Seminar für allgemeine pädagogik


Zur Argumentationstheorie der Gegenwart



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3.4 Zur Argumentationstheorie der Gegenwart

3.4.1 Eine schulpolitische Kontroverse als Argumentationsanlaß


    Ich erlebe im März 1999 als Zuhörer inmitten einer Versammlung von ca. 200 Lehrern, Eltern und Vertretern der kommunalen Schulträger einen Vortrag der Niedersächsischen Kultusministerin zu dem Thema „Verläßliche Grundschule“. Die Ministerin will die Anwesenden überzeugen, daß das Reformkonzept, das eine Schulzeit von 8-13 Uhr für alle Grundschüler Niedersachsens sichern soll, für die meisten Schulen eine Verbesserung hinsichtlich der Ausstattung mit zusätzlichen Lehrerstunden und finanziellen Mitteln zur Bezahlung von stundenweise einzusetzenden Betreuungskräften darstellt. Aus dem Kreis der Anwesenden schlägt der Vortragenden in der anschließenden Diskussion auf breiter Front Ablehnung, Kritik und Mißtrauen entgegen. Besonders betroffen von dem Konzept sind die wenigen „vollen Halbtagsschulen“, die als Versuchsschulen bisher eine sehr gute Versorgung mit zusätzlichen Lehrerstunden hatten und die pädagogische Halbtagsbetreuung aller Grundschüler vorbildlich praktizieren konnten; sie müssen nun gemäß dem neuen Konzept Lehrerstellen an andere Schulen abgeben.

    Die Ministerin geht auf alle Einwände ihrer Zuhörer ein, indem sie die Gegenargumente zu entschärfen sucht; andererseits gibt sie einige Pannen bei der Vorbereitung des neuen Konzeptes zu, die aber die Qualität des Reformvorhabens nicht beeinträchtigen würden. Am Ende der dreistündigen Veranstaltung äußern einige wenige Eltern und Schulleiter vorsichtig Interesse an der „Verläßlichen Grundschule“ und bitten um weitere Information: Die Mehrheit der Teilnehmer bleibt offenbar bei ihrer kritischen Einstellung. Der Hauptgrund der Ablehnung liegt darin, daß für eine Schulstunde pro Tag eine pädagogische Hilfskraft (Mutter, Erzieherin, Pensionist) an den fünf Schultagen einer Woche eingestellt werden soll, um eine schulische Betreuung der Kinder von 8-13 Uhr zu gewährleisten. Eine Vollversorgung von 8-13 Uhr an fünf Schultagen nur durch Lehrkräfte wie sie an wenigen sogenannten „vollen Halbtagsschulen“ bereits existieren, käme dem Staat zu teuer. Die „vollen Halbtagsschulen“, die etwa 15 % aller Grundschulen Niedersachsens ausmachen, müssen Lehrkräfte abgeben, indem sie dem niedrigeren Standard der „verläßlichen Grundschule“ angepaßt werden - ein Vorhaben der Kultusministerin, das bei Eltern und Lehrkräften dieser momentan gut ausgestatteten Schulen auf besonders nachhaltige Kritik stößt.

    Diese Schilderung soll als Beispiel öffentlicher Kommunikation dienen, die den Charakter kontroverser Diskussion hat; besonders die politische Kommunikation wird kontrovers geführt.

    Der Sache nach beinhaltet die kontroverse Diskussion dreierlei:



  • einen Austausch von Argumenten;

  • den Versuch, Kontrahenten ebenso wie neutrale Zuhörer von der Richtigkeit der eigenen Sachargumente zu überzeugen und die gegnerischen Argumente zu entkräften;

  • die Interessenlage, die die eigene Diskussion bestimmt, im Medium allgemeiner Akzeptanz erscheinen zu lassen, so daß sie glaubwürdig ist.

3.4.2 Was heißt Argumentation?


Logik als Teilwissenschaft der Philosophie versteht sich heute als Lehre, die uns befähigt, vernünftig (folgerichtig, regelgemäß, schlußfolgernd) zu urteilen. Sie untersucht die Gültigkeit von Argumenten, indem sie sich bemüht, „“die Kriterien und Prinzipien zu analysieren, mit deren Hilfe wir gute von schlechten Argumenten unterscheiden können“ (Beckermann 1997, S. 36). Habermas bezog erstmals Rhetorik, Dialektik und Logik ausdrücklich auf die Argumentationstheorie:

die Rhetorik befaßt sich mit der Argumentation als Prozeß, die Dialektik mit den pragmatischen Prozeduren der Argumentation und die Logik mit deren Produkten. (Habermas 1987, Bd. 1, S. 49).

Argumentationstheorie war bisher allzu sehr eine Angelegenheit von Experten (Philosophen, Rhetorikern, Linguisten), die dieses Gebiet von verschiedenen Seiten her erschlossen. Obwohl zwischen logischem Denken und Argumentieren ein enger Zusammenhang besteht, ist die moderne Argumentationstheorie nicht ausschließlich als ein Arbeitsgebiet der Logik, sondern eher als disziplinübergreifende Lehre zu betrachten. Sie hat ihre Anwendungsfelder in vielen Lebensbereichen, blieb aber bedauerlicherweise bislang durchaus abstrakt in bezug auf eine allen Menschen lehrbare Methode. Wenngleich die Fähigkeit zur Argumentation zum Grundbestand akademischen Professionswissens gehört, spielt sie in der Ausbildung sozialwissenschaftlicher Berufe heute leider so gut wie keine Rolle. Dies sollte sich ändern.

Der Zusammenhang zwischen Argumentation und Kommunikation ergibt sich daraus, daß jeder Sachverhalt, der im Streit der Meinungen steht, beides hervorbringt: Eine strittige Angelegenheit ist inhaltlich durch Hervorbringen und Gegeneinanderabwägen von Argumenten zu klären, formal aber gebunden an sprachliche Kommunikation. Argumentieren ist sprachliches Handeln, vollzieht sich im Medium der Sprache, ist, so gesehen, eine spezielle Form von Kommunikation. Geert-Lueke Lueken definiert Argumentieren folgendermaßen:

Argumentieren ist symbolisches Handeln, das auf eine Kontroverse zum Zwecke ihrer Überwindung in einem Konsens bezogen ist. (Lueken 1992, S. 218).

Hier ist der kommunikative Aspekt des Argumentierens mitgedacht. Gegenüber dieser Definition ist einschränkend zu sagen, daß der Sieg des besseren Arguments nicht immer Konsens als Zielvorstellung impliziert. Vor allem in der politischen Kontroverse entspricht das Argumentieren auf Grund der starken Interessengebundenheit der Standpunkte nicht immer einem Konsensbedürfnis, sondern eher einem Legitimationsbedürfnis, da die Entscheidung in einer politischen Auseinandersetzung letztlich auf dem Wege der Abstimmung der Mandatsträger durch die Macht von parteigebundenen Mehrheitsverhältnissen bestimmt wird. Als Idealbegriff des Argumentierens ist die obige Definition von Lueken akzeptabel.

Christoph Lumer (1990, S. 22) definiert Argumentation in einem dreifachen Sinne:


  1. als „geordnete Folge von Urteilen“ die mit einem Argumentationsindikator versehen werden (deshalb, weil, da, meine These ist...);

  2. als Handlung, mit der „eine Argumentation vorgetragen wird“ (= Argumentationshandlung);

  3. als Diskussion (Gespräch) mehrerer Personen mit dem Ziel „einen Konsens in einer oder mehreren strittigen Fragen herzustellen“.

Bezogen auf die erstgenannte Definition faßt Lumer (1990, S. 315 f.) Argumentation weder als Handlung noch als kommunikativ auf. Er betont vielmehr die Monologizität des Argumentierens. Damit werden dialogisch gedachte Argumentationskonzepte wie die Habermassche Diskurstheorie argumentationstheoretisch als „vom Ansatz her verfehlt“ abgelehnt (ebenda, S. 316). Freilich räumt Lumer sofort ein, daß die Verwendung von Argumenten auf einen „kommunikativen Standardverwendungszweck zugeschnitten“ sei und die meisten Argumentationshandlungen kommunikativ seien: Das „Zeigen der Akzeptabilität einer These“ dient der Überzeugung des Adressaten (ebenda, S. 315).

Lumers analytisches Vorgehen ist für mein eigenes Vorhaben durchaus nützlich. Lumer führt uns nämlich auf zwei verschiedene Wurzeln des Argumentierens: Argumentationstheoretische Ansätze wählen ihre Beispiele entweder aus der schriftlichen oder der mündlichen Kommunikation aus. Im erstgenannten Sinne ist Argumentationsanalyse textgebunden und beschränkt sich auf Textanalyse. Sie ist insofern monologisch, als der Interpret nur mit dem Text nicht mit einem Kontrahenten, „spricht“. Dieses wissenschaftliche Arbeitsfeld ist zumeist von Linguisten und Hermeneutikern besetzt. Als Beispiel für monologische (textorientierte) Argumentationstheorie sei auf den „Bielefelder Katalog pädagogischer Argumente“ von Harm Paschen verwiesen (vgl. Paschen 1988; Paschen/Wigger 1992a). Dort, wo textorientierte Argumentation in eine Pro- und Contra-Darstellung mündet – wie häufig in journalistisch aufbereiteten Streitthemen -, ist ein Übergangsfeld zu einem zweiten Typus des Argumentierens gegeben, der primär auf mündli­che Kommunikation bezogen ist. Zu ihm steht textgebundenes Argumentieren, das ich hier nicht weiter verfolge, obwohl es viele inhaltliche Überschneidungen gibt, in einem gewissen Spannungsverhältnis



Diese Spannung wird z.B. deuttlich, wenn sich Vertreter beider Typen zu einer gemeinsamen Tagung versammeln (vgl. Kopperschmidt 1977; Paschen/Wigger 1992b). Der kommunikative Ansatz des Argumentierens entfaltet sich in Rede und Gegenrede, oft, aber nicht immer, in der Form einer Pro- und Contra-Argumentation. Man könnte ihn deshalb als dialogisch bezeichnen. Die­ser Argumentationsansatz steht in der Tradition der Rhetorik und ist das Arbeitsfeld von Rhetori­kern, Diskursphilosophen, Politikwissenschaftlern und – nicht zuletzt – von Kommunikationstheo­retikern. Mein eigener Definitionsversuch zur Argumentationstheorie soll beide Typen, d.h. sowohl textgebundene als auch mündliche Argumentation umfassen:

def. Die Theorie der Argumentation ist die Lehre von der Begründung, Infragestellung und Recht­fertigung des Geltungsanspruches von Aussagen.

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