Seminar für allgemeine pädagogik


Pro- und Contra-Argumentation (Arne Naess I)



Yüklə 1,19 Mb.
səhifə16/40
tarix20.09.2018
ölçüsü1,19 Mb.
#69391
1   ...   12   13   14   15   16   17   18   19   ...   40

3.4.5 Pro- und Contra-Argumentation (Arne Naess I)


Der norwegische Philosoph Arne Naess entwickelte eine Methode, die benützt werden kann, um kontroverse Standpunkte zu analysieren. Doch bevor sie dargestellt wird, sind einige einleitende Hinweise von Naess es wert, hier genannt zu werden.

Präzisierung der Sprache: Naess legt Wert auf die Genauigkeit der Sprache, die wir in der Argumentation verwenden. Fruchtbar ist seine Unterscheidung von „Formulierung“, „Aussage“ und „Sachverhalt“. Er spricht in diesem Zusammenhang von A-, B-, und C-Größen (vgl. Naess 1975, S. 5).

  • A-Größen sind Formulierungen, Bezeichnungen, Ausdrücke, Wörter, Sätze;

  • C-Größen sind das, was durch A-Größen ausgedrückt wird: Aussagen, Begriffe, Bedeutungsinhalte, Gedanken, Fragen, Befehle;

  • B-Größen sind Objekte, Personen oder Sachverhalte, auf die sich C-Größen (mit den sprachlichen Bezeichnungen von A-Größen) beziehen.

B-Größen sind gleichsam sprachunabhängig gedachte, real existierende (bzw. bewußtseinsimmante) Größen. Um zu wissen, ob zwei Begriffe (C-Größen) nur ähnlich oder aber identisch sind, muß ich auf den Sachverhalt zurückgehen, den sie meinen (B-Größe).

Die Unterscheidung von A- und B-Größen entspricht der Unterscheidung von Metasprache und Objektsprache innerhalb der Sprachphilosophie (vgl. Föllesdal et al. 1988, S. 38). Ich kann z.B. sagen: „Schnee ist weiß“. Das ist ein Satz der Objektsprache (B-Größe). Ich kann aber auch sagen: „Der Satz ‘Schnee ist weiß’ ist wahr.“ Das ist ein Satz der Metasprache (A-Größe)

Bei einem sachlichen Meinungsaustausch sollten wir interessiert sein, Formulierungen zu vermeiden, die Mißverständnisse hervorrufen. Dieser Gefahr entgeht man durch eine begriffliche Präzisierung.

Naess unterscheidet zwischen Spezifizierung und Präzisierung. Die Spezifizierung der Aussage A (z.B. „Hans ist größer als Franz“) durch die Aussage A’ („Hans ist 2 cm größer als Franz“) wird erreicht durch eine zusätzliche Information: der Größenunterschied beträgt 2 cm. Die Präzisierung einer Aussage wird durch begriffliche Einschränkung erreicht: „Hans kam um zwei Uhr nachts nach Hause“ ist präziser als „Hans kam um zwei Uhr nach Hause“, denn die unspezifische Formulierung „zwei“ läßt offen, ob es sich um die Tages- oder Nachtzeit handelt. Beide Sätze aber würden eine Spezifizierung erhalten, wenn es hieße: „Hans kam (nachts) um zwei Uhr mit einem geklauten Fahrrad nach Hause.“

Sachliche Präzisierungen haben Vorrang vor unsachlichen (bewußt oder unbewußt unredlichen, parteiischen, tendenziösen). (Naess 1975, S. 46)

Manchmal allerdings wird die fehlende Präzision eines Begriffes auch benutzt zur Werbung in eigener Sache, vor allem wenn dieser Begriff (C-Größe) dem damit gemeinten Sachverhalt (B-Größe) ein positives Image vermittelt. Die Forderung nach Präzisierung kommt dann allenfalls von einem kritischen Opponenten.

Beispiel: Der Begriff „verläßliche Grundschule“ vermittelt dem dahinterstehenden Konzept zweifellos ein positives Image. Aber was heißt hier überhaupt „verläßlich“? So könnte ein Opponent fragen. Die begriffliche Präzisierung führt zu dem Ergebnis, daß der Begriff der Verläßlichkeit sich auf feste Öffnungszeiten der Schule (Montag bis Freitag von 8 bis 13 Uhr) bezieht. Dieser unstrittige Sachverhalt kann durch begriffliche Präzisierung abgekoppelt werden von der strittigen Frage, ob mit dem dahinterstehenden Konzept die Grundschule in ihrer pädagogischen Qualität verläßlicher wird.

In analoger Weise ist das Interesse von Verlagen begründet, wissenschaftliche Werke mit attraktiven, einen breiten Leserkreis interessierenden Titeln zu versehen. Da heißt etwa ein Titel: „Tod und Verklärung“. Im Untertitel steht dann klein gedruckt die eigentlich wesentliche Information: „Zur Programmatik musikalischer Kompositionsprinzipien beim jungen Richard Strauss“. Erst der Untertitel bringt im Sinne einer Präzisierung dem Leser Aufklärung darüber, daß die Titelbegriffe „Tod“ und „Verklärung“ nicht allgemeine (etwa theologische oder philosophische) Bedeutung haben, sondern sich auf eine bekannte Komposition eines bekannten Komponisten beziehen.

Fehlende Präzisierung der Begriffe kann auch zu einer Scheineinigkeit führen, die verbal Einigkeit vortäuscht, hinter der sich aber Differenz in der Sache verbirgt. Beispiel: Zwei Professoren bewerten eine Dissertation (vgl. Naess 1975, S. 73):

A: Diese Arbeit ist erstaunlich dünn!

B: In der Tat! Das war das erste, was mir durch den Kopf ging, als ich sie mir ansah!

A: Ich glaube, das reicht nicht aus!

B: Aber ich bitte Sie! Gerade in dieser knappen Darstellung ist Herrvorragendes geleistet worden!

Erst im Laufe des Gesprächs schält sich heraus, daß die anfängliche Einigkeit zwischen A und B nur verbal bestand. Generell ist bei der Definition von Begriffen wichtig, sich zu vergewissern, welche Normen und Akzentsetzungen mit dem zu definierenden Begriff verbunden werden. In obigem Beispiel wird der Begriff „dünn“



  • von Professor A auf eine geringe Qualität und Quantität der Studie bezogen;

  • von Professor B „ausschließlich auf die geringe Quantität bei gleichzeitiger Hochschätzung der Qualität der Studie bezogen.

Oft wird das Problem angemessener Definitionen und hinreichender Präzision der Sprache nicht zu Beginn einer Argumentation gelöst, sondern ist Teil des sachlichen Dialogs. Doch erst wenn dieses Problem gelöst wird, können Erfolge in der Sache erwartet werden. Man erinnere sich, welches Gewicht in der politischen Diskussion des geteilten Deutschlands bis 1990 die Frage hatte, ob die DDR als selbständiger Staat zu definieren sei oder ihr ein völkerrechtlicher Sonderstatus zukomme. Das Festhalten an der letzteren Option ließ die Wiedervereinigung juristisch relativ schnell vonstatten gehen.

Wer andere überzeugt - mit welchen Mittel auch immer -, daß seine Argumente die einzig richtigen sind, kann in einer öffentlichen Diskussion deutlich Pluspunkte sammeln. Naess (1975, S. 134) dagegen schlägt vor, strittige Sachverhalte durch eine Argumentationsübersicht in ihrem Für und Wider zu verdeutlichen - womit er dem Hohngelächter abgebrühter Rhetoren entgegentreten will, die „intellektuell redliche Darstellung des Für und Wider einer Sache als ein Zeichen für Gewissenlosigkeit und Zynismus anzusehen“ (ebenda, S. 132).



Pec- und Pac-Übersichten: Bei Naess wird der argumentative Dialog zu einem gemeinsamen Monolog der Kontrahenten. Naess unterscheidet zwei Arten von Übersichten über Argumente:

  • Pro-et-contra-Übersichten (Dafür-und-dagegen-Übersichten),

  • Pro-aut-contra-Übersichten (Entweder-dafür-oder-dagegen-Übersichten).

Abgekürzt wird auch von Pec- und Pac-Übersichten gesprochen. Die Pro-et-contra-Übersicht wird mit einer möglichst präzisen These eingeleitet, deren Für und Wider zur Diskussion steht; Naess verwendet hierfür den Begriff „Spitzenformulierung“. Die Pro-et-contra-Übersicht beinhaltet keine Schlußfolgerung, d.h. die einzelnen Argumente werden nicht gegeneinander abgewogen. Sie enthält jedoch:

  1. die wichtigsten Argumente, die in einer bestimmten Diskussion oder einer bestimmten Problematik zu Gunsten einer Behauptung angeführt worden sind oder wahrscheinlich noch angeführt werden;

  2. die wichtigsten Argumente, die in einer bestimmten Diskussion oder einer bestimmten Problematik gegen eine Behauptung angeführt worden sind oder wahrscheinlich noch angeführt werden. (Naess 1975, S. 134).

Die Pro-aut-contra-Übersicht enthält nicht nur die „Spitzenformulierung“ (These) F0 am Anfang, sondern auch eine Schlußfolgerung am Ende. Hier müssen also die Pro und Contra Argumente gegeneinander abgewogen und gewichtet werden, so daß am Ende ein eindeutiges Urteil (entweder pro oder contra F0) gefällt wird.

Eine Pro-aut-contra-Übersicht ist eine anschauliche Übersicht über die wichtigsten Argumente, die nach Meinung des Verfassers oder, allgemeiner, nach Meinung einer bestimmten Person oder Gruppe für eine bestimmte Behauptung sprechen. Außerdem enthält sie die Argumente, die nach Meinung der Genannten gegen diese Behauptung sprechen. (Naess 1975, S. 135)

Wichtig ist dabei, daß


  • dasselbe Argument nicht sowohl auf der Pro- als auch auf der Contra-Seite auftaucht;

  • alle Argumente einer Seite miteinander logisch vereinbar sind; d.h. keine Widersprüche enthalten;

  • eine Behauptung nicht gleichzeitig gutgeheißen als auch verworfen wird (ebenda, S. 136).

Argumente, die die Spitzenformulierung (F0) stützen, nennt Naess Pro-Argumente erster Ordnung (P1, P2, ...). Argumente, die die Spitzenformulierung verwerfen bzw. schwächen, heißen Kontra-Argumente erster Ordnung (C1, C2, ).

Nun können einzelne Argumente erster Ordnung wiederum zusätzlich gestützt oder geschwächt werden. Das führt zu Argumenten zweiter Ordnung. Sie heißen



  • Pro-pro-Argumente, wenn sie ein Pro-Argument erster Ordnung stützen (PP);

  • Kontra-Pro-Argumente, wenn sie ein Pro-Argument erster Ordnung schwächen (CP);

  • Pro-Kontra-Argumente, wenn sie ein Kontra-Argument stützen (PC);

  • Kontra-Kontra-Argumente, wenn sie ein Kontraargument erster Ordnung schwächen (CC).

Argumente sollen haltbar (gültig, wahr) und relevant (von großem Gewicht) sein. Vermeiden sollte man den Fehler, möglichst viele Argumente von geringer Relevanz aufzuzählen, während ein haltbares Argument von großer Relevanz vergessen wird. Die Ausweitung der Argumentation über Argumente zweiter Ordnung hinaus, ist nicht praktikabel.

Als Beispiel einer Pec-Argumentation sei die folgende Struktur wiedergegeben:



F0

P1: C1:

P2 P1C1

P3 P2C1

P1P3: P1P2C1

P2P3 P2P2C1

C1P3 C1P2C1

P4 C2



Beispiel einer Argumentationsstruktur nach Naess (1975, S. 143)

Die Übersicht soll vor allem auch den Zusammenhang der einzelnen Argumente verdeutlichen. Die Symbole werden von links nach rechts gelesen: P1P2C1 = Pro-Argument Nr. 1 für Pro-Argument Nr. 2 für Kontra-Argument Nr. 1.

Für die Analyse und Bewertung öffentlicher Diskussionen empfiehlt Naess, zunächst eine Pec-Übersicht aufzustellen, um zur Pac-Übersicht zu gelangen; an deren Ende steht die Formulierung des eigenen Standpunktes im Sinne einer eindeutigen Pro- und Kontra-Stellungnahme bezüglich F0.

Übungsaufgabe: Die Spitzenformulierung F0 laute: Das Konzept „verläßliche Grundschule“ (VGS) ist für Lehrkräfte, Eltern und Kinder positiv zu bewerten. Versuchen Sie, Argumente pro und contra „verläßliche Grundschule“ zu strukturieren. Bedienen Sie sich für die Gewinnung von Argumenten aller Verlautbarungen, Pressemitteilungen und Stellungnahmen, soweit sie für Sie greifbar sind. Aus mehreren Bundesländern liegen bereits Erfahrungen mit den Konzepten „volle Halbtagsschule“ und „verläßliche Grundschule“ vor; sowohl die Konzeptionen als auch die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich (vgl. DER SPIEGEL Nr. 46/98 S. 72 ff.; Nr. 48/98, S. 12).

Berücksichtigen Sie bei den Pro-Argumenten neben den oben bereits erwähnten Argumenten insbesondere:



  • Mit der flächendeckenden VGS soll gleichzeitig die 1. Fremdsprache ab Klasse 3 flächendeckend eingeführt werden;

  • Der eigentliche Unterricht verbleibt wie bisher in der Verantwortung ausgebildeter Lehrer; Hilfskräfte sind nur für Betreuungsaufgaben vorgesehen;

  • Keine Lehrkraft braucht mehr neben seinen eigenen Klasse zusätzlich weitere Kinder betreuentreuen;

  • Es gibt keinen Unterrichtsausfall mehr;

  • Hilfskräfte sind nicht nur menschlich eine Bereicherung, sondern auch pädagogisch, weil sie oft über besondere Kompetenzen (z.B. Basteln, Musizieren) verfügen.

  • Die Sicherheit fester Öffnungszeiten ist ein sozial- und fraunepolitisches Kernanliegen, da Sie Müttern die Sorgen um ihre Kinder nehmen und Frauen die Berufstätigkeit ermöglichen;

  • insbesondere die Unterrichtsversorgung kleinerer Grundschulen wird spürbar verbessert.

Berücksichtigen Sie bei den Kontra-Argumenten neben den oben bereits erwähnten:

  • Eltern sind in erster Linie interessiert an einer Verbesserung der Qualität des Unterrichts und der Begabungsförderung ihrer Kinder; ein bloßer Aufenthalt der Kinder in der Schule, durch Hilfskräfte beaufsichtigt, macht die Schule zur Verwahranstalt und liegt weder im Interesse Lehrer noch im Interesse der elterlichen Erziehung;

  • Die Chancen von teilzeitbeschäftigten Lehrern eine volle Anstellung zu erhalten, verringern sich aufs Ganze gesehen durch stundenweise eingestellter, billiger Hilfskräfte;

  • Die pädagogische Förderung der Kinder muß Bestandteil gemeinsamen Unterrichts sein und darf nicht der Beliebigkeit des Angebotes von Hilfskräften mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen ausgesetzt werden

  • Das Konzept VGS ist eng an der bestehenden Stundentafel orientiert mit jeweils einer zusätzlichen Betreuungsstunde, die nur am Anfang oder am Ende des Unterrichts liegen kann, womit fachübergreifend-ganzheitliche, dem Rhythmus des Kindes angepaßte Situationen eingeschränkt.

  • Die regional unterschiedlichen Bedingungen und Organisationsformen der VGS führen in einem Flächenland wie Niedersachsen zu unterschiedlichen qualitativen Standards.

  • Liegt die Betreuungszeit von 8 bis 9 Uhr morgens, wird die beste Zeit zum gemeinsamen Lernen einer pädagogischen Betreuung geopfert, die, da sei freiwilliges Angebot ist, bei den Schülern zwei soziale Klassen entstehen läßt: „betreute“ Schüler, deren Eltern arbeiten, und Schüler, deren Mütter nicht arbeiten müssen und die nach Auffassung ihrer Eltern zu Hause eine bessere Förderung als die Fremdbetreuung erfahren.

  • Die praktischen Konsequenzen des Konzeptes VGS sind ohne längere Erprobung der überhaupt nicht abschätzbar, weshalb jede Realisierung unter Zeitdruck abzulehnen ist.

3.4.6 Interessengeleitete Argumentation - Bewahrung von Sachlichkeit (Arne
Naess II)


Jene Grundfrage kommunikativer Auseinandersetzung, die Platon zur Unterscheidung von Rhetorik und Dialektik nötigte, ist heute nach wie vor aktuell: Soll Argumentation verstanden werden als Technik der Überredung oder Methode der Wahrheitsfindung? Geht es um Beeinflussung durch emotionale Einfühlung in das, was Gesprächspartner oder Zuhörer gerne hören wollen, oder geht es um Überzeugen durch vernünftige Gründe? Unter dem Gesichtspunkten interessengeleiteter Kommunikation wäre es fatal zu behaupten, daß das erstere schlecht und nur das letztere gut sei. Denn interesssegeleitete Argumentation wird nicht nur mit der Absicht geführt, den eigenen Standpunkt überzeugend durchzusetzen. Vielmehr ginge es darum, Gesprächspartner und Öffentlichkeit so zu beeinflussen, daß sie die Anerkennung der Argumente ihres Kontrahenten als Bestandteil ihres eigenen Interesses akzeptieren und überzeugt von der Richtigkeit ihrer Entscheidung sind. Schließlich - so lautet ein weithin bekanntes Urteil - komme es nicht so sehr darauf an, gute Argumente zu besitzen, sondern vor allem darauf, sie gut zu „verkaufen“.

Theorien der Kommunikation machen Angebote in beide Richtungen: Wer die Techniken emotionaler Einfühlung kennenlernen möchte, wird sich heute vor allem mit dem Konzept „Neurolingustisches Programmieren“ beschäftigen. Wer erfahren will, wie in argumentativen Auseinandersetzungen Sachlichkeit bewahrt und unsachliche Redeweisen erkannt bzw. vermieden werden, findet in der argumentationstheoretischen Literatur entsprechende Hinweise, die im folgenden zusammenfassend behandelt werden.

Naess nennt sechs Normen, deren Anerkennung im argumentativen Meinungsaustausch für Sachlichkeit sorgen. Sachlichkeit bezieht sich dabei auf die Forderung, in einer Argumentation im wesentlichen nur die Überzeugungskraft rationaler Argumente - und keine anderen Hilfsmittel - gelten zu lassen.

Hauptnorm A. Halte dich an die Sache! Gegen tendenziöses Drumherumgerede!

Die Verletzung dieser Norm ist gegeben,


  1. wenn der Gegner bestimmter Dinge verdächtigt wird, die mit der Sache nichts zu tun haben! Beispiel: Demjenigen, der wegen der akuten Verletzungsgefahr den Boxport ablehnt, wird entgegnet: „Da Sie selbst weder Sportler noch Boxer sind, können Sie hier gar nicht mitreden!“

  2. wenn der Gegner wegen einer Meinung angegriffen wird, die er nachweislich nicht hat. Das ist der Fall, wenn dem Kritiker des Boxsportes entgegnet wird: „Dahinter steckt ja nur die Absicht, dem Sport generell eins auszuwischen!“

  3. wenn man sich selbst zu hochgeschätzten Standpunkten bekennt, gegen die niemand etwas einwenden kann, die gleichwohl als beim Gegner nicht vorhanden hingestellt werden: „Ich bin für Gerechtigkeit und Freiheit!“

Alle drei Redetechniken sind „tendenziöses Drumherumgerede“ (Naess 1979, S. 164).

Hauptnorm B. Eine Formulierung, deren Zweck es ist, in einer ernsthaften Diskussion einen Standpunkt wiederzugeben, muß neutral sein in Bezug auf den Streitpunkt: Gegen tendenziöse Wiedergabe!

Die Verletzung dieser Norm ist gegeben


  1. wenn ein Argument oder eine Forderung einer extremen, auch in ihren Konsequenzen überzeichneten Weise wiedergegeben wird (die Ankündigung, daß eine Personalstelle in einer Abteilung eines Universitätsinstitutes eingespart werden müsse, wird für die Betroffenen Anlaß zur Klage, daß das gesamte Fach oder die gesamte Universität damit vor dem Ausverkauf stehe);

  2. wenn aus einem längeren Zitat eine einzelne Formulierung, herausgelöst aus ihrem Kontext zitiert wird mit einer Interpretation, die völlig verschieden ist von dem, was der Verfasser damit ausdrücken wollte;

  3. wenn mit Hilfe von witzigen oder ironischen Formulierungen grobe Entstellungen und Verdrehungen dem Publikum schmackhaft gemacht werden (statt von „verläßlicher Grundschule“ spricht ein Kritiker des Konzeptes nur noch von „verletzlicher Grundschule“)

Es ist eine besondere Kunst der Diskussionsführung – gerade wenn sie durch einen Moderator vermittelt wird -, die verschiedenen Argumente der Kontrahenten so zusammenzufassen, daß die Strukturierung der Redebeiträge keine Verzerrung beinhaltet, andererseits der Punkt um den es geht, deutlich herausgearbeitet wird.

Hauptnorm C. Ein Diskussionsbeitrag soll keine Mehrdeutigkeiten von einer Art aufweisen, welche bei den Zuhörern oder Lesern falsche Vorstellungen darüber erwecken können, wofür die Debattanten einzustehen bereit sind: Vermeide tendenziöse Mehrdeutigkeit!

Dies ist ein ziemlich kompliziert formuliertes Kriterium. Anders gesagt: Die Botschaften, die von den Kontrahenten in einer Diskussion ausgetauscht werden, dürfen nicht mit größerem Gewicht versehen werden, als dem jeweils zugrundeliegenden Argument zukommt. Eine solche Tendenz läßt sich durch Mehrdeutigkeit erzeugen.

Übung: Versuchen Sie, in dem folgenden Wortwechsel - Auszug aus einer Bundestagsdebatte über die Bewilligung von Sportanlagen - Anzeichen für tendenziöse Mehrdeutigkeit bzw. Verstöße gegen die Hauptnorm C zu entdecken (Naess 1975, S. 177 f.).

A: Ich bin nicht gegen den Sport. Aber der Standpunkt von uns Christen ... (1)

B: Wer ist mir „wir Christen“ gemeint? (2)

A: Wir, die wir aktiv für das Christentum eingetreten sind... (3)

B: Ich möchte doch daran erinnern, daß sich noch andere Leute als Christen ansehen (4)

A: Ja, ja. Ich meine zunächst die Mitglieder der Christdemokraten. (5)

Hauptnorm D. Unterstelle dem Gegner keine Standpunkte, für die er nicht eintritt: Gegen den Aufbau von Buhmännern!

Dies Norm stellt eine Erweiterung der Hauptnorm B dar. Während sich B gegen die tendenziöse Wiedergabe der vom Kontrahenten geäußerten Argumente verwahrt, richtet die Hauptnorm D ihr Augenmerk auf die tendenziöse Darstellung von Standpunkten, die der Kontrahent nicht direkt zum Ausdruck gebracht hat, die man aber aus seinen Argumenten oder aus Beiträgen Dritter folgern muß.

Norm D richtet sich gegen solche Fälle, in denen eine Person einer anderen [Person] Standpunkte beilegt 1. ohne erkennen zu geben, daß diese wahrscheinlich oder sicher dagegen protestieren wird, daß ihr solche Auffassungen zugeschrieben werden, oder 2. ohne auf die Argumente einzugehen, die man selbst hat, um dieser Person eine Auffassung zuzuschreiben, die sie nach ihrer eigenen Aussage nicht hat. (Naess 1975, S. 184)

Bei harten interessenbestimmten Auseinandersetzungen ist es durchaus nichts Ungewöhnliches, daß sich die Kontrahenten wechselseitig „Unterstellungen“ vorwerfen. Noch schlimmer ist es, wenn einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens auf Grund von Kolportage durch die Medien etwas unterstellt wird, was Ansehen und Ruf untergräbt. Dem ersten Finanzminister der rot-grünen Koalition, Oskar Lafontaine, der nach wenigen Monaten entnervt seinen Rücktritt bekannt gab, wurde während seiner Amtszeit nachgesagt, nicht er, sondern seine Frau bestimme die Finanzpolitik der Bundesregierung. 1984 bat ein hoher General, Günther Kießling, den damaligen BundesverteidigungsministerWörner um den Abschied, nachdem eine wochenlange Medienkampagne den General als Homosexuellen verschrieen hatte. Auch wenn sich der Vorwurf als Erfindung heausstellte und dem Betroffenen volle Rehabilitation zuteil wurde, sah er seinen Ruf zu sehr geschädigt, um weiter im Dienst bleiben zu können.

Hauptnorm E. Eine Darstellung (Bericht oder Theorie) sollte es vermeiden, dem Hörer oder Leser ein schiefes Bild zu vermitteln, das den Interessen der einen Partei auf Kosten der anderen dient: Gegen tendenziöse Originaldarstellungen!

Eindrucksvolle Beispiele für Verstöße gegen diese Norm bietet die Selbstdarstellung von Parteien nach der Wahl. Nehmen wir an, die stärkste Partei A mußte 10 % Stimmenverluste hinnehmen, bleibt aber immer noch 0,5 % über den Stimmen der Konkurrenzpartei B, die ihrerseits einen Stimmenzuwachs von 5 % verbuchen konnte: Selbstverständlich stellt sich Partei A in der Öffentlichkeit dar als „stärkste Partei und damit Sieger der Wahl“; das verheerend schlechte Abschneiden wird erst in zweiter Hinsicht erwähnt, und zumeist findet man andere Schuldige: Eine Landespartei greift dann gern auf die schwachen Leistungen der Parteifreunde in der Bundespolitik zurück. Wahlniederlagen werden erst eingeräumt, wenn sie selbst dem Dümmsten nicht mehr als Sieg verkauft werden können. Dies geschieht in der Regel so, daß nicht das Programm der Partei die Ursache war, sondern die Schuld dem „unaufgeklärten“ Wähler zugewiesen wird, der von der Bedeutung des eigenen Anliegens nicht überzeugt werden konnte.

Hauptnorm F. Kontext oder äußere Umstände, die nichts mit der Sache zu tun haben, sollten neutral gehalten haben: Gegen tendenziöse Präparierung von Diskussionsbeiträgen!

Die „Verpackung“, in der Diskussionsbeiträge dargeboten werden, ist oft entscheidend für einen fairen Umgang miteinander: Wenn in einem argumentativen Schlagabtausch mit Unterstellungen, denunziativen Behauptungen und „Killerphrasen“ gearbeitet wird, ist dies ein Verstoß gegen die Hauptnorm F.


3.4.7 Strategien offensiver und defensiver Argumentation (Paul-Ludwig Völzing)


Paul-Ludwig Völzing (1979, S. 145) zitiert Autoren, die der Ansicht sind, daß bloße sachliche Information fast nie zu einer Veränderung der Einstellung bei Zuhörern oder Opponenten führen würden. Völzing kommentiert diese Aussage relativierend, indem er darauf hinweist, daß neben emotionalen und persuasiven Anteilen der Argumentation, Information unter bestimmten Voraussetzungen durchaus meinungsverändernd wirken kann.

In Argumentationen haben die Kommunikationspartner deshalb immer bestimmte Annahmen über die eigenen Einstellungen und die Eisntellung des Gegenüber, also über 1) Wissen, 2) Wünsche, 3) Meinungen, 4) Gefühle. (Völzing 1979, S 138)



Strategisches Argumentieren - offensiv: Strategisches Argumentieren ist interessengeleitet und dient der argumentativen Durchsetzung des vertretenen Standpunktes. Offensives Argumentieren in diesem Sinne ist eher aktiv als passiv, eher angreifend als verteidigend. Dabei ist es durchaus vorteilhaft, den Eindruck einer kooperativen Haltung zu erwecken. Strategisches Argumentieren spielt sowohl im öffentlichen Meinungsstreit als auch bei Verhandlungen eine Rollen. Zwei verschiedene Typen von Argumentationsanlässen sind zu unterscheiden: der Meinungsstreit und das Verhandeln.

Meinungsstreit: Unter diese Rubrik fällt die öffentliche Darlegung eines Sachverhaltes, einer getroffenen Entscheidung oder einer Situationseinschätzung in Gegenwart von Meinungsgegnern und Publikum. Das Interview zweier Politiker aus gegensätzlichen Lagern kann ebenso zum Meinungsstreit werden wie die wissenschaftliche Diskussion um die Richtigkeit bzw. Adäquatheit einer bestimmten Theorie. Dabei sind in der Argumentationsanalyse sachgebundene und auf die Person abzielende (zumeist abwertende) Argumente zu unterscheiden. In einer derartigen Diskussion werden üblicherweise auch Halbwahrheiten und Unterstellungen gebraucht, die allerdings nicht vom Publikum erkannt werden dürfen. Denn in dem Moment, in dem eine strategische Argumentation als unredlich entlarvt wird, wird sie nicht nur sachlich wertlos, sondern führt auch zum Verlust der Wahrhaftigkeit ihres Urhebers.

Verhandlungen zwischen Interessengruppen: Beide Parteien wissen voneinander, daß sie strategisch zu ihrem Nutzen argumentieren. Jede der Gruppen muß gleichwohl den Eindruck erwecken, daß ihre Beweggründe nicht egoistischer Natur seien, sondern dem Allgemeinwohl bzw. einem höheren Zweck dienen. Allerdings wird auch der stärkere der beiden Verhandlungspartner nicht vergessen, daß er vermutlich künftig auf den anderen angewiesen bleibt (z.B. im Falle eines Zusammenschlusses). Der wahrgenommene Erfolg, die eigenen Interessen erfolgreich verteidigt oder durchgesetzt zu haben, muß dem Verhandlungsgegner nicht als dessen „Niederlage“ vermittelt werden, vielmehr sollte der Gegenseite Möglichkeiten zur Realisierung ihrer Interessen eingeräumt werden. Generell ist es in Verhandlungen immer besser, die gemeinsamen Interessen und Ziele herauszustellen, als die Unterschiede zu betonen.

Völzing unterscheidet fünf Stufen des offensiven Argumentierens (ebenda, S.179 f.):



  1. Frage: fragen - wissen wollen - um Informationen bitten;

  2. Kooperative Angebote: um Begründung bitten, um Erklärung bitten; etwas zu bedenken geben; bitten, Stellung zu beziehen.

  3. Auffordern: etwas einklagen - auffordern, Stellung zu beziehen - jemanden in Zugzwang bringen - sein Recht fordern - jemanden bedrängen, die Wahrheit zu sagen.

  4. Vorwerfen/beschuldigen: vorwerfen - beschuldigen - jemanden belasten - sich beschweren - vorhalten - jemanden tadeln - jemanden bezichtigen, die Unwahrheit gesagt zu haben.

  5. Anklagen.

Ausweichmanöver als Strategien defensiven Argumentierens: Völzing nennt die folgenden rhetorischen Kategorien von Ausweichmanövern, die besonders gern benutzt werden, um vor Dritten - coram publico - Sieger zu bleiben (ebenda, S. 188):

Zeit gewinnen - den Gegner verunsichern - vom Thema ablenken - sich hinter Worten verschanzen - die ganze Sache als nicht der Rede wert darstellen - Vergangenheit oder Zukunft bemühen - Rückzugsgefechte.

Es ist klar, daß diese Strategien nicht argumentativ sind. Im folgenden wird eine gedrängte Auswahl der von Völzing (ebenda, S. 183 ff.) erwähnten Argumentationsmuster gegeben, die ihre Ergänzung finden durch die in Abschnitt 5.3.2 gegebenen Beispiele für „Killerphrasen“:



  • disqualifizieren (eine Sache herunter spielen): „Wieviel Länderspiele hat St. eigentlich gemacht?“

  • mystifizieren: (hinter eine schwierige Angelegenheit verstecken): „Das ist eine lange Geschichte.“

  • verweisen (Verantwortlichkeit weitergeben): „Da müssen Sie meine Frau fragen!“

  • Kompetenz aufbauen: „Schließlich bin ich doch verantwortlich...“

  • Kompetenz negieren (Identität verleugnen): „Auch ich bin nur ein Mensch!“

  • die Frage inhaltlich abblocken, durch aggressive Kritik an ihrer Form: a) syntaktisch-semantische Kritik: „“Ich höre immer nur ‘hätte’, ‘wäre’ und ‘sollte’....; b) pragmatisch: „Wie reden Sie eigentlich mit mir?“

  • psychologische Tricks: „Warum sehen Sie immer nur mich an?“ „Das erlauben Sie sich nur, weil ich eine Frau bin!“

  • den anderen bezichtigen, die Unwahrheit zu sagen: „Aber Herr N., wie kann man nur so unaufrichtig sein!“

  • Verweis auf Sachzwänge und widrige Umstände: Der Rasen, Ball, Schiedsrichter, das Wetter usw. waren schuld, daß wir nicht Weltmeister wurden.

  • ein Beispiel verlangen (dient vor allem, um Zeit zu gewinnen).

  • Sich etwas erklären zu lassen („Was meinen Sie damit?“), um Zeit zu gewinnen und von der Verteidigung in den Angriff übergehen zu können.

  • So tun, als ob man auf den anderen eingeht, um sogleich zu kontern: „Ich bin im Prinzip durchaus Ihrer Meinung, aber haben Sie in diesem konkreten Fall berücksichtigt, daß ....“

  • Verweis auf (scheinbar) Ausdiskutiertes: „Dazu brauche ich wohl nichts mehr zu sagen!“

  • Unerwünschte Argumente/Fragen umdefinieren mit der Formel: „Aber darum geht es doch gar nicht! Es geht vielmehr darum, daß...“ ( = eine Ergänzung von mir; H.R.).

Kommentar: Manipulative Formen der Argumentation müssen bewußt gemacht werden, um sie beim Gegner zu erkennen und gegebenenfalls zum Gegenstand eines Diskurses zu machen. In der eigenen Rede sollten sie möglichst vermieden werden. Die kurzfristigen Gewinne, die sich mit ihrer Hilfe tatsächlich erzielen lassen, gehen zu Lasten eines langfristig kaum korrigierbaren Vertrauensschwundes. Erfolge in der interessengeleiteten Kommunikation werden über die sachliche Argumentation hinaus auch von der eigenen Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit bestimmt. Deshalb wird interessengeleitete Kommunikation, wenn sie erfolgreich sein will, immer an dem Prinzip festhalten, im eigenen Vorgehen die Interessen des Kontrahenten soweit möglich mit zu berücksichtigen.

3.4.8 Vereinfachte Argumentationsanalyse


Die folgenden Grundsätze und methodischen Vorgehensweisen wurden aus Lehrveranstaltungen zum Thema „Argumentation“ gewonnen. Sie stellen eine Vereinfachung der in den vorangegangenen Kapitel behandelten Vorschläge anderer Autoren dar.

Grundsätze:

  • Kontroversen entstehen durch (argumentativ gestützte) Behauptungen, deren Geltungsanspruch von Kritikern durch Gegenargumente bestritten wird.

  • Eine Behauptung, die einen besonderen Geltungsanspruch hat, der einerseits durch Argumente begründet ist, andererseits sich der kritischen Überprüfung stellt, nennen wir These.

  • Ein Sachverhalt kann mehrere Behauptungen (Thesen bzw. Unterthesen betreffen).

  • Eine These wird in der Regel mit mehreren Argumenten gestützt.

  • Ein Argument ist eine Aussage, die in besonderer Weise geeignet, eine Behauptung als richtig bzw. wahr zu erweisen („Beweisgrund“, „etwas, was der Erhellung eines Sachverhaltes dient“).
Vorgehensweise

  1. Die Argumentationsketten des Pro- und des Kontravertreters entsprechend ihrem Selbstverständnis jeweils in Einzelargumente zerlegen, durchnummerieren, und in zusammenfassender Form darstellen.

  2. Prüfen, ob jedes Pro-Argument vom Kritiker mit einem Kontra-Argument beantwortet wird (dies ist oft nicht der Fall!) - insbesondere prüfen, auf welche Pro-Argumente der Kritiker eingeht - und auf welche nicht!

  3. Prüfen, ob der Geltungsanspruch einzelner Argumente (pro und contra) jeweils auf Wahrheit, Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit zu beziehen ist

  4. Prüfen, ob im Falle einer wahrheitsfähigen Aussage der Kritiker im Sinne Habermas‘ nicht die konstative, sondern die regulative oder gar die subjektive (expressive) Ebene für die Gegenargumentation benützt.

  5. Prüfen, ob zur Stützung von Behauptungen an Stelle der Wahrheitsfähigkeit des Argumentes die Herkunft des Arguments Gewicht erhält (historischer Rückblick, Expertenmeinung, Berufung auf die Tradition u.a.m.).

  6. Prüfen, ob der Behauptung ein geringer oder ein hoher Generalisierungsgrad der Aussage zu Grunde liegt.

  7. Prüfen, auf welche differenten Begründungszusammenänge, Normen, Standpunkte usw. sich die Kontroverse zurückführen läßt.

  8. Prüfen, ob die mit der These verbundene Konsequenz eindeutig, mehrdeutig, oder widersprüchlich ist.

Beispiel einer einfachen Argumentationsanalyse:

Titelgeschichte „Ist Erziehung sinnlos?“ (Der SPIEGEL, Nr. 47/98)

A1 Judith R. Harris: Der Einfluß der Erziehung auf die Kinder ist gering

B1a [Der Einfluß auf die Erziehung ist entscheidend:] Kaputte Familien produzieren kaputte Kinder

B1b Alice Miller: Hitler hätte keinen so großen Erfolg gehabt, wenn die von ihm erfahrenen Erziehungsmuster und die daher rührenden Schäden nicht so verbreitet gewesen wären

A2a Harris: Eltern überschätzen - im guten wie im schlechten - maßlos ihre Macht. Es ist für das Erziehungsschicksal des Kindes gleichgültig, ob die Mutter berufstätig ist, Alleinerziehende ist, Lesbe ist - oder nicht.

A2b Eltern können den Charakter ihrer Kinder weder positiv noch negativ beeinflussen: was nicht schon in den Genen angelegt ist, prägen die Peergroups, nicht die Eltern: „Eltern sind austauschbar, wie Fabrikarbeiter“



B2 Journal „Focus“: Harris ist eine „Akademische No-Name-Lady“, deren Quellen „aus den Regalen der Gemeindebücherei“ stammen

A3 Dawid Rowe: Soziale Schicht, Warmherzigkeit der Eltern und Familienstruktur haben vermutlich „keinen kausalen Einfluß auf Intelligenz, Persönlichkeit und Psychopathologie des Kindes“



B3 K. Hurrelmann: Das ist ein „albernes Hin und Her, jetzt schlägt das Pendel eben mal wieder in Richtung Vererbung aus“

Exkurs zur Geschichte des Problems

A4 Bereits bei Shakespeare heißt es: „ein geborener Teufel, dessen Natur Erziehung nicht zu ändern vermag“; Francis Galton, Begründer der Genetik, folgerte sogar, man müsse [und könne] die Menschheit durch Züchtung vervollkommnen

B4 Freuds Psychoanalyse und die behavioristische Lernpsychologie, ja sogar die antiautoritären Bewegung der siebziger Jahre bestätigte den Grundsatz: Kinder werden geformt durch das, was sie an Erziehung und Bildung in der Kindheit erfahren haben - nicht durch das, was sie auf die Welt mitbringen

Zwischenbefund: Beide Seite haben recht, man trifft sich in der Mitte

A5 Es gibt kein Gen für irgendeine psychische Eigenschaft; Gene erhöhen nur die Wahrscheinlichkeit, daß ihr Träger eine bestimmte Eigenschaft ausbildet. Die Gesamtheit einer Genkonstellation beeinflußt vermutlich eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen, die traditionell dem Umwelteinfluß zugeschrieben werden. Doch die „geteilte Umwelt“ macht Zwillinge nicht ähnlicher; wirksamer ist die „ungeteilte Umwelt“: unterschiedliche Behandlung der Kinder, Einfluß von Freunden; geschlechtsrollenspezifische Abgrenzung in der Peergroup

B5 Frau Harris hat alles, was sie behauptet, an ihrem eigenen Leib während der Kindheit erfahren“ - reicht das aus?

A6 Daß die Peergroup größeren Einfluß als die Eltern hat, zeigt sich insbesondere bei Sprachstudien, ebenso bei Aggressions- und Kriminalitätsstudien im schulischen Bereich

B6a Jede extreme Negativeinwirkung von Eltern (sexueller Mißbrauch, schweres Prügeln, ehrgeiziges, Widerstand brechendes Abrichten zu Höchstleistungen) hat problematische Folgen für das Kind - unabhängig von allen anderen Faktoren

B6b John Gottman: Ändert man das Verhalten der Eltern (z.B. indem sie lernen, angemessen auf Aggressionen von Kindern zu reagieren), ändert sich das Verhalten der Kindern, auch außerhalb des Elternhauses

B6c Frank Farley: Die Thesen von Frau Harris sind absurd! Wenn die Eltern sie glauben, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen

A7 Harris: Wir lieben unsere Kinder, weil sie liebenswert sind und nicht weil wir glauben, daß sie es brauchen: Entspannen Sie sich, Ihr Kind ist robuster, als Sie glauben

B 7 Klaus Hurrelmann: Auch wenn Eltern das Temperament ihrer Kinder nicht zu beeinflussen vermögen, können sie aber „vielleicht doch die kleinen Akzente setzen“

Kommentar einer Arbeitsgruppe zum Artikel: „Ist Erziehung sinnlos?“ Ist die Frage, ob Erziehung „sinnlos“ ist, von möglichen „Wirkungen“ des elterlichen Einflusses her abhängig? Ist die Liebe zu einer anderen Person, hier die Zuwendung der Eltern zum Kind, abhängig von Wirkungen? Wohl kaum. Die Frage, ob Eltern entscheidender sind (in welcher Hinsicht?) als die Peer group, ist in dieser generalsieten Form kaum zu beantworten; Kindheit unter dem Einflußt der Eltern und Jugendzeit unter dem Einfluß der Peergroup beinhalten nur um zwei verschiedene Entwicklungsabschnitte, sondern auch verschiedenartige Einflüsse. Manchen Studien zeigen, daß ungünstige Familienverhältnisse mit gehäufter Kriminalität einhergehen. Andere Studien zeigen den Einfluß der Peergroup insbesondere im Jugendalter belegen. Beides gegeneinander auszuspielen bringt die Diskussion nicht weiter.

Es gibt Entwicklungstheorien, Wissenschaftler und Zeiten, die den Einfluß der Umwelt mal stärker, mal schwächer einschätzen. Die Gentechnik kann vielleicht dazu führen, Homunculi zu produzieren, aber kaum dazu, daß die Kinder nach der Geburt sich selbst überlassen bleiben oder in Lager gesteckt werden: weil es angeblich „egal“ sei - für ihr späteres Schicksal. Elterliche Fürsorge bezieht sich nicht nur auf spätere Zeiten, sondern auf jeden Augenblick gelebten Lebens! Wer die persönliche Zuwendung zu Kindern von meßbaren Wirkungen abhängig macht, hat wenig begriffen. Er würde das erfüllte Dasein einer mitmenschlichen Beziehung dem Glauben an Mittelwertdifferenzen von Gruppen opfern.

Der Artikel geht über das, was die Diskussion bislang zur Anlage-Umwelt-Kontroverse erbrachte, kaum hinaus. Es gibt in dem Artikel keine Erkenntnis, die dazu führen würde, als Erzieher nötigt anders zu handeln als das, was in einem ein gelungenen Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern sowieso schon praktiziert wird. Das ließe sich als Grundsatz etwa so formulieren:

Erzieherisches Handeln geschieht aus Liebe und aus Achtung vor dem Kind mit der Aufgabe, alle seine Anlagen zu entfalten, daß es sein Leben in eigener Verantwortung als Bürger einer demokratischen Gesellschaft führen kann.

Dem Artikel und der von der Schreiberin hochstilisierten Kontroverse liegt ein mehrdeutiger Erziehungsbegriff zu Grunde. Erziehung erscheint a) als interaktionales, zwischenmenschliches Verhältnis, b) als Intervention zur Steigerung von Leistungen und gesellschaftlich „erwünschtem“ Verhalten. Mit dem mehrdeutigen Gebrauch des Erziehungsbegriffs wird ein „Buhmann“ aufgebaut, von dem am Ende festgestellt wird, daß es ihn gar nicht gebe.

Der Artikel arbeitet kaum mit überzeugenden Argumenten, sondern bedient sich jener bekannten journalistischen Technik, daß zu einem bestimmten Thema kontroverse Ansichten wiedergegeben werden, die als Expertenmeinungen an die Stelle methodenkritisch diskutierter Untersuchungen treten.

3.4.9 Argumentieren im Spannungsfeld von Sache, Nutzen und Moral


Ein besonderes Problem des Argumentierens ergibt sich, wenn sachliche Erkenntnisse und deren Nutzung stark von moralischen Bewertungen abhängen. Das ist im öffentlich-politischen Meinungsstreit ebenso wie in der pädagogischen Diskussion sehr häufig der Fall. Sachliches Interesse und moralisches Gebot können durchaus in Konflikt miteinander kommen. Daß eine mit der Absicht wissenschaftlicher Klärung und Erkenntnisgewinnung geführte Argumentation durch die öffentliche Moral zum Abbruch gebracht werden kann, ist selbst dort möglich, wo die Freiheit von Lehre und Forschung gesetzlich garantiert ist: in der Universität. Ich will diese Aussage mit folgendem Vorfall demonstrieren.

Der Streit um die Ethik P.E. Singers: An der TU Braunschweig wurde im Wintersemester 1997(98 eine Lehrveranstaltung zur Ethik des australischen Philosophen Peter E. Singer und ihrer Rezeption in Deutschland angekündigt. Die Ankündigung führte nicht nur zu scharfen Protesten des „Allgemeinen Studentenausschusses“, sondern löste bei Behindertenverbänden Empörung und Entsetzen aus. Singer ist in der Tat mit seinen Ansichten heute kein Unbekannter mehr. Viele der Einladungen zu Vorträgen, die er von Universitätskollegen erhielt, endeten entweder mit der wenig später erfolgenden Wiederausladung, in jedem Fall aber mit Protesten von Studenten- und Behindertengruppen. Nachdem im März 1998 eine Protesterklärung mit 1500 Unterschriften vorlag, sprach die Universitätsleitung, die unter Hinweis auf das Recht universitärer Lehrfreiheit zunächst das Vorhaben gegenüber Angriffen in Schutz genommen hatte, schließlich ihr Verdikt aus (vgl. Braunschweiger Zeitung vom 17.03.98). Singer tritt für das Lebensrecht von Tieren ein. Er hält die Grenzlinie, die die traditionelle Ethik zwischen Mensch und Tier zieht, für willkürlich und protestiert gegen die Tötung von Menschenaffen, die nicht nur als intelligente, sondern auch als personhafte Wesen anzusehen seien. Er setzt sich für die freiwillige Euthanasie ein: Menschen sollen einen leichten Tod haben dürfen, wenn sie dies selbst wollen, er ist strikt gegen eine erzwungene Euthanasie.

Mit dem Hinweis darauf, daß liberale Gesellschaften die „Abtreibung“ (die Tötung ungeborenen menschlichen Lebens im frühen Stadium) toliereren, schlägt Singer vor, dieses Prinzip in besonderen Fällen auszudehnen auf geborenes Leben: Wenn der Säugling auf Grund einer diagnostizierten unheilbaren Krankheit in seinem späteren Leben nur schwerste Leiden zu erwarten hat, sollte, so plädiert Singer, daß bei Einverständnis der Angehörigen seine Tötung gerechtfertigt sei; ähnliche Überlegungen stellt Singer an für Patienten, die sich im Dauerkoma oder in geistiger Umnachtung befinden. Der Gedanke ist auf den ersten Blick unfaßbar und läßt in Deutschland sofort den Gedanken an die praktizierten Euthanasieprogramme im „Dritten Reich“ wach werden.

Auf den zweiten Blick - beim Setzen von Argument und Gegenargument - wird Singers Standpunkt rational verständlich. Es läßt sich nachvollziehen, wie Singer zu seinem Urteil kommt. Nicht der biologische Mensch, sondern die menschliche Person sind für ihn das Entscheidungskriterium. Philosophisch gesehen wird dieser Standpunkt von einem extremen Utilitarismus begründet: Eine Handlung ist gerechtfertigt, wenn das Wohl der Gesellschaft dadurch gehoben wird. Das Wohl des Kindes, dem unerträgliches Leiden erspart bliebe, das Wohl der Mutter, die die Chance habe, ein weiteres gesundes Kind zu gebären, .das Wohl der Gesellschaft, die Kosten spare... Die Ethik des Utilitarismus ist keine Gesinnungsethik (die das Gute unabhängig von dem Handeln als moralisches Gesetz definiert), sondern eine konsequenzialistische Ethik, die ihre Rechtfertigung allein aus den zu erwarteten „guten“ Konsequenzen ableitet.

Der Protest gegen Singer ist auch ein Protest gegen die Vorstellung, Tod oder Weiterleben eines geistig schwerstbehinderten Säuglings könne per Mehrheitsbeschluß des Gesetzgebers oder per Einzelentscheidung der Mutter geregelt werden - eine Haltung, die die katholische Kirche als Gegnerin der Abtreibung auch konsequent in bezug auf das ungeborene menschliche Leben vertritt. Menschliches Leben untersteht - jenseits des vom Gesetzgeber verfügten positiven Rechts - einem Naturrecht, dessen Ethik nicht konsequenzialistisch gedacht werden kann: Das Leben des Neugeborenen ist unabhängig vom Grad seiner möglichen Schädigung als lebenswert zu erhalten - unabhängig auch von möglichen Leiden im weiteren Leben des Kindes. Singer dagegen will dem Menschen nicht als existierendes Wesen, sondern nur als Person Lebensrecht gewähren: Seiner Auffassung nach müsse der Mensch als Person zur Rationalität fähig sein, Selbstbewußtsein und Zeitbewußtsein besitzen u.a.m.

Diese dem Pragmatismus der anglo-amerikanischen Philosophie nahestehende Auffasung zeigt ihre Grenzen darin, daß gerade die aus dieser Anschauung resultierenden „guten“ Konsequenzen zu fürchten sind: Das Leben behinderter Menschen wird damit zur Disposition gestellt:

Sofern der Tod eines behinderten Säuglings mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird. Der Verlust eines glücklichen Lebens für den ersten Säugling wird durch den Gewinn eines glücklichen Lebens für den zweiten aufgewogen. Wenn daher die Tötung des hämophilen Säuglings keine nachteilige Wirkung auf andere hat, dann wäre es nach der Totalansicht richtig, ihn zu töten. (Singer 1994. S. 238)

Das Argument der Gegner Singers: „Das Lebensrecht von Menschen ist nicht diskutierbar!“ zeigte derart Wirkung, daß die erklärten Absicht des verantwortlichen Dozenten, die Probleme des Singerschen Standpunktes der rationalen, argumentativen Kritik innerhalb einer Lehrveranstaltung zu unterziehen, an den Pranger öffentlicher Medienkritik gestellt wurde. Dem Vorhaben wurde rückwirkend die moralische Legitimation durch die Hochschulleitung entzogen.

Das bedeutet: Über bestimmte Sachverhalte wäre eine rationale Argumentation auch dann nicht möglich, wenn sie von vornherein kritisch gemeint ist. Aber schon hier läßt sich fragen: Kann die Zielrichtung einer Argumentation - Verdammung oder Befürwortung von Thesen - entscheidend sein, ob eine Diskusion stattfinden darf oder nicht? Unter den Bedingungen der Diktatur ist die Frage selbstverständlich zu bejahen, in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit gibt es dafür keine juristische Grundlage, allenfalls ein moralisches Argument. Es ist keineswegs nur die Angst, daß die Diskussion der Thesen Singers der erste Schritt zu ihrer Realisierung sein könne, welche die Erregung in der deutschen Öffentlichkeit erzeugt. Ein Verzicht auf sachliche Argumentation der Thesen Singers könnte das Ergebnis eines moralischen Selbstvergewisserungsprozesses sein, daß damit Würde des Menschen aufs Spiel gesetzt werde. Aber zwischen Selbstverzicht und öffentlichem Druck besteht ein Unterschied.

Die Unterdrückung einer in wissenschaftlicher Absicht geführten Diskussion auf Grund öffentlicher Pression ist nicht der Weg, der den Konflikt zwischen Sache und Moral löst. Damit fangen die eigentlichen Probleme und Fragen erst an. Wie unglaubwürdig, ja lächerlich, klingt die Rechtfertigung (weil sie paradoxerweise wahr ist!) des betroffenen Philosophie-Dozenten, er sei nicht behindertenfeindlich, man müsse doch alle ehtischen Fragen der heutigen Medizin im Zusammenhang mit Geburt und Sterben diskutieren dürfen. Wer in einem Konflikt zwischen sachlichem Bedürfnis und dem im Namen der Moral erzeugten öffentlichen Widerstand sein Heil in einer sachlichen Rechtfertigung sieht, macht sich um so schuldiger! Paradoxien, wie sie Watzlawicks beschreibt, sind in einem solchen Konflikt fast unvermeidbar, denn der Konflikt erzeugt selbst jenes bekannte Verhaltensparadox, daß sich die besten Absichten in ihrer Gegenteil verkehren müssen: Die sachliche Rechtfertigung soll den Konflikt lösen, womit er erst recht angeheizt wird.

In einer Zeit, in der die Gentechnik Eingriffe in das menschliche Erbgut möglich macht, einzelne Wissenschaftler das Klonen von Menschen für sinnvoll halten, aber auch Art und Zeitpunkt des Sterbens in die Selbstverfügbarkeit Betroffener gelegt zu werden beginnt, verschwimmen die ethischen Grundsätze. Kommt hinzu, daß die rechtliche Situation für die Tötung ungeborenen Lebens, gentechnische Manipulationen und „Sterbehilfe“ in den einzelnen Ländern – selbst innerhalb der Europäischen Union - zum Teil sehr differiert. Generell: die neuen Möglichkeiten der Spitzentechnologien implizieren mit ihren bahnbrechenden Möglichkeiten gleichzeitig unüberschaubare Risiken, so daß nicht der vernünftige Umgang mit der Sache, sondern die Sache selbst zum moralischen Problem wird und in der öffentlichen Diskussion Kommunikatonsparadoxien erzeugt. Für den Konflikt von Sache und Moral soll im folgenden ein weiteres Beispiel gegeben werden.



Der Nationalsozialismus und die Schuld der Deutschen: Anläßlich einer Diskussion über das Buch von Daniel Goldhagen „Hitlers willige Vollstrecker“ am 14.08.96 im Deutschlandfunk5 vertrat der bekannte Publizist Ralph Giordano die Auffassung, es sei nicht der Antisemitismus gewesen, der ab 1933 „gewöhnliche Deutsche“ zu tatenlosen Zeugen, Verfolgern und Mördern von Juden gemacht habe, sondern etwas viel Erschreckenderes: „daß es für die Mehrheit der damaligen Deutschen unausdenkbar war, einem Befehl nicht Folge zu leisten - und forderte er auch, Menschen wie Insekten umzubringen“. [Im anschließenden Diskussionsausschnitt, kommt auch Michel Friedman zu Wort]

Giordano: Ohne diese generationenlange Pervertierung des Pflichtbegriffes, ohne diese tief verwurzelte, deutsche Gehorsamsunkultur wäre der Holocaust nicht durchführbar gewesen.“

Moderator Burchard: ... „Ist das wirklich nur deutsch, wäre so etwas in einem anderen Staat nicht möglich gewesen, nicht denkbar? Es hat die spanische Inquisition gegeben, andere Dinge, ohne daß ich es exkulpieren will, die Frage ist doch: Ist das wirklich ein deutsches Phänomen?

Giordano: Das ist die hilfloseste und törichteste Frage, Herr Kollege, die man stellen kann, denn die Geschichte kennt keinen Konjunktiv. Auschwitz ist Auschwitz!. Ein Zivilisationsbruch, etwas absolut Singuläres, was es so und auf diese Weise nie gegeben hat. Und vergessen Sie nicht: Eingestellt wurde [die Judenvernichtung] nur deshalb, weil Deutschland, dies Hitlerdeutschland, den Krieg verloren hat. Man muß doch sehen, der Radius des Vernichtungsapparates war immer identisch mit dem der Fronten. Und so wie es hier gekommen ist, so wäre es in keinem anderen Lande möglich gewesen. Davon bin ich fest überzeugt, nach allem, was gewesen ist. Der Istzustand der damaligen Deutschen ist disponiert gewesen für Hitler.

Friedman: Man kann es auch ein Stück provokativer zusammenfassen, um Ihre Frage zu beantworten. Der Antisemitismus ist keine deutsche Erfindung, das ist richtig. Aber Auschwitz ist eine deutsche Erfindung, und deswegen ist der Antisemitismus in Deutschland eben ein anderer als er überall anders war, und deswegen hilft die Frage nicht. Sie entlastet auch nicht: ‘Wie war es denn mit Gewalt und Antisemitismus und Antijudaismus in anderen Ländern?’ Denn es bleibt am Ende doch die Kernfrage, die man sich stellen muß: In Deutschland gab es Auschwitz als Erfindung, als Handlung, als Umsetzung und Planung - und anderswo eben nicht.

Moderator Burchard: Also ich glaube, ich sollte an dieser Stelle jetzt wirklich einmal begründen, warum ich diese Frage gestellt habe. Denn sie ist die Frage zu einer Antwort, die Goldhagen gibt. Nämlich Goldhagen bezeichnet dieses ja, er sagt es hier ja auch: ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Und Goldhagen hat in seinem Buch ja genau diese These [die Verantwortlichkeit der ganz gewöhnlichen Deutschen für den Holocaust] vertreten. Insofern halte ich es für legitim - und ich muß das schon zurückweisen, dies als ‘törichte Frage’ zu bezeichnen, Herr Giordano - dieses einfach mal zu hinterfragen bei ihm. ...

Die Sätze von Giordano - nicht minder die von Friedman - sind beeindruckend. Sie sind so beeindruckend, daß das Urteil von Giordano, in dem die Begriffe „hilflos“ und „töricht“ ein eindeutiges Bewertungsmuster darstellen, der Frage des Moderators Burchard keine Chance geben, als sachlich zu gelten und eine sachbezogenen Antwort zuzulassen. Die Antwort, die gegeben werden muß, hat das Gewicht von Auschwitz; das ist ein Argument, in dem sich Sache und Moral vereinen. Der Rechtfertigungsversuch des Moderators, es müsse doch erlaubt sein, die zentrale These Goldhagens zu hinterfragen, macht alles noch schlimmer. Wer so fragt, befördert sich moralisch ins Abseits. Er sucht mit dieser Frage - das deutet Friedman an - Entlastung. Je stärker sich der Moderator der Sendung gegen einen solchen Vorwurf zu wehren trachtet, desto mehr würde er auf ihn fallen. Die Moral bestimmt, was sachlich angemessen ist und was nicht. Vergleiche sind unsachlich, weil sie die Einzigartigkeit des Grauens des Holocaust in Frage stellen. Die Bejahung der Thesen Goldhagens steht - das machte die anhaltende Diskussion der Fachhistoriker deutlich - auf dem Hintergrund ihres moralischen Anspruchs besonders naheliegend - unabhängig von der Frage ihrer sachlichen Angemessenheit. Ihre Annahme in Deutschland bedeutet Schuldabtragung, Gewissensentlastung, und zwar - dies ist das Paradox - jenseits der Frage nach ihrer sachlichen Richtigkeit. Kritik an Goldhagens Thesen von nichtdeutschen Kollegen setzt sich diesem Problem kaum aus.

Der Streit, den eine Rede des Schriftstellers Martin Walser anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1998 mit seiner Bemerkung auslöste, das Argument Auschwitz werde allzu sehr als „moralische Keule“ benutzt, könnte einer ähnlichen Analyse des Konfliktes zwischen Sachangemessenheit und Moralanspruch unterzogen werden. Walser wurde von Ignaz Bubis „latenter Antisemitismus, das Verdrängen und Vergessenwollen der dunklen Kapitel in der deutschen Geschichte“ zum Vorwurf gemacht (vgl. DER SPIEGEL Nr. 49/98, S. 50-54).

In einem kommunkationsanalytischen Kommentar zeigte Dietrich Schwanitz (in: DER SPIEGEL Nr. 50/98, S. 232-234) auf, in welche ausweglosen Paradoxien die rational gemeinte Argumentation in diesem Konflikt zusteuerte. Der Essay beginnt:

Im Anfang war eine Friedenspreisrede. Dann kam ein kriegerischer Widerspruch. Daraufhin ver­suchte eine Dritter, Frieden zu stiften. und machte alles nur noch schlimmer. Schließlich mischten sich immer mehr Schlichter ein, bis wir nur noch eine Staubwolke sahen, aus der Schreie zu hören waren wie „Schande? Nein Schuld“ - „Sie meinen Scham!“ - Haben Sie Schaden gesagt?“ - „Jetzt werfen Sie aber alles durcheinander“ - „Das ist bösartig! - „Sie latenter... „Was haben Sie da ge­sagt?“ Mit anderen Worten: in der Großfamilie Deutschland ist eine handfeste Krise ausgebro­chen. (Schwanitz, in: DER SPIEGEL Nr. 50/98, S. 232)

Die gekonnte Ironie, die der fiktive, aber beziehungsreiche Dialog offenbart, täuscht nicht darüber hinweg, welche Wunden eine solche Auseinandersetzung bei den Beteiligten hinterläßt. Je höher das moralische Gewicht eines argumentativen Konfliktes, desto weniger kann es gelingen, Argumente nur auf die Sache, nicht auf die Person zu richten.



Metahermeneutik: Das Problem des Konfliktes zwischen Moral und Sacherkenntnis tritt auch auf bei der historischen Erforschung des Wirkens und der Publikationen von Wissenschaftlern, die unter den Bedingungen der Diktatur lebten und in der Gegenwart noch aktuelles, nicht nur historisches Inter­esse genießen. Das Problem tritt dabei sowohl argumentationstheoretisch als hermeneutisch auf. Der Versuch der historischen Rekonstruktion einer wegen ihres Verhaltens im NS-Staat umstrittenen, aber sachlich immer noch als bedeutsam angesehenen Persönlichkeit ist tückischen Beziehungsfallen ausgesetzt: Wenn der Gang der Forschung methodisch üblicherweise so sein soll, daß von einem Vorwissen her am Ende der Untersuchung das Forschungsergebnis präsentiert wird, läuft der hermeneutische Prozeß tatsächlich umgekehrt: Meine Moral als Forscher hat von Anfang weitgehend entschieden, ob die Bewertung am Ende eine moralische Entlastung oder eine moralische Belastung für die zu interpretierende historische Gestalt darstellt. In der ständigen Auseinandersetzung des Forschers mit dem aufgespürten Material (z.B. Archivdokumenten) ist immer auch eine moralische Wertung verbunden, die dem endgültigen Sachurteil voraus läuft. Der Forscher setzt sich gedanklich - bewußt oder unbewußt - auch mit der Frage auseinander, welche Wirkungen in der Öffentlichkeit (beim Leser) das Ergebnis seiner Forschungsarbeit haben könnte. Ich habe diese zweite Ebene der hermeneutischen Auseinandersetzung an anderer Stelle „Metahermeneutik“ genannt (Retter 1996a, S. 67 ff., S. 70).

Mit dem Terminus Metahermeneutik soll zum einen die Unerläßlichkeit bezeichnet werden, die Rolle des Interpreten (und die politische Wirklichkeit, von deren Normenhorizont her er eine an­dere vergangene Wirklichkeit interpretiert) im Deutungsprozeß mitzureflektieren, zum an­deren die Notwendigkeit, im Rekonstruktionsprozeß jene Tricks, Techniken und Methoden deutlich zu machen, die Interpreten und mögliche Kontrahenten - also wir selbst - anwenden, um vor den Augen der (Fach-)Öffentlichkeit ein Ergebnis zu erzielen, das sachlich Bestand hat, gleichzeitig aber auch der Richtung eines bestimmten Moralstandpunktes weitgehend ent­spricht. (Retter 1995)

Je mehr es sich bei den zu berücksichtigenden Zeitabschnitten um solche handelt, die im Widerstreit der Meinungen stehen und einer in die Gegenwart hineinreichenden und noch keineswegs „bewältigten“ Vergangenheit angehören, desto mehr wird der (Re-)Konstruktionsprozeß des Interpreten das öffentliche Meinungsbild über den Interpretationsgegenstand, d.h. das Konstrukt des „generalized other“ (G.H. Mead), in den eigenen Reflexionsprozeß - bewußt oder unbewußt - mitaufnehmen. Damit aber wird die Interpretation zu einem Kommunikationsprozeß, dessen Elemente kommunikationstheoretisch zu begreifen und zu dechiffrieren sind; dazu gehören die subtilen Rechtfertigungen für das eigene (stets interessengeleitete) Vorgehen, Vorkehrungen, sich gegenüber Einwänden möglicher Kritiker zu schützen, der Reflex des Interpreten auf bestimmte Erwartungen der Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit bezüglich „Ausgewogenheit“, „Gerechtigkeit“, „Sachlichkeit“ der Darstellung sowie der Auswahl von „signifikanten“ Texten, der den Rekonstruktionsprozeß begleitet und ihn den Geltungsanspruch von „Objektivität“ erheben läßt. (Retter 1996b, S. 10)

Fazit: In kontroversen Kontexten, insbesondere dann, wenn Moralaussage und Sachaussage miteinander in Konflikt geraten, ergeben sich nicht nur für die Argumentation, sondern auch für die rekonstruierende Hermeneutik Beziehungsstörungen, die von einem kommunikationstheoretischen Ansatz, wie er von Bateson entwickelt und von Watzlawick ausgebaut wurde, wichtige Hinweise erhält..


Yüklə 1,19 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   12   13   14   15   16   17   18   19   ...   40




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©www.genderi.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

    Ana səhifə