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Geleitwort von Johan Braeckman
Weder Gottes Wille kann ein solides Fundament für moralisches Handeln sein
noch können es sakrale Texte, menschliche Intuitionen oder Traditionen sein,
weder so genannte Experten oder Autoritäten verschiedenster Schattierungen
noch natürliche Prozesse, kategorische oder andere Imperative. Alle denkbaren
Argumente, die man im Lauf der Jahrhunderte zur Begründung moralischer Auf-
fassungen vorbrachte, sind mehr oder weniger anfechtbar. Es hat den Anschein,
als führe dies unausweichlich zu einer relativistischen Position hinsichtlich mora-
lischer Fragen. Und in der Tat haben viele diese Schlussfolgerung tatsächlich gezo-
gen, manche taten es mit Widerwillen und Beklemmung, für andere bedeutete es
im Gegenteil eine Erleichterung. Ironischerweise verbinden Letztere hierdurch
den Skeptizismus des Sokrates mit dem Relativismus der von eben diesem verab-
scheuten Sophisten wie etwa Protagoras. Der Mensch ist nicht nur das Maß aller
Dinge, er ist auch der Erfi nder moralischer Auff assungen. Deshalb sei es nicht
verwunderlich, dass man in verschiedenen Kulturen oft sehr unterschiedliche
moralische Kodizes und Argumentationen vorfi nde, so meinen die moralischen
Relativisten. Für einfl ussreiche Anthropologen wie Ruth Benedict und Margaret
Mead war Moralität gleichbedeutend mit sozial akzeptierten Sitten und Gebräu-
chen. Manche von ihnen erweisen sich als nützlich, den Zusammenhalt der
Gesellschaft und ihr Funktionieren zu gewährleisten, andere sind im Lauf der Zeit
überfl üssig geworden, obwohl man sie noch in Ehren hält. Viele Wissenschaft ler
waren davon überzeugt, dass die Moralität wie die menschliche Natur plastisch
und unbeschränkt beeinfl ussbar sei. Während man in der Kultur wie der unseren
den Wert eines Babys sehr hoch einschätzt, brachten die Inuit die Hälft e der Neu-
geborenen ums Leben. Moralische Auff assungen sind demnach an Zeit, Ort und
spezifi sche kulturelle Gegebenheiten gebunden. Es ist sinnlos zu entscheiden,
welche moralischen Normen, Regeln und Traditionen besser oder schlechter
sind, denn die Kriterien, die wir anlegen, sind ebenfalls zeit- und kulturbedingt.
Nun ist es unbestreitbar, dass diese relativistischen Ansichten einige sehr wert-
volle Folgen hatten. Sie stellten das moralische Überlegenheitsgefühl des Westens
in Frage; sie unterminierten den theologischen und politischen moralischen Dog-
matismus und trugen dazu bei, dass man anderen Gesellschaft sformen mit mehr
Toleranz und Anerkennung begegnete. Doch ein konsequenter Relativismus hat
auch seine Nachteile: Er bietet keine stichhaltigen Argumente, mit denen man
etwa die verschiedenen moralischen Ansichten der größten Verbrecher des
20. Jahrhunderts widerlegen könnte. Mao, Hitler, Stalin, Pol Pot, Mussolini, Idi
Amin – ihre moralische Überzeugungen sind nicht besser oder schlechter als die
anderer. Auch fällt es dem Relativisten schwer, Praktiken und Traditionen zu ver-
urteilen, die nach Ansicht vieler unmoralisch sind, wie etwa die Beschneidung
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Jan Verplaetse, Der moralische Instinkt
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Geleitwort von Johan Braeckman
von Frauen oder Ehrenmorde. Ebenso wenig kann er die Universalität der Men-
schenrechte akzeptieren.
Doch abgesehen von diesen Nachteilen des moralischen Relativismus bleibt
die Kernfrage, ob er wissenschaft lich stichhaltig ist. Ist das Menschenbild, auf das
er sich beruft , korrekt? Die Forschungsergebnisse der unterschiedlichsten Diszip-
linen der letzten Jahrzehnte legen nahe, dass dies nicht der Fall ist. Der Kulturre-
lativismus betrachtet den Menschen als ein Stück Modelliermasse, den die kultu-
rellen Gegebenheiten in verschiedene Formen kneten. Denn nur so seien die
extremen Unterschiede zwischen den Kulturen hinsichtlich Mentalität und Ver-
halten zu erklären, besonders hinsichtlich der Moralität. Warum fi ndet die eine
Kultur Homosexualität moralisch unbedenklich, während in anderen Kulturen bis
heute die Todesstrafe auf sie steht? Vor einigen Jahrzehnten zeigte bereits eine
Reihe von wichtigen Studien, wie anfechtbar dieses Konzept der Plastizität ist.
1983 veröff entlichte der neuseeländische Anthropologe Derek Freeman seine Auf-
sehen erregende, äußerst kritische Studie über Margaret Meads »Coming of Age
in Samoa« (»Kindheit und Jugend in Samoa«). In ihrem 1928 erschienenen Buch,
das auf die Sozialwissenschaft en großen Einfl uss ausgeübt hat, legte die amerika-
nische Anthropologin dar, dass sich das Leben auf Samoa im Vergleich zu den
Vereinigten Staaten durch eine freizügigere Sexualmoral, durch Gewaltlosigkeit
und geringeren Konkurrenzkampf auszeichne. Damit schien sie den Beweis gelie-
fert zu haben, dass der Mensch und somit die Gesellschaft in hohem Maße »mach-
bar« sind: Andere kulturelle Auff assungen und Strukturen bringen andere Verhal-
tensweisen hervor. Wir brauchen uns nicht mit Gewalt, Krieg, Vorurteilen,
Rassismus etc. abzufi nden. Wenn wir nur wollen, können wir durch richtige
Erziehung und vernünft ige politische Maßnahmen all dem ein Ende bereiten. Es
handelt sich um vermeidbare Auswüchse der Kultur, nicht um der menschlichen
Natur innewohnende Kräft e. Doch Derek Freemans Studie machte mit diesem
Optimismus kurzen Prozess. Nicht nur war Margaret Mead off enbar von ihren
wenigen Gewährsleuten bewusst an der Nase herumgeführt worden, eingehen-
dere Forschungen wiesen zudem nach, dass man auf Samoa sehr wohl Eifersucht
kannte, dass dort vergleichsweise mehr Vergewaltigungen und andere Formen der
Gewalt vorkamen als in den Vereinigten Staaten und so weiter. Freemans Buch
stieß auf scharfe Kritik, zum einen aus wissenschaft lichen Gründen, zum anderen
aber auch, weil er ein anderes, pessimistischeres Menschenbild zeichnete als Mar-
garet Mead. Man unterstellte ihm biologischen Determinismus, obwohl seine For-
schungen gerade zeigten, dass eher Meads Standpunkt ein deterministischer war.
Denn wenn Kultur der alles bestimmende Faktor ist, wie ist es dann um die Eigen-
heit des Menschen bestellt? Die augenscheinlich positive Botschaft , dass die
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