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Zivilisationstheoretische Perspektiven im Fall Höffgen ./. Sturm –
ein Werkstattbericht
von Sebastian Somfleth und Sarah Gharib
Im Fall Höffgen ./. Sturm führte Eva Höffgens Anwalt Notwehr (lat. moderamen in-
culpatae tutelae) als Rechtfertigungsgrund für die Tat ihres Vaters an. Mit seiner
Klage vor dem Reichskammergericht rezipierte der Anwalt nicht nur Römisches
Recht, sondern auch einen Aspekt der Naturrechtslehre.
1
Notwehr kann im Sinne von
Norbert Elias als Zivilisationsindikator dienen, da die Verletzung oder Tötung zur
Verteidigung „ein ausgebildetes öffentliches Strafrecht voraus[setze]“.
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Die Fehde
bzw. Rache für den Tod eines Menschen wird hier dementsprechend als eine unzi-
vilisierte Tat angesehen. Nach Darstellung des gegnerischen Anwalts im Appella-
tionslibell forderte die Witwe Sturm vor dem Jülich-Bergischen Hofrat Schadens-
ersatz für den Tod ihres Mannes und die dadurch ausbleibende Versorgung. Nach-
dem der Hofrat einen Strafprozess abgelehnt hatte, versuchte sie eine Zivilklage auf
Grundlage der aus dem Römischen Recht rezipierten Lex Aquilia
3
anhängig zu
machen. Laut dem
Libell konnte die Schadensersatzklage zurückgewiesen werden.
Eine Begründung wird nicht genannt, jedoch ist anzunehmen, dass die Argumente
der Klägerin entkräftet werden konnten, da die Lex Aquilia nur bei Sachbeschädigung
Anwendung fand.
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Die Witwe Sturm bekam ihr Recht in zweiter Instanz, nachdem
sie ihre Forderung auf Schadensersatz mit dem Aspekt der Sühne begründete. Eva
Höffgen sollte als Tochter des bereits verstorbenen Johann Höffgen der Witwe Sturm
und ihren Kindern für den Totschlag an deren Mann eine Sühnezahlung leisten. Im
Libell finden sich Spuren dieser mittelalterlichen Rechtspraxis, die sich im Strafrecht
des Herzogtums Berg erhalten hatte. Ein Angeklagter konnte durch eine solche Zah-
lung der Strafverfolgung entgehen.
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Die Sühnezahlung bei Totschlag stand vielfach
1
„cum omnibus Defensio a natura insita sit”, vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, RKG H 1460/4662, fol. 27v.;
„Naturrecht bezeichnet einen Komplex rechtlicher Normen, deren Geltung man unabhängig vom
positiven, insbesondere staatlich gesetzten Recht annimmt.“, vgl. Klippel, Diethelm: „Rechtsphilosophie
und Naturrecht“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart 2009, Sp. 715-740, hier Sp. 715.
2
Vgl. Kaufmann, Erich: Notwehr. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin
1984, Sp. 1096-1101, hier Sp. 1097.
3
„Actio Legis Aquiliae, ist eine Klage, vermittelst welcher jemand wider einen andern, auf Ersetzung des
von demselben ihm zugefügten Schadens, klaget.“: Zedler, Johann Heinrich (Hg.): Grosses vollständiges
Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 1 A-Am, Halle 1733 (Nachdruck), Sp. 410.
4
Vgl. Kaser, Max: Römisches Privatrecht: ein Studienbuch. München
15
1989, S. 232 f.
5
Vgl. Ehrenpreis, Stefan: Das Herzogtum Berg im 16. Jahrhundert. In: Gorißen, Stefan/Sassin, Horst/
Wesoly, Kurt (Hg.): Geschichte des Bergischen Landes. Bd. 1: Bis zum Ende des alten Herzogtums 1806.
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als außergerichtliche Einigung in Verbindung mit privater Strafjustiz in Form von
Fehden. Sie wurde infolge des Ewigen Landfriedens 1495 eingedämmt, in einigen
Städten und Regionen verboten oder, wie in der Vorinstanz des vorliegenden Falles,
sogar gerichtlich und damit öffentlich bestätigt.
6
Die Praxis der Sühnezahlung bei
Totschlag kann demnach nicht nur als eine Reminiszenz des Fehderechts, sondern
auch als ein Aspekt des Verrechtlichungsprozesses angesehen werden: Mit dem vor-
instanzlichen Urteil des Hofrats wurde die Sühnezahlung im Fall Sturm ./. Höffgen
Teil eines ordentlichen und schriftlichen Verfahrens.
Lassen sich diese Erkenntnisse mit einer Theorie der Zivilisation in Verbindung brin-
gen? Norbert Elias hat in seinem Hauptwerk den „Prozess der Zivilisation“ als Auf-
stieg der Selbstkontrolle (vom späten Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert) definiert
und durch die Entstehung eines Machtmonopols erklärt, das zu gesellschaftlicher und
damit auch psychologischer Stabilität geführt haben soll. Die entscheidende Ent-
wicklung für Elias war der „gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang“ und somit
die Internalisierung der Autorität. Er hat dabei die Wichtigkeit der Selbstbeherr-
schung betont. Zivilisation ist für Elias ein innerer Prozess, der eine Veränderung
„des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung
ist“.
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Die am häufigsten verwendeten Ausdrücke für Selbstbeherrschung sind
„Selbstzwang“ und „Affektverhaltung“. Um die Zivilisation gruppiert er eine Reihe
inhaltlich mit ihr zusammenhängender Konzepte: Zivilisationsschub, Schamgrenze
und „Verhöflichung“. Elias hebt hervor, dass die Zivilisation kein Produkt der men-
schlichen Ratio oder gar das Resultat „einer auf weite Sicht hin berechneten Pla-
nung“ sei.
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Laut seiner weit reichenden Hypothese weist nichts in der Geschichte
darauf hin, dass die Transformation durch eine zielbewusste Erziehung von einzelnen
Menschen oder Menschengruppen durchgeführt worden ist. Dennoch vollziehe sie
sich nicht völlig arbiträr, eine eigentümliche Ordnung sei gegeben: „[Doch] wie ist
das möglich? Wie kommt es überhaupt in dieser Menschenwelt zu Gestaltungen, die
kein einzelner Mensch beabsichtigt hat, und die dennoch alles andere sind als Wol-
kengebilde ohne Festigkeit, ohne Aufbau und Struktur?“
9
Für Elias sind es die emo-
Bielefeld 2014, S. 255.
6
Vgl. Kaufmann, Erich: Sühne. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 5, Berlin 1998,
Sp. 72-76.
7
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen.
Bd. 2, Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main 1997,
S. 323.
8
Ebd. S. 323.
9
Ebd. S. 324.