Seite 1 Jänner 2006
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e-Journal
Philosophie der
AFFEKT UND BEGEHREN ODER: WAS
MACHT DEN AFFEKT SO BEGEHRENSWERT?
1
Psychologie
von Marie-Luise Angerer (Köln)
"Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten." (Freud 1930)
Dass Affekt und Emotion Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ist inzwischen auch für jene evident
geworden, die sich damit nicht wissenschaftlich beschäftigen.
Eine Publikation um die andere versucht, auf den Zug dieses so attraktiv gewordenen Themas
aufzuspringen. "Mediale Emotionen" (2005), "Kinogefühle" (2005), "Aufruhr der Gefühle.
Leidenschaften in der zeitgenössischen Fotografie und Videokunst" (2004) "The cultural politics of
emotion" (2004), "The Power of feelings" (1999), "Mixed Feelings" (1992), "The Felt Meanings of
the World" (1986), "Emotionstheorien: Begriffliche Arbeit am Gefühl" (2004), "Emotionen: Eine
Philosophie der Gefühle" (1991, dt. 2001), "Atlas of Emotions, Journeys into Art, Architecture and
Film" (2002). So präsentiert sich ein Potpourri von Titel im Feld der Gefühle und Emotionen,
welches nicht nur neue Forschungs-Gelder, sondern insgesamt einen Aufschwung in Theorie und
Forschung einzuleiten verspricht.
Doch die Frage zu beantworten, was dieses neue Erkenntnisinteresse antreibt, gestaltet sich
schwierig und vielschichtig, will man nicht idealistisch-naiv an pure Neugierde denken oder
materialistisch nur das Geld anführen.
Dass Emotionen und Affekte in den Medien, im Film und in der Kunst immer eine Rolle gespielt
haben, muss nicht besonders betont werden, doch heute weist die Diskussion durchaus eine neue
Gangart auf.
Es fällt auf, dass die Wendung hin zur Emotion einhergeht mit einer Krise gesellschafts- und
kommunikationstheoretischer Modelle, die in erster Linie auf die Verständigungsleistungen eines
vernunftgeleiteten Diskurses anstellen.
2
Offenbar haben Sprache und Kommunikation als die das 20. Jahrhundert beherrschenden Topoi
tatsächlich mit Ende des Jahrhunderts ihre Vormachtsstellung eingebüßt.
Eine Schwäche, die John Searle, der Mitbegründer der Sprechakttheorie, bereits vor Jahren
verkündet hat, indem er das 20. Jahrhundert als dasjenige des Unbewussten und der Sprache und
als das Psychoanalyse bezeichnete. Heute sei jedoch die Zeit des Bewusstseins angebrochen und
damit diejenige der Neurologie, der Biologie sowie der digitalen Netz- und Feedbackregulationen.
Seine Vorausahnungen scheinen sich immer mehr durchzusetzen. Das Gehirn als Sitz des
Bewusstseins ist heute jener Ort im Menschen, der mittels kognitionspsychologischer und
neurophysiologischer Methoden und insbesondere neuer technischer Aufzeichnungs- und
Visualisierungsverfahren in Angriff genommen wird, um herauszufinden, wie und wo die Gefühle
und Affekte des Menschen zustande kommen bzw. ihre Wirkung ausüben. Kognition wird
1
Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Fassung meines Vortrags im Psychoanalytischen Salon Berlin
(25.11.2005), auf Einladung von Dr. Mai Wegener. Mein Buch, "Das Begehren nach dem Affekt", erscheint
2006 bei diaphanes.
2
Margit Tröhler und Vinzenz Hediger: Ohne Gefühl ist das Auge blind, in M. Brütsch, V. Hediger, U.v. Keitz, A.
Schneider, M. Tröhler (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität und Gefühl, Marburg 2005, S. 17
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inzwischen generell nur mehr im Verbund mit Emotion vorgestellt
3
und übereinstimmend wird – im
Gefolge des US-amerikanischen Neurologen, Antonio Damasio, – bestätigt, dass wir sind, weil wir
fühlen: "Ich fühle, also bin ich"
4
.
Dieser Umschwung kommt nun nicht etwa plötzlich, sondern die Anzeichen sind seit längerem
auszumachen. Ich maße mir allerdings nicht an, bis ins 19. und gar 18. Jahrhundert
zurückzugehen, wo Gefühl und Sinnesempfindungen zu besonders heiß umkämpften Themen
geworden waren. Stattdessen werde ich mich auf einen kleinen Ausschnitt konzentrieren, innerhalb
dessen erste Verschiebungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sich deutlich zeigen, die heute
eruptiv auszubrechen scheinen.
2004 erschien ein Büchlein von Hans Ulrich Gumbrecht mit dem viel sagenden Titel: "Diesseits der
Hermeneutik". Damit setzte sich der Autor betont von all jenen Titel ab, die ein "After Theory"
5
oder "Beyond" (Gender
6
z.B.) ausrufen. Mit dem "Diesseits" wollte er uns auf eine Materialität, eine
Physikalität, eine Sinnlichkeit aufmerksam machen, die wir derart radikal verloren hätten, sodass
wir von ihr gar nichts mehr wissen könnten:
(M)üßten wir nicht (...) sagen – oder zugeben? -, daß wir heute ein Stadium erleben, das
jenseits dieses Punkts des – scheinbar – absoluten Verlusts liegt, und zwar ein Stadium, in dem
der Wunsch nach dem absolut Verlorenen paradoxerweise zurückkehrt? Ein Stadium, in dem
uns dieser verloren gegangene Wunsch sonderbarerweise "wieder" aufgezwungen wird? Denn
die heutige Kommunikationstechnik ist zweifellos fast dazu imstande, den Traum der
Allgegenwart zu erfüllen, also den Traum von der Unabhängigkeit des Erlebens von dem
jeweiligen Ort, den der eigene Körper im Raum einnimmt (und insofern ist dies ein
"cartesianischer" Traum).
7
Ob es tatsächlich richtig ist, von einem cartesianischen Traum zu sprechen, sei hier mal
dahingestellt, doch die Benennung der Neuen Medien als erste Irritationsinstanz in Sachen
Sinnlichkeit hat sicherlich seine Berechtigung. Denn in der Tat war es die "digitale Revolution", die
den Umschwung von der Sprache hin zum Affekt und Gefühl eingeläutet hat. Von Taktilität war von
Anfang an die Rede, von Augenblicklichkeit, Unmittelbarkeit, von der Auflösung von Zeit und
Raum, – ein neues Paradies schien sich anzubahnen, wie man beispielsweise Sherry Turkle´s Buch
"Leben im Netz"
8
entnehmen konnte. Herrliche Zeiten stünden bevor, weil wir uns endlich von all
diesen poststrukturalistischen Denker verabschieden könnten: Ihre Theorien würden uns nämlich
im Netz leibhaftig begegnen:
So begegne ich den Ideen von Lacan, Foucault, Deleuze und Guattari, zwanzig Jahre nachdem
ich erstmals mit ihnen Bekanntschaft gemacht habe, erneut in meinem neuen Leben am
Bildschirm. Doch diesmal sind die gallischen Abstraktionen viel konkreter. In meinen
rechnervermittelten Welten ist das Selbst, das durch die netzvermittelten Interaktionen
konstituiert wird, multipel und in ständigem Wandel begriffen; es wird von der Sprache erzeugt
3
Kognition, so Gerhard Roth, ist ohne Emotion nicht möglich! Vgl. Sigrid Weigel: Phantombilder. Gesicht,
Gefühl, Gehirn zwischen messen und deuten, in: Oliver Grau/Andreas Keil (Hg.): Mediale Emotionen. Zur
Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt 2005, S. 243
4
Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins.
5
Terry Eagleton: After Theory, New York 2003
6
Paul Verhaege: Beyond Gender. From Subject to drive, New York 2001
7
Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, Frankfurt/M 2004, S. 161
8
Turkle, Sherry: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek 1999 (amerik. Orig. 1995)
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und transformiert; der Geschlechtsverkehr ist ein Austausch von Signifikanten und Bedeutung
eher ein Produkt von Navigieren und Improvisieren als von rationaler Analyse. In der
maschinengenerierten Welt der MUDs begegne ich Figuren, die mir eine neue Beziehung zu
meiner eigenen Identität eröffnen."
9
Derrick de Kerckhove, Leiter des McLuhan Instituts in Toronto, ist gleich noch ein paar Schritte in
seiner Definition der Neuen Medien weitergegangen und schiebt ihnen die Aufgabe zu, die durch
das Alphabet hervorgerufenen Kollateralschäden auszugleichen. Der Computer und das Gehirn
werden als parallele Einrichtungen definiert, die in unserer Zeit eine nicht mehr hintergehbare
Synthese eingehen werden – mit folgenreichen Konsequenzen: Die Reintegration des Körpers und
des Multisensuellen, der Wandel vom Informations- zum Kommunikationszeitalter, die
Relativierung der (Wort-)Sprache zugunsten anderer Kommunikationsformen, Manipulation des
Verhältnisses von Raum und Zeit, hieraus resultierende doppelte erkenntnistheoretische
Umkehrung: von der Frontalposition des 'Gegenüber' (Buch, Theater) zum 'Eintauchen' einerseits
(...), andererseits der von Kerckhove immer wieder statuierte "Auszug des Denkens aus dem Kopf
auf den Bildschirm", wodurch das "globale Bewusstsein" entsteht. Die neuen Medienmaschinen sind
im Innern unseres Körpers. Das Eintauchen und Hineingezogenwerden gehört zu den
interessantesten Neuerscheinungen: Es führt zu einem "Ende der Theorie" und der sie begleitenden
Distanz sowie einem Ende der Dominanz des Visuellen. Stattdessen werden Riechen, Tasten, Hören
cyberkulturell integriert. Die sinnlichen und prä-bewussten, prä-sprachlichen kognitiven Reaktionen
spielen eine zunehmend größere Rolle in der Kommunikation; viele Formen der Neuen Medien
lassen das Stadium der Wort-Werdung einfach aus, wodurch der Computer eine allmähliche
Symbiose mit dem physischen menschlichen Körper eingehe – was sich unter anderem in der
Konjunktur der Computerspiele manifestiere.
10
Auch die gegenwärtige Attraktivität der Gehirnforschung ist auf das Engste mit den digitalen
Rechnungs- und Aufzeichnungsverfahren verbunden. Insbesondere in Hinblick auf die
Affektforschung hat die Neurologie neue Erkenntnisse versprochen. Sigrid Weigl ist in dem Band
"Mediale Emotionen" jedoch dem Gefühlsbegriff nachgegangen, der dort in aller Munde ist. Nicht
nur, dass bei den neuen Verfahren natürlich keine Gefühle aufgezeichnet, sondern Hirnaktivitäten
gemessen werden, auch "der gegenwärtige Begriff der Gefühle (resp. Emotionen) (...) (stelle) die
Wiederkehr einer Pathosformel aus dem Zeitalter der Sensibilité bzw. Empfindsamkeit dar".
11
Bereits im 18. Jahrhundert sei das Gefühl als Medium konzipiert worden, das zwischen einer
"Sensibilité morale" und "Sensibilité physique" vermitteln hätte müssen, um den Graben zwischen
Geist und Körper zu überbrücken.
12
Im selben Band fassen Andreas Keil und Jens Eder das Verhältnis von audiovisuellen Medien und
emotionalen Netzwerken zusammen und machen klar, dass heute unter affektiven Phänomenen
ziemlich viel verstanden wird. Das reicht von intensiven, kurzfristigen Emotionen wie bei einem
romantischen Happy End, über diffuse, unterschwellige Stimmungen wie am Anfang eines
Horrorfilms, reflexhafte Affektreaktionen wie bei den Explosionen eines Actionspektakels bis zu
9
Turkle ebda, S. 19f.
10
Vgl. Simone Mahrholz: Derrick de Kerckhove – Medien als Psychotechnologien, in: Alice Lagaay, David Lauer
(Hg.): Medien-Theorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt/New York, 2004, S.69-95, bes. S. 86/87
11
Weigl, Phantombilder, S. 244
12
Vgl. ebda
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Empathie, Sympathie und Begehren, ästhetischer Genuss sowie politisch-ideologisches
Betroffensein.
13
Gleich zu Beginn führen die Autoren in einer Fußnote aus, dass mit Beginn der 90er Jahre eine
Verschiebung in der Filmtheorie festzustellen gewesen sei, wodurch "psychoanalytische
Affektlehren" (!) wie jene von Laura Mulvey und Louis Baudry verdrängt worden seien. Von den
kognitiven Emotionstheorien wurde ihnen vorgeworfen, undifferenziert und empiriefern zu sein.
Hier muss allerdings betont werden, dass in den 70er Jahren innerhalb der strukturalen Filmtheorie
wie der hier angegriffenen Apparathustheorie Affekt kein explizites Thema war, sondern die
unbewusste Identifikation und die ideologische Produktion des Subjekts im Vordergrund standen.
Dies wird nun jedoch – im Zuge einer allgemeinen Emotionalisierung von Medientheorie – der
Psychoanalyse als grobe Vernachlässigung vorgeworfen. So zeichnet Lisa Cartwright in ihrem Buch
"Moral Spectatorship"
14
den Konflikt Sprache versus Affekt, wie er die 70er Jahre des vorigen
Jahrhunderts kennzeichnen würde, nach und formuliert als Vorwurf gegen die Psychoanalyse und
insbesondere gegen die feministische Filmtheorie dieser Zeit, dass die Ignoranz dem Affekt
gegenüber auf politischen Prämissen beruht hätte.
Daher sei heute eine affektive Umorientierung an der Zeit, eine Neuorientierung an alten
theoretischern Prämissen, wie etwa an der Objektbeziehungstheorie à la Winnicott und Melanie
Klein (ebenfalls mit im Bund André Green und seine psychoanalytische Affekttheorie) sowie an der
Affekt-Psychologie Silvan Tomkins.
Silvan Tomkins hat seine Arbeit in den 50er und 60er Jahren in Yale und später in Princeton
entwickelt
15
, er hat eine psychoanalytische Behandlung abgebrochen und war mit den Ideen
Jacques Lacans bekannt, wie gut und intensiv, entzieht sich meiner Kenntnis. Laut Irving
Alexander, einem Kollegen und Freund, ist eine seiner ersten Arbeiten über Affekt in französisch in
einem von Lacan herausgegebenen Band erschienen. Seine Affektlehre entwickelt er in expliziter
Abgrenzung zur Psychoanalyse, weil diese a) mit dem System der Triebe ein zu kleines System als
allumfassendes gesetzt und b) die Scham als Primär-Affekt ignoriert hätte. Tomkins bindet seine
Affekte an die zu dieser Zeit immer faszinierender werdende Systemtheorie an. Affekte bilden in
seinem System das primäre Motivationssystem des menschlichen Wesens. Das Triebsystem – im
Freudschen Sinne – bildet dabei ein Untersystem. Der zentrale Affekt unter den insgesamt neun
Basalaffekten ist die Scham, die den gesamten psycho-physischen Organismus strukturiert. Sie
entwickelt sich als Grundkomponente durch Unterdrückung von Interesse und Neugier. Alle Affekte
stehen in dichotomer Relation zueinander, d.h. je nachdem, ob die Intensität neuraler Stimulation
zu oder abnimmt, pendelt die affektive Lage in Plus oder Minus. Die Scham ist sehr stark an die
Sichtbarkeit und hierbei besonders an das Gesicht (und dessen Ausdrucksfähigkeit) geknüpft. Wie
Tomkins hierzu schreibt: "Man is, of all animals, the most voyeuristic. He is more dependent on his
visual sense than most animals, and his visual sense contributes more information than any of his
senses".
16
Gleichzeitig ließe sich jedoch ein gesamtgesellschaftliches Tabu des Sich-gegenseitig-in-
13
Vgl. Andreas Keil/Jens Eder: Audiovisuelle Medien und neuronale Netzwerke, in: Grau/Keil (Hg.): Mediale
Emotionen, S. 224
14
Erscheint 2006 bei Duke University Press
15
2 Bände: Affect, Imagery, Consciousness, New York 1962, 1963
16
Tomkins zit. nach Eve Kosofsky Sedgwick and Adam Frank (eds): Shame and its Sisters. A Silvan Tomkins
Reader, Durham und London 1995, S. 144
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die-Augen-Schauens feststellen: "The universal taboo on mutual looking is based not only on
shame but on the entire spectrum of affects".
17
Wenn wir hier nun kurz bei Sigmund Freud über
die Schaulust und die Exhibition nachlesen, dann klingt dies zwar etwas anders, doch ist auch für
Freud die kulturelle Tiefendimension dieser Triebregung selbstverständlich. Die kindliche Schau-
und Zeigelust verändert sich in der Freudschen Theorie im Verlauf der Entwicklung mehr und mehr
durch das Hindernis des Schamgefühls.
18
Weshalb die Scham für Tomkins allerdings so zentral ist,
vermag dieser nicht wirklich schlüssig zu belegen:
Insofar as any human being is excited by or enjoys his work, other human beings, his body, his
self, and the intimate world around him, he is vulnerable to the variety of vicissitudes in the
form of barriers, lacks, losses, and accidents, which will impoverish, attenuate, impair, or
otherwise prevent total pursuit and enjoyment....
19
Tomkins wirft Freud vor, die Selbsterhaltungstriebe (Nahrungsaufnahme) ausschließlich biologisch
gefasst zu haben. Er hingegen würde hier bereits die Affekte "Joy – Excitement" etc. am Werke
sehen. Ich denke, es ist nicht notwendig, darauf zu verweisen, dass Freud und insbesondere Lacan
klar gemacht haben, dass der Oraltrieb (und nicht nur dieser) nur teilweise als biologisches
Bedürfnis (need) begriffen werden kann, denn Anspruch und Begehren sind beim Infans von
Beginn an im Spiel.
Freud hat seinen Begriff der Libidio von anderen psychischen Energien unterschieden, um zu
verdeutlichen, dass Sexualtrieb und Hunger nicht auf demselben Level operieren
20
. Auch Tomkins
und seine Anhänger sehen sich gezwungen, eine eigene Sexualitätstheorie aufzustellen. Denn wie
Donald Nathanson, Gründungsdirektor des Tomkins-Institute, hierzu betont, würden sich, wie bei
jedem psychobiologischen System, Affekt und Trieb gegenseitig beeinflussen (in a recursive
fashion). Nach Tomkins operiere der Affekt als Verstärker: gute Stimmungen werden besser und
negative schlechter. Dies lasse sich an der Steigerung einer sexuellen Erregung bis zum Orgasmus
deutlich ablesen
21
:
The more we are excited by this arousal, the more we become aroused. The addition of positive
affect makes the thrilling annoyance of arousal into something even more pleasant; the increase
in arousal produced by further stimulation of the affected areas triggers even more excitement,
leading to even more arousal until the arousal is terminated by orgasm, its genetically
programmed terminal analogic amplification. Orgasm is cherished all the more because it
17
ebda S. 148
18
Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/M 1972, S. 63-130
19
Tomkins, a.a.O., S. 150
20
Freud schreibt dazu in den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie: "In der Sonderung von libidinöser und
anderer psychischer Energie drücken wir die Voraussetzung aus, daß sich die Sexualvorgänge des
Organismus durch einen besonderen Chemismus von den Ernährungsvorgängen unterscheiden. Die Analyse
der Perversionen und Psychoneurosen hat uns zur Einsicht gebracht, dass diese Sexualerregungen nicht von
den sogenannten Geschlechtsteilen allein, sondern von allen Körperorganen geliefert wird. Wir bilden uns also
die Vorstellung eines Libidoquantums, dessen psychische Vertretung wir die Ichlibido heißen, dessen
Produktion, Vergrößerung oder Verminderung, Verteilung und Verschiebung uns die Erklärungsmöglichkeiten
für die beobachteten psychosexuellen Phänomene bieten soll." (Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie (1904-05), Frankfurt/M 1971, S. 86/87)
21
Siehe Freuds Konzeption der beiden Grundtriebe: Lebens- und Todestrieb. Anziehung und Abstoßung,
Mischverhältnisse, Zusatz zur sexuellen Aggression macht aus dem Liebhaber Lustmörder. (Sigmund Freud:
Abriss der Psychoanalyse (1938), Frankfurt/M 1972, S. 12)
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triggers the affect enjoyment – joy, which is pleasant in direct proportion to the amount of
stimulus it reduces and the rapidity with which that stimulus is decreased. 'Good sex' is a
paradigm of efficacy experienced in the context of positive affect; a good sexual experience
brings pride and a host of thoughts about our best possible self.
22
Leider muss Nathanson einräumen, dass die Dinge mit den Menschen etwas komplizierter als mit
den Tieren sind. Denn die fortschreitende Evolution des Menschen, die Entwicklung eines
Gedächtnisses, wodurch Affekte sich zu komplexen "ideoaffectiven linkages" formen, führt dazu,
dass "the nature of sexual emotionality" unsere Spezie in Sachen "generative play"
schüchtern/scheu werden hat lassen.
23
Nachzuvollziehen sei dies an der Tatsache, dass Menschen
Sex normalerweise im Dunkel der Nacht und Tiere meist tagsüber haben.
24
Denken Sie an die
natürliche Scham des Menschen, sich gegenseitig anzuschauen!
Maßgeblich an der Inthronisierung Tomkins´ beteiligt waren Eve Sedgwick und Adam Frank, die
den bis dahin unbekannten Psychologen allen auf eine Theorie des Affekts wartenden
angloamerikanischen KulturwissenschafterInnen nahebrachten.
25
Sedgwick und Frank haben in ihrer Einführung in das Werk Tomkins´ betont, dass für sie bei der
Lektüre Tomkins´ schnell klar geworden sei, wie eng der Freudsche Triebbegriff sei und welche
Vorteile das Affektsystem für die Geistes- und Kulturwissenschaften mit sich brächte. Die Affekte
werden nämlich unter dem Aspekt der Freiheit betrachtet, und Tomkins benutze die kybernetische
Metapher eines komplexen Systems, um die unterschiedlichen Levels mit jeweils unterschiedlichen
Freiheitsgrade aufzuzeigen: Demnach ist der Computer freier als die Rechenmaschine.
Affect, unlike the drives, has a degree of competency and complexity that affords it the relative
ability to motivate the human to greater degrees of freedom. For freedom is measured
quantitatively, in degrees of cognitive competency and complexity. Tomkins even proposes a
principle for freedom, suggesting Freud’s pleasure principle as the model. He calls it the
information, complexity, or "degrees-of-freedom principle”.
26
Während Tomkins von einem system-psychologischen Standort die Psychoanalyse wegen ihrer
"Triebhaftigkeit" kritisierte, attackierte André Green in den 70er Jahren Lacan, dass dieser den
Affekt zugunsten der "Repräsentation" außen vor gelassen hätte.
Er selbst hat seine klinische Arbeit vor allem auf narzisstisch-affektiven Störungen aufgebaut:
"Durch den Affekt macht sich das Ich eine nicht repräsentierbare Vorstellung von sich selbst".
27
Hinter den scharfen Attacken Greens gegen Jacques Lacan steht der große Streit unterschiedlicher
psychoanalytischer Lehrmeinungen und Schulen, der sich immer wieder bei der Frage nach der
Behandlung psychotischer Patienten (Schizophrenie) entzündet. Freud und auch Lacan waren in
dieser Frage sehr zurückhaltend und wollten die Psychoanalyse primär der neurotischen Kur
zukommen lassen, während die Schizophrenie-Forschung vor allem in England um Ronald Laing
und um die Objektbeziehungstheorie von D. W. Winnicott und Melanie Klein andere
22
Donald L. Nathanson: Shame and Pride, New York and London 1992, S. 290/291
23
Vgl. ebda, S. 291/292
24
Vgl. ebda, S. 292
25
Eve Kosofsky Sedgwick and Adam Frank, a.a.O.
26
ebda, S. 35.
27
André Green: Die Tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus, Gießen
2004, S. 147
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Patientengruppen auch mit in Betracht zogen (Kinder, Psychotiker). Green geht in seinen
Vorwürfen auch auf den Stand der Analytiker ein und meint, diese hätten ihre Vormachtsstellung
auch über die Sprache und das Schweigen des Analytikers zugesprochen. Auch in der Frage der
gegenseitigen Übertragung wäre das Affektive als zu bedrohlich ausgeklammert – und wieder in die
Sprache allein rückgeholt worden.
Es ist durchaus interessant, aus heutiger Sicht die Kontroverse Strukturalismus versus
Phänomenologie u.a. nochmals Revue passieren zu lassen und aus der Distanz klarer die
Machtfelder wahrzunehmen. Doch ist der Vorwurf, die Sprache hätte über andere Systeme und
Methoden aus wissenspolitischen Gründen gewonnen, zu kurz gegriffen. Vielmehr muss der
"Siegeszug" der Signifikantenkette quer Beet durch die Jahrzehnte hinweg verfolgt werden und
hierbei wird eher ein Ringen um das Sagbare gegen das Sichtbare (Foucault) auffällig. Ein
Sichtbares, das heute möglicherweise fälschlich mit sichtbaren Körperreaktionen (Affekten und
Gefühlen) gleichgesetzt wird.
28
Mai Wegener hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Lacan den Vorwurf, den Affekt zu
ignorieren, mit folgendem Statement gekontert hat:
Die Angst ist ein Affekt. Es ist absurd zu sagen, ich interessiere mich nicht für Affekte. Ich sage
nur, dass Affekte nicht das in seiner Unmittelbarkeit/Unvermitteltheit gegebene Sein sind, noch
das Subjekt in seiner rohen Form. Er ist keinesfalls protopathique. Der Affekt ist nicht verdrängt
– er ist verrutscht (wie eine Schiffsladung), er driftet, er ist verschoben, verrückt, verkehrt ....
aber nicht verdrängt.
29
Lacan folgt hier klar Freuds Bestimmung, die dieser in "Hemmung, Symptom und Angst"
ausgeführt hat. Dort heißt es: "Die Angst ist also in erster Linie etwas Empfundenes. Wir heißen sie
einen Affektzustand, obwohl wir auch nicht wissen, was ein Affekt ist."
30
Greens Vorwurf an Freud,
dass dieser nicht mal im Zusammenhang mit der Angst vom Affekt spräche, ist also falsch
31
,
wenngleich Freud sehr bescheiden ist und betont, über den Affekt nichts sagen zu können.
Genau hier platziert sich nun die Gehirnforschung, um sich als wahre Fortsetzerin des Freudschen
Werks in Szene zu setzen: Heute könne man nämlich sichtbar beweisen, dass Freud Recht gehabt
hätte, man könne an neuronalen Vorgängen ablesen, wie das Unbewusste und seine
unterschiedlichen Mechanismen wie Verdrängung, Vergessen etc. arbeiten. Es ist, denke ich,
ausreichend darauf hinzuweisen, dass die Gehirnforschung ähnlich wie bei den Gefühlen auch nicht
das Unbewusste aufzeichnet, sondern Hirnaktivitäten misst, die dann als jene des Unbewussten
gedeutet werden.
28
Vgl. zur Kontroverse Green -Lacan, "Against Lacanism A conversation of André Green with Sergio
Benvenuto", JEP, Number 2, Fall 1995-Winter 1996
29
Jacques Lacan: L'Angoisse, Séminare, livre X, Paris 2004, S. 23
30
Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst (1925), in: Studienausgabe VI, Frankfurt/M 1971, S. 273,
31
André Green: "Auffällig ist, dass Freud an keiner Stelle von Vorstellungen oder vom Affekt spricht." (Die tote
Mutter, S. 145)
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Affektive Medienwelten
Ich habe anfangs erwähnt, dass in der Kunst und im Film bereits wieder von neuen turns die Rede
ist: von einem "somatic" und "emotional turn" kann man lesen, die den "pictorial turn" schon
wieder hinter sich ließen. Das Kino sei dabei die Emotionsmaschine schlechthin?
32
Richard Shusterman macht den "somatic turn" an vielen auffälligen Verhaltensweisen unserer
Gesellschaft fest, die alle explizit den Körper betreffen:
One striking paradox for our new media age is its heightended concentration on the body. As
telecommunication renders bodily presence unnecessary, while new technologies of mediatic
body construction and plastic cyborg-surgery challenge the very presence of a real body, our
culture seems increasingly fixated on the soma, serving it with the adoring devotion once
bestowed on other worshiped mysteries. In postmodern urban culture, gyms and fitness centers
proliferate, largely replacing both church and museum as the preferred site of self-meliorative
instruction, where one is obliged to visit in one´s leisure as a duty to oneself, even if it involves
inconvenience and discomfort. (...) Despite mediatic dematerialization, bodies seem to matter
more.
33
Dass die hier beschriebene Nabelschau nicht nur eine Wiederentdeckung sinnlicher Freude
darstellt, sondern vielmehr auch als kapitalistische Eroberung des Körpers zu lesen ist, mag banal
klingen. Doch sollte sie im allgemeinen Gefühlstaumel, der auch vor den TheoretikerInnen der
Emotionen nicht Halt zu machen scheint, nicht völlig vergessen werden.
Auf diesen Umstand hat Thomas Elsaesser in seinem Aufsatz "zu früh, zu spät" aufmerksam
gemacht und von der Emotion der Akteure im Filmtheorie-Geschäft gesprochen. Durchaus parallell
zu Lisa Cartwrights Neuorientierung der Medientheorie befindet auch Elsaesser, dass das Kino nicht
länger mehr als Text, sondern als Ereignis gefeiert werde, von der Psychoanalyse, insbesondere
ihrer Lacanschen Prägung, werde abgerückt, doch dieses Unbehagen an Theorien des Schauens
und Zuschauens sei selbst eine Emotion, die von verschiedenen Fraktionen geteilt wird, auch wenn
dabei völlig unterschiedliche Begrifflichkeiten im Spiel seien.
34
Für ihn selbst ist in dieser Diskussion
vor allem der Begriff der "Erfahrung"
35
zentral, der, wie er meint, natürlich keinen Zugang zu
Unmittelbarkeit und Präsenz verschaffe, was in der Nachfolge Derridas geradezu pervers wäre zu
erhoffen.
Heute würde, schreibt Elsaesser weiter über seine Kino-Erfahrung, interessanterweise nicht nur die
Zeiterfahrung besonders betont werden, sondern damit zusammenhängend auch das Trauma.
Wieder also wie bei Benjamin der Schock, lebten wir heute offenbar in einer Situation, die sich am
ehesten als ein "Erlebnis ohne Erfahrung"
36
umschreiben ließe. Hieran seien wohl die Medien mit
ihrer Überflutung nicht unschuldig. Er denke dabei an
einen somatischen Wahrnehmungskontext, der mit Medienerfahrungen dermaßen gesättigt sei,
dass seine Modi der Rezeption, der Reaktion und des Handelns verschiedene Arten des
Loslösens und Auftrennens des sensomotorischen Apparats bedingen würden, um zu
32
Elsässer Thomas: "Zu spät, zu früh". Körper, Zeit und Aktionsraum in der Kinoerfahrung, in: M. Brütsch, V.
Hediger, U.v. Keitz, A. Schneider, M. Tröhler (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität und Gefühl, Marburg 2005, S.
415-439, hier S. 416.
33
Richard Shusterman: performing live. Asthetic Alternative for the Ends of Art, Ithaca 2000, S. 137
34
Vgl. Elsaesser, S. 415
35
ebda, S. 417
36
ebda, S. 438
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funktionieren. "Erfolgreiche" Immersion in diesem Kontext fände ihr Korrelat in einem
"traumatischen" Modus der Zuschauerschaft, womit ich die flexible Aufmerksamkeit und
selektive Abstumpfung meine, die die periodische Intensität der Affekte absorbiert, die Flachheit
der Erinnerungen, den Ennui der Wiederholung und die psychische Spurenlosigkeit der Gewalt,
die der ständige Kontakt mit der Medienwelt mit sich bringt. Trauma wäre die Lösung (...)."
37
Und in der Tat spielt die Erfahrung, die Erfahrung von Zeit und Dauer, in der Kunst eine gewichtige
Rolle. Ich kann dies hier nicht genauer ausführen, möchte aber kurz auf den Begriff des Affektiven,
wie ihn Henri Bergson im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts definiert hat und wie er heute
insbesondere im Bereich der digitalen Kunst wieder auftaucht, eingehen.
Mit dem Begriff der Erfahrung und jenem des Erlebnisses (eine Unterscheidung, die auf Benjamins
Schock zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeht) sind Erinnerung, Zeit, Gedächtnis verknüpft –
alles Momente, die im Begriff des Affektiven bei Henri Bergson zusammengefasst werden. Jede
Wahrnehmung ist nach Bergson affektiv: "Affection is, then, that part or aspect of the inside of our
body which we mix with the image of external bodies; it is what we must first of all subtract from
perception to get the image in its purity".
38
Doch was, wenn wir Bilder nicht mehr als getrennt von
unserem Körper wahrnehmen können, sondern wenn wir in die Bilder hinein gezogen werden?
Wenn diese Bilder die repräsentative Ebene umgehen und auf den präsprachlichen Körper
einwirken, wie dies de Kerckhove u.a. beschreiben?
Der Bergsonsche Affektbegriff sei deshalb so bedeutungsvoll, weil er mit dieser
Nichtunterscheidung, dieser Entdifferenzierung von Bildern immer schon arbeite. Und im Falle der
digitalen Medienkunst, die immer weniger zwischen den Medien unterscheide, sei nun der affektive
Körper als "framer" der nicht mehre gerahmten Bilder besonders gefragt.
Mark B. Hansen baut diese These in "New Philosophy for New Media" auf, indem er Deleuzes
Begriff des Affekt(bildes) verwirft und Bergsons Affekt ins Spiel bringt. Deleuze hätte nämlich den
Affekt vom Körper getrennt und dem technischen Procedere überantwortet, während Bergson
radikal den Affekt als Modalität des Körpers verstand.
Wir leben nun, so Hansen, in der praradoxen Situation, dass wir aufgrund der technischen
Entwicklung Subjektivität auf radikalste Weise erleben können.
The fact that technical expansion of self-affection allows for a fuller and more intense
experience of subjectivity, that, in short, technology allows for a closer relationship to
ourselves, for a more intimate experience of the very vitality that forms the core of our being,
our constitutive incompleteness, our mortal finitude.
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All die hier skizzierten Entwicklungen, Verschiebungen und Verlagerungen könnten einfach auch als
Reaktion auf die Postmoderne sowie den Poststrukturalismus abgetan werden – als Gegenreaktion
auf eine Überbewertung von Struktur und Sprache. Doch ich denke, es geht um tiefere Schichten,
die sich da bewegen. Man kann, ohne pathetisch zu klingen, behaupten, dass all dies auf die
"Fassung des Menschen als symbolischem Wesen" abzielt, das in s/einer Sprache wohnt, auch
wenn diese ihm nicht heimisch ist. Die psychoanalytische Fassung des Menschlichen hat mit dem
Begriff des Begehrens diese Ex-zentrik klar betont. Das Affektive scheint nun so etwas wie ein
37
ebda, S. 438/39
38
Mark B. Hansen: New Philosophy for New Media, Boston 2004, S. 100
39
Mark B. Hansen, The Time of Affect, or Bearing Witness to Life, Critical Inquiry, vol. 30, no. 3
Affekt und Begehren
Marie-Luise Angerer (Köln)
Seite 10
e-Journal Philosophie der Psychologie
Versprechen zu beinhalten, diese Gespaltenheit zu überwinden, indem das Fremde des Körpers als
natürliche Basis eingeholt werden soll.
Psychoanalytiker wie Paul Verhaege oder Sexualitätsforscher wie Volkmar Sigusch behaupten, dass
der Imperativ: Du musst genießen! In den westlichen Gesellschaften zu Langeweile, Angst, und
Leistungssport in allen Bereichen geführt hätte. Sexualität sei nunmehr ein Lebensbereich u.a., der
den Lebensstil mitbestimme wie Kinder, Wohnung und Auto.
Man könnte – um zum Schluss zu gelangen – mit Paul Rabinow eine vorsichtige Antwort auf meine
Frage, was den Affekt so begehrenswert macht, formulieren.
Rabinow beschreibt das Auftauchen des Menschen, das Foucault in seiner Ordnung der Dinge so
plastisch nachzeichnet, als das ledigliche Auftauchen einer "Manifestation der Figur anthropos". Das
von Foucault als möglich gedachte Ende des Menschen hätte sich nicht bewahrheitet. Dennoch
müsse man/könne man von einer Brechung der Sprache, des Lebens, der Arbeit ausgehen. D.h.
wir sind angehalten, an uns die Frage zu stellen, wie wir uns zur Frage des anthropos stellen. Und
wie immer man sich dieser Frage stellen mag, könnte man doch das Projekt folgendermaßen
umschreiben: "Was wäre, wenn wir die jüngsten Veränderungen in den logoi von Arbeit, Leben und
Sprache nicht als einen epochalen Wandel begreifen würden, sondern als fragmentarische und
bereichsspezifische Veränderungen", die gegenwärtig nach ihrer Form suchen – und damit
notwendigerweise die Figur des anthropos mitziehen. "Der anthropos der Gegenwart ist gesättigt,
regelrecht überfrachtet von logoi".
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Das heißt weiter gedacht, dass die gegenwärtige Überbetonung des Affektiven als Symptom eines
in Umorientierung sich befindlichen Systems gelesen werden kann. Eines Systems, innerhalb
dessen der Mensch, der anthropos, ein Rädchen u.a. ist. Doch dies entledigt ihn nicht, seine
Differenz zu Tier und Maschine immer wieder festzulegen im Sinne einer ethischen Haltung.
40
Paul Rabinow: Anthropologie der Vernunft, Frankfurt/M 2004, S. 34-36.
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