Heimat tätig. Ich bat die Leitung der rheinischen Mission, ob sie mir und meiner Gemeinde diesen Bruder für ein Jahr überlassen wollte, indem ich sein Gehalt übernähme (was mir von verwandter Seite zur Verfügung gestellt wurde). Das wurde freundlich genehmigt. Und ich konnte nun beruhigt diesen langen Urlaub beginnen. Ich wollte ihn am Tegernsee zunächst zubringen und hielt mich auf der Reise dorthin in München einige Tage auf. An der dortigen Universität wirkte damals einer der bedeutendsten inneren Kliniker Deutschlands, Prof, von Romberg. Er hatte noch, als er in Tübingen war, meinem Freund Leopold Wittekind bei einer schweren Zuckerkrankheit wichtige Dienste getan. So suchte ich ihn mit meiner Frau auf. Er untersuchte sehr schnell, wozu ihn wohl seine reiche Erfahrung und sein genialer Blick für den ganzen Menschen befähigte. Als nun das Resultat besprochen werden sollte, sagte ich zu ihm, es wäre mir kürzlich das Amt eines Pastors an einem kleinen Diakonissenhaus angeboten worden, dafür würden meine Kräfte noch gut reichen. Der Professor entgegnete: „Sind Sie auf Ihrer jetzigen Pfarrstelle gern?“ Ich

    3. konnte nur antworten, daß es dort in jeder Hinsicht so erfreulich wäre, wie es für einen Pfarrer nur sein kann. Darauf sagte er: „Dann lehnen Sie jenen Ruf ab, Sie werden wieder gesund“. Meiner Frau fiel ein Stein vom Herzen, denn dieser Rat enthielt ja eine Gewißheit der Diagnose, wie sie stärker nicht ausgedrückt werden konnte. Nun kamen seine Ratschläge. Ich hatte ihm gesagt, mein Hausarzt hätte mir geraten, nach Capri zu gehen und mich an den Strand zu legen und nichts zu tun. Er schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte: „Davon wird der Mensch auch nicht gesund. Sie müssen nicht nichts tun, sondern Sie müssen etwas ganz anderes tun, als wodurch Ihre Kraft geschwächt wurde. Freilich, gehen Sie nur erst an den Tegernsee und ruhen sich dort gründlich aus. Ihr Spazierengehen richten Sie aber in folgender Weise ein: Sie gehen morgen 20 Minuten spazieren, übermorgen 25, den darauf folgenden Tag 30 Minuten und steigern diese Leistung bis zu einer Stunde und 20 Minuten. Sie müssen aber immer nach der Zeit gehen, nie nach dem Ziel.“ Und meine Frau und ich haben oft gelacht, wenn die Minutenzahl erreicht war und wir gehorsam umdrehten, obwohl eine schöne Aussicht ganz nahe war. „ Nachmittags nehmen Sie dann zusätzlich in derselben Weise die Steigerung auf, und wenn Sie vor- und nachmittags bis zu diesem Maximum gekommen sind, dann werden Sie selbst wissen, was Sie zu tun haben, und können anfangen, auf die Berge zu gehen“. Ich habe das den abgearbeiteten Leuten zu Nutz und Frommen hier so ausführlich wiedergegeben. Wenn abgearbeitere Kopfarbeiter ins Gebirge gehen, so fangen

    4. sic am ersten Tage womöglich an, gleich diesen oder jenen hohen Berg zu besteigen, überhaupt das Sprichwort anzuwenden : viel hilft viel. Ich rate ihnen, dem Romberg- schen Rat zu folgen, solange der Urlaub währt. Es gehört natürlich etwas Selbstbeherrschung dazu, ihn durchzuführen. — Außerdem, sagte der Professor, müssen Sie natürlich geistig etwas tun. Sind Sie vielleicht literarisch tätig? — Ich sagte: Ich gebe eine wöchentlich erscheinende Predigt zusammen mit einigen Mitarbeitern heraus. — Gut, sagte er, also fangen Sie mit Ihrer nächsten Predigt an und arbeiten an ihr 30 Minuten, dann Steigerung um je 5 Minuten bis zu einer Stunde. — Ich lachte und sagte: So kann man keine Predigt machen. — Er erwiderte kurz: Sie müssen es können. — Und ich konnte es tatsächlich und glaube nicht, daß die Predigten darunter gelitten haben. — Und wenn Sie wieder, sagte er, in Ihre Arbeit zurückgekehrt sind, schaffen Sie nie an derselben Arbeit länger als eine Stunde. Er fuhr fort: Nicht wahr, wenn Sie eine größere schriftliche Arbeit Vorhaben, setzen Sie sich morgens hin und arbeiten den ganzen Tag bis abends durch? Können Sie sich wundern, daß, wenn Sie den ganzen Tag dieselben Gehirnzellen beanspruchen, schließlich eine Erschöpfung eintritt? — Nun kann man natürlich diesen Rat nicht allseitig durchführen. Aber ich habe es soviel als möglich getan. Zum Beispiel nachdem ich längere Zeit an einer schriftlichen Arbeit gesessen, tat ich für ein paar Minuten etwas völlig anderes, machte Kassensturz, schrieb Ausgaben auf usw. Auch diesen Rat habe ich sehr probat erfunden. Aber er war noch nicht fertig

    5. und fuhr fort: Wenn Sie sich nun am Tegernsee ausgeruht haben, dann rate ich Ihnen, nach Paris in eine stockfranzösische Pension zu gehen, wo kein Mensch ein Wort deutsch versteht. — Warum denn? — Dann können Sie sich mit niemandem über die Probleme unterhalten, die Sie, wie Sie mir gesagt haben, jetzt bei sich gewälzt haben. Dazu beherrschen Sie die Sprache wahrscheinlich nicht genau genug. — Ach, sagte ich, Herr Professor, nun gerade nach Paris würde ich nicht gerne gehen. — Gut, dann gehen Sie nach Oberitalien, wo eine Universität ist. — Ich sagte: Wenn man fünf junge Kinder zu Hause hat, geht man nicht gern so lange Zeit außer Landes. — Der Professor: Sie können hingehen, wohin Sie wollen, wenn Sie nur begriffen haben, daß das, was Sie tun, etwas völlig anderes sein muß, als was Sie bisher getan haben. — Nun gibt es in Tübingen das Deutsche Institut für ärztliche Mission, nach den Anfangsbuchstaben der Worte von den Studenten stets abgekürzt in Difäm. Auf dieses Difäm schickten die Missionsgesellschaften geeignete Missionare, damit sie in den Grundlagen der Medizin unterrichtet wurden, um draußen auf ihren Stationen, auf denen kein Arzt in der Nähe war, soweit als möglich helfend einzugreifen. Nun riet mir ein Schwager, der Leiter einer Heilanstalt für Gemütskranke war: Ich würde an deiner Stelle einen Teil dieses Kursus mitmachen und du siehst dir mal den Menschen von dieser Seite an. Der mir freundlich gesinnte Leiter des Difäm, Prof. Olpp, gab seine Genehmigung. Ich übersiedelte mit meiner Frau dorthin und beteiligte mich nun an dem ersten, täglich zweistündigen Unterrichtsgegen

    6. stand, der Anatomie, 6 Wochen lang. Unser Lehrer war ein außerordentlicher Professor der Medizin, der sich in seinen akademischen Ferien mit einer geradezu rührenden Hingabe dieser Aufgabe unterzog und in seinem Eifer, den Missionaren möglichst viel beizubringen, oft statt zwei Stunden auch drei unterrichtete. Dann folgte noch die Teilnahme an den nächsten beiden Kursen für Physiologie und Pathologie von je drei Wochen Länge. Ich war für diesen Blick in den menschlichen Organismus sehr dankbar, und das Interesse wurde davon hingenommen. Darüber kam Weihnachten, das ich zu Hause zubringen wollte, vor der Gemeinde inkognito. Dort traf mich ein Brief von dem Schriftführer des Vereins für Versorgung von Kurorten mit evangelischen Gottesdiensten. Er fragte mich, ob ich ihm jemand für Capri empfehlen könnte. Dort war eine kleine, schmucke Kapelle gebaut und von Januar an sollten dort Gottesdienste gehalten und die auf Capri wohnenden Deutschen besucht werden. Ich schrieb ihm zurück, ich wisse keinen, aber wenn sie damit vorlieb nehmen wollten, daß ich die sonntäglichen Gottesdienste hielte, dann sei ich bereit. Sie waren es. So ging ich acht Wochen nach dieser Insel mit ihren wunderbaren Blicken auf den rauchenden Vesuv, das blaue Meer und die Gebirge des gegenüberliegenden Festlandes. Dann ging es in Etappen in Rom und Venedig und Bozen heim. Es ist nun vielleicht für Schicksalsgenossen wichtig, daß ich sagen muß, ich fühlte mich subjektiv gar nicht in dem Maße erholt, als man nach alle dem erwarten sollte. Aber es waren offenbar die vorher verbrauchten Reserven des

    7. Körpers wieder aufgefüllt. Und als kurze Zeit nach meiner Heimkehr der Erste Weltkrieg ausbrach, konnte ich die vermehrte Arbeit und Gemütsanstrengungen sehr gut ertragen und habe auch nachdem meine Aufgaben erfüllen können.

    1. In einer Segensstätte am Zürichsee

    1. Gott hilft Kranken auf zweierlei Weise: durch ärztliche Kunst oder Naturheilmethoden und durch sein unmittelbares Eingreifen ohne alle menschlichen Mittel. Am Zürichsee liegt eine Segensstätte, in der auf diese letztere Weise viele leibliche und seelische Hilfe erfahren haben. Die Entstehung dieser Stätte ist wunderbar. In dem halb städtischen, halb ländlichen kleinen Ort Männedorf, am Nordufer des Sees, arbeitete in einer Posamenterie ein junges Mädchen aus armer, kinderreicher Familie, Dorothea Trudel. Sie führte ein Leben mit Gott. Einige Arbeiter in der gleichen Fabrik erkrankten schwer. Das Herz der Jungfer Trudel, wie sie später immer genannt wurde, wurde von Mitleid bewegt. Sollte der Herr Jesus denn heute nicht helfen und heilen können wie in seinen Erdentagen? Sie betete unter Handauflegung mit ihnen, und sie wurden gesund. Das sprach sich natürlich herum. Eine Dame redete ihr dringend zu, Kranke in ihr Haus aufzunehmen. Jungfer Trudel lehnte entschieden ab, sie fühle sich nicht dazu berufen. Da schickte ihr jene Dame einfach Kranke ins Haus, darunter eine durch sehr schweres Erleben in ihrem Gemüt zerrüttete Frau Pfarrer. Sie genas und wurde und blieb ein glücklicher Mensch. Scliließlich kaufte Jungfer Trudel auf ständig sich mehrende Bitten ein zweites Haus, um Angefochtene aufzunehmen. Auch äußerlich legte sich der Segen auf das entstandene kleine Werk. Wer jetzt von der Dampferhaltestelle bergaufwärts die Eisenbahnüberführung durchschreitet, betritt ein großes, weites Gelände mit vielen Obstbäumen und darin verstreut liegenden Häusern, das Ganze gekrönt von einer Kapelle hoch auf dem Berg.

    2. Das entstandene Bibel- und Erholungsheim nennt der Volksmund die Zellersche Anstalt. Woher stammt dieser Name? Die Arbeit der Jungfer Trudel wuchs. Erst hatte sie sich beschränkt auf Wortverkündigung vor Kindern, die sie in einer Sonntagsschule in ihrem Hause sammelte. Aber je mehr die Zahl der hilfesuchenden Gäste in ihrem Haus bzw. ihren Häusern wuchs, um so mehr drängte es, daß sie auch ihnen mit dem Worte Gottes diente. Täglich zwei Versammlungen (anfangs sogar noch mehr) und eine immer mehr sich ausdehnende Seelsorge, wofür sie eine ganz besondere Gabe besaß, überschritten ihre Kräfte. Da nahm sie als Gehilfen Samuel Zeller in ihr Haus, einen Sohn der in der Schweiz und Süddeutschland hochgeschätzten Familie Zeller in Beuggen am Rhein, wo Samuels Vater ein Seminar für Armenschullehrer und ein Internat für solche Kinder errichtet hatte. Dieser Zeller war eine hochbedeutende Persönlichkeit,- ein begnadeter Erzieher. Als Pestalozzi einmal Schloß Beuggen besuchte, sagte er: hier ist verwirklicht, was ich nur immer angestrebt habe. Samuel Zeller kehrte im Jahre 1857 an Leib und Seele krank zum erstenmal in Männedorf ein und kehrte an

    3. Leib und Seele geheilt glücklich nach Hause zurück. Diesen noch verhältnismäßig jungen Mann nahm die Jungfer Trudel als ihren Gehilfen. Nach ihrem Tode wurde er Leiter der Anstalt. Als er schon alt geworden und seine Kraft schon ein wenig vermindert war durch einen erlittenen Schlaganfall, beschloß ich, nach Männedorf, von dem ich schon so viel gehört hatte, zu gehen in der Hoffnung, dort die Stärkung zu finden, deren ich für meine Gesundheit bedurfte. Als mich Samuel Zeller zum erstenmal in sein Sprechstübchen lud und wir beide nebeneinander auf dem Sofa saßen, sagte ich zu ihm: Sie müssen nicht denken, daß ich hierher gekommen bin, um auf jeden Fall gesund zu werden. — O, antwortete er, machen Sie sich keine Sorgen. Bei uns geht es nach dem Vaterunser: zuerst kommt Dein Name, Dein Reich, Dein Wille, und danach erst unser täglich Brot. Dementsprechend hörte ich einmal in einer Gebetsstunde von ihm einen sehr charakteristischen Ausspruch. Nachmittags war nicht immer eine längere Bibelstunde, sondern nach einer kürzeren Einleitung wurden Briefe verlesen mit Bitten um Hilfe in geistlicher und leiblicher Not, die aus ganz Deutschland und der Schweiz und darüber hinaus nach Männedorf strömten. Da las er eines Nachmittags (natürlich ohne Ort und Namen) einen Brief einer mit Männedorf durch viel Leid schon verbundenen Familie, die von einem neuen, kaum tragbaren Leid bedroht wurde. Da schrieb eine Tochter an Zeller, indem sie um Fürbitte bat: nun muß doch Gott helfen. Er schaute mit seinen freundlichen Augen über die Brille hinweg in den Saal mit seinen Zuhörern und sagte:

    4. Gott muß ? Gott muß nie 1 So pflegte er auch gelegentlich zu sagen: Gott hat nicht nur ein Medizinaldepartement, sondern auch ein Erziehungsdepartement. Man befand sich also bei ihm in glaubensstarken, aber nüchternen Händen. Er legte auch mir die Hände auf und betete mit mir. Ich wurde jedoch in Männedorf selbst nicht gesünder; aber seinen Bibelstunden beizuwohnen war Belehrung und Freude. Ich habe wohl keinen zweiten in meinem Leben kennengelernt, der die Bibel so souverän beherrschte und ihren übrigen Inhalt zu dem jeweiligen Text heranzuziehen verstand. Er kam mir vor wie ein künsderisch begabter Organist vor einer Orgel mit sehr vielen Registern, der diese Orgel meisterhaft spielt. Daß er etwas reichlich die Methode der Allegorie anwandte, um die Texte im Alten Testament fruchtbar und praktisch zu machen, störte mich nicht, da das, was er allegorisch deutete, stets im Zusammenhang mit der ganzen Heiligen Schrift stand und nicht wie bei den Allegoristen so oft einzelnen Spezialfündlein diente. Aber ich reiste von Männedorf nach etwa fünfwöchigem Aufenthalt ab, wie ich gekommen war. Die starke Angegriffenheit meines Herzens zeigte sich darin, daß der Puls unregelmäßig war, je beim 7. oder 15. oder 20. Schlag setzte er aus, in um so kürzeren Pausen, je mehr ich den Bruder Esel überanstrengt hatte. Und das blieb in Männedorf so. Die Heimreise unterbrach ich in Bad Nauheim, um im dortigen Hospiz zu übernachten. Nachdem ich etwas geschlafen hatte, wachte ich mit der sofort sich einstellenden Empfindung auf: jetzt will Gott etwas an dir tun. Ich kniete nieder und sagte: Gott, ich möchte empfangen, was Du geben willst. Da schlug mit einem Mal von diesem Augenblick an mein Herz normal, und so ist es dann viele Jahre geblieben, außer wenn ich einmal wieder zu unvernünftig gearbeitet hatte.

    5. Vielleicht darf ich ein zweites, späteres Erlebnis beifügen. Es war das Jahr 1941 herangekommen und ich 75 Jahre alt geworden. Ich war sehr müde und reiste in diesem Zustand im Januar zur großen dreitägigen Vorstandssitzung in Salzuflen, deren Leitung die Kraft immer sehr stark beanspruchte. Ich kam erschöpft in Salzuflen an, und als ich mich zu Bett gelegt hatte, fragte ich mich: wie soll das jetzt mit den drei Tagen gehen? Da kam mir der Gedanke: schau noch mal in der Losung nach. Und siehe: der alttestamentliche Spruch 5. Mose 33, 25 lautete: dein Alter sei wie deine Jugend. Ich konnte das fassen als eine mir gegebene Verheißung und habe in der Kraft dieses Glaubens in den darauf folgenden Jahren die höchst anstrengenden Versammlungen und Konferenzen in voller Frische leiten können. Und wenn damals in einem Pressebericht stand: der betagte Vorsitzende hat mit Jugendfrische seinen Dienst tun können, dann dachte ich bei mir: wenn der Schreiber wüßte, woher das stammt! Ich wollte es nicht an die große Glocke hängen. Das hat so lange gewährt, bis Gott mich aus der Gnadauer Arbeit spannte, weil dieser Kraftzufluß aufhörte. Möchten doch alle überlasteten Brüder bedenken und wissen, daß es außer Medizin und Naturheilkunde noch einen anderen Weg gibt, auf dem Gott hilft.

    1. Zum Beschluß

    1. Das Buch „Erkenntnisse und Erfahrungen aus fünfzigjährigem Dienst am Evangelium“ trug viel mehr den Charakter einer systematischen Darstellung in vielfacher Beziehung, während das vorliegende Büchlein sich in der Hauptsache beschränkt auf berichtende Darstellung. Aber so wie jenes Buch nach mannigfachem Zeugnis Lesern gedient hat, so hoffe ich auch von diesem, daß alles Gesagte Salz enthält und Frucht bringt.

    2. Vom gleichen Verfasser ist in 2. Auflage erschienen:

    3. Erkenntnisse und Erfahrungen
      aus fünfzigjährigem Dienst
      am Evangelium
      208 Seiten/Halbleinen DM 5.80

    4. Bitte beachten Sie die Besprechungen des Buches
      auf den folgenden Seiten!

    5. Das Buch, das auf der einen Seite weniger als eine Selbstbiographie, auf der anderen Seite sehr viel mehr, und zwar einen Beitrag zu der Kirchengeschichte von etwa dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts bis heute gibt, sollte jeder junge Pfarrer lesen, wie früher die Büchselschen Erinnerungen den Vikaren in die Hand gegeben wurden. Das große Thema des Lebens und dieses Buches von D. Michaelis ist das Verhältnis von Kirche und Gemeinschaft. Es ist bekannt, welche großen Verdienste Michaelis für das positive Verhältnis zwischen beiden hat. Wir begleiten ihn in seiner Berliner Gemeinde und dann im Westen im Bielefelder Pfarramt, in seiner Tätigkeit als Missionsinspektor, freier Evangelist, Mitarbeiter an der Theologischen Schule in Bethel und als Vorsitzender des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Besonnene Ratschläge erhalten die Gemeindepfarrer für ihr Verhalten zur Gemeinschaft und in der Beurteilung des Pietismus, der ein Erkenntnisgut, das unaufgebbar für die Kirche ist, bewahrt.“ (Evang. Preßverband für Deutschland.) „Ich habe diese zweite erweiterte Auflage fast in einer einzigen Nacht durchgelesen. Hier spricht der Mann, der wie kaum ein anderer die Kirchen- und Gemeinschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte an führender Stelle miterlebt hat. Hier kommen all die Fragen zur Sprache, die uns im Blick auf Kirche und Gemeinschaft heute bewegen. Und wir spüren jeder Zeile an, daß hier einer spricht, der all seine wichtigen Lebensentscheidungen im Heiligtum mit Gott besprochen.

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