Plotin an die Mitdenkenden: ἄφελε πάντα! Wörtlich übersetzt heißt das: Lass ab von
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Allem! Es geht um die Befreiung zum Einen, um die Befreiung zur Transzendenz, um
Freiheit, um die Freiheit der Philosophie, die Freiheit im unaussprechlichen Einen.
Nun ist aber schon dieser Appell interessant und wichtig. Die Befreiung zum Einen setzt
voraus, dass wir schon das, was vor dem Einen liegt, kennen. Wir müssen das schon
durchgemacht, schon durchgedacht haben auf unserem Aufstieg zum Einen. Das Alles
liegt gleichsam schon hinter uns. Es geht demnach nicht darum, dass wir einfach irgenwie
irrational zum Einen übergehen, sondern dass wir denkend die Möglichkeit erkennen, dass
es noch etwas gibt, was im Grunde ummöglich ist, was aber doch geschehen kann: eben
das Ablassen von Allem.
In der Philosophie ist dieser Gedanke als „Mystik“ bekannt. Das Wort Mystik stammt von
dem griechischen Wort myein ab. Es bedeutet soviel wie Augenschließen. Es geht
demnach um eine Abschließung gegen das Außen, eine Bewegung ins Innere. In dieser
Hinsicht kann natürlich darauf hingewiesen werden, dass es nicht um ein Gefühl geht.
Denn Gefühl setzt ein Außen voraus. Wir fühlen stets etwas, und wenn dieses Etwas wir
selbst sind (Selbstgefühl). Doch im Einen gibt es nichts, was zu fühlen wäre. Die Befreiung
zum Einen ist demnach eine Erfahrung im Denken, eine intellektuelle Erfahrung.
Dabei ist das Loslassen von Allem, die Wendung ins Innere des Bewusstseins, wenn wir
so wollen, erst der erste Schritt oder vielmehr der letzte Schritt. Denn nun, in der
Abstoßung von allem, was uns umgibt, gibt es sozusagen keinen festen Boden mehr.
Denn nun wird ja nicht mehr gedacht, weil im Einen nichts zu denken ist. Plotin spricht
dementsprechend von einer Schau, einer Betrachtung, einer Einsicht, wobei Schau,
Betrachtung und Einsicht nun nicht mehr diskursiv zu verstehen sind. Es ist so etwas wie
eine Offenheit für das, was im Einen geschieht. Das ist allerdings auch, wie ich vorhin in
Bezug auf das Problem im Einen gesagt habe, die Fülle des Seins. Der Übergang zum
Einen in der reinen Offenheit des Bewusstseins ist dann auch zugleich ein Innewerden der
Ganzen Fülle des Seins. Dieser Übergang ist aber - das müssen wir uns immer wieder
klarmachen - ein notwendiger Absprung von einem erreichten Ort zum Nicht-Ort.
Hören wir einmal Plotin selbst: „Immer wieder, wenn ich aus dem Leib aufwache zu mir
selbst, lasse ich das Andere hinter mir und werde mir selbst innerlich, schaue eine
wunderbar gewaltige Schönheit und vertraue, in solchem Augenblick ganz eigentlich zum
höheren Bereich zu gehören, verwirkliche höchstes Leben, bin in Identität mit dem
Göttlichen und auf seinem Fundament gegründet, denn ich bin zur transzendenten
Wirklichkeit gelangt und habe meinen Stand errichtet hoch über allem, was sonst geistig
ist; nach diesem Stillstehen (stasis) im Göttlichen, wenn ich da aus dem Geist herabsteige
in das diskursive Denken, dann muß ich mich immer wieder fragen: wie ist dies mein
jetziges Herabsteigen denn möglich?“
Plotins Schriften. Bd. Va. A.a.O, V 3, 17.
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Der Philosoph nimmt den Leib nicht als das erste wahr. Das ist seit Platon ein klares
Gesetz der Philosophie. Der Leib ist nicht das Ziel des Philosophen, viel eher ist es ein
Über-den-Leib-Hinausgehen oder, wie Plotin sagt, ein Erwachen aus ihm. Der Leib ist hier
freilich eher der Hinweis auf die Welt der Gegenstände, auf die Welt überhaupt. Wer nur in
der Welt lebt, nur die Voraussetzungen und Bedingungen der Welt kennt, wird niemals
verstehen, was Philosophie heißt. Er wird seine ersten Ziele nicht an der Erkenntnis oder
der Vernunft orientieren, sondern an den schon erwähnten sozialen Erfolg. Sozialer Erfolg
hat aber mit Philosophie nichts zu tun. Dafür vielmehr mit dem Leib, denn dann kann man
sich schöne Dinge kaufen und sie geniessen.
Plotin nennt dieses Verlassen der Welt, das doch wohl augenblickshaft geschieht, sogar
„höchstes Leben“ - wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Der Aufenthalt dort in
der Höhe, im Höchsten, wird als ein „Stillstehen im Göttlichen“ bezeichnet - nun haben wir
schon gehört, dass das Eine „mehr“ sei als ein „Gott“. Auch das weist darauf hin, dass
Plotin in seinem Sprechen nicht durchgängig streng verfährt. Ich werde darauf gleich noch
zurückkommen.
Das „Stillstehen im Göttlichen“ ist der Hinweis darauf, dass dort sich nichts bewegt. Die
Bewegungslosigkeit oder Ruhe betrifft auch das Denken. Denn Plotin fragt sich, warum er
wieder zurück müsse zum diskursiven Denken, d.h. zu einem Denken, das sich in
Argumenten schrittweise bewegt. So sagt Plotin einmal in der Enneade V 5: „So wie der,
welcher die intelligible Wirklichkeit schauen will, keine Vorstellung von etwas Sinnlichem in
sich haben darf, um das zu erschauen, was jenseits des Sinnlichen ist, so wird auch der,
welcher das schauen will, was jenseits des Intelligiblen ist, Es nur schauen, wenn er alle
Denkbarkeit wegnimmt.“ Sie sehen, dass ist der bewusste Schritt vom Denken aus in das
Nicht-Denken, vom Sagen aus zum Unsagbaren. Das Ganze wird hier nach einer Analogie
entfaltet. So wie der, der das Übersinnliche wissen will, nicht auf Vorstellungen aus dem
Sinnlichen zuückgehen kann, so kann der, der noch das jenseits des Übersinnlichen, also
jenseits des Denkbaren, erfahren will, nicht Vorstellungen aus dem Denkbaren mitbringen.
Er muss das Denkbare, das Denken hinter sich lassen.
Plotin deutet an anderer Stelle auch an, dass die Rückkehr zum diskursiven Denken etwas
mit dem Leib und der Verleiblichung der Seele zu tun hat. Es werde eine Zeit geben, in der
man dauernd schauen werde, dauernd jenseits des Denkens sein werde. Die Seele, sie ist
unsterblich. Wir werden auch darüber später sprechen müssen.
Klar ist, dass sich hier eine Schwierigkeit andeutet, die Schwierigkeit der „Mystik“
überhaupt. Denn wie kann man denkend über das Denken hinausgehen? Wie kann man
denkend nicht denken? Oder was soll das überhaupt sein, eine intellektuelle Erfahrung, in
der dann nicht mehr gedacht wird? Plotin sagt: es gehe eben um das „Über-Denken“, VI 8,
hypernoesis. Das heißt, dass er genau das Problem erkannt hat. Doch ist das Problem mit
solchen Hinweisen schon gelöst?
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