Seminar für allgemeine pädagogik


Soziologische Theorien der Kommunikation



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2. Soziologische Theorien der Kommunikation

2.1 Der Symbolische Interaktionismus (George Herbert Mead)


Basisliteratur

Mead, G.H.: Geist, Identität und Gesellschaft. 10. Aufl. Frankfurt/M. 1995. - Garz, D.: Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Opladen 1989.


2.1.1 Biographische Hinweise:


George Herbert Mead (1863-1931) war amerikanischer Philosoph und Sozialwissenschaftler (nicht verwandt mit der Anthropologin Margaret Mead!) und lehrte, nach einem Studium u.a. an der Harvard Universität sowie in Deutschland (Leipzig. Berlin), 40 Jahre an der Universität von Chicago. Er war befreundet mit John Dewey, dem einflußreichen Erziehungsphilosophen, der - wie Mead - dem Pragmatismus nahe stand. Obwohl Mead als Universitätslehrer hohes Ansehen genoß, veröffentlichte er zu Lebzeiten kein Buch. Nach seinem Tod wurden seine Manuskripte von Schülern in Buchform herausgegeben, was zur verstärkten Rezeption seiner Lehre im angloamerikanischen Raum führte. In Deutschland wurde Mead erst in den sechziger Jahren, nach Erscheinen der deutschen Übersetzungen seiner Werke, bekannt. Er gewann hier insbesondere mit der Theorie des „Symbolischen Interaktionismus“ in den Sozialwissenschaften an Einfluß. Unter anderem griff Habermas in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ auf Erkenntnisse Meads zurück. Die wesentlichen Grundlagen dieser Theorie finden sich in dem Buch „Self, Mind and Society“ (englisch 1935), dessen deutsche Übersetzung unter dem Titel: „Geist, Identität und Gesellschaft“ herausgegeben wurde.

2.1.2 Einführung in die Theorie des Symbolischen Interaktionismus


Der Begriff „Symbolischer Interaktionismus“ stammt nicht von Mead selbst, sondern wurde 1937 von Herbert Blumer, seinem Schüler und Nachfolger auf dem Chicagoer Lehrstuhl, geprägt. Blumer meinte, mit dieser Bezeichnung sei das wissenschaftliche „Programm“ Meads am besten umrissen.

Der Symbolische Interaktionismus ist sowohl Gesellschaftstheorie als auch Entwicklungstheorie. „Symbolisch“ meint, daß Mead die bedeutungshaltigen Zeichen der Sprache (Symbole) in ihrer Universalität als Ausgangspunkt für ein gemeinsames Verständnis der Kulturen, Normen und Umgangsformen besonders hervorhob. „Interaktionismus“ bezieht sich auf das Postulat Meads, daß „Gesellschaft“ durch ständigen sozialen Austausch ihrer Mitglieder in Funktion ist und das Individuum, der einzelne Mensch, erst aus diesem Prozeß der Interaktion heraus zu begreifen sei. Das wichtigste Medium der Interaktion ist die Sprache. Sie vermittelt die Haltungen, Einstellungen, Normen, die das Verhalten des Individuums wie die Gesellschaft insgesamt bestimmen.

Meads Vorstellungen von menschlicher Sozialisation und Kommunikation sind - in spezifischer, fortentwickelnder Weise - dem Behaviorismus, sehr viel mehr noch dem Pragmatismus, verpflichtet. Unverkennbar besteht eine Nähe des Pragmatismus zum Instrumentalismus und Utilitarismus.

Erläuterungen

Der Behaviorismus ist eine von John B. Watson (1913) begründete psychologische Richtung, die nur das durch objektive Beobachtung und Messung erfaßbare Verhalten als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis zuließ. Insbesondere das Lernen nach dem Reiz-/Reaktionsprinzip (Stimulus-Response) wurde ein bevorzugtes Forschungsgebiet (Hauptvertreter: Thorndike; Tolman; Skinner).



Pragmatismus ist die von dem amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce begründete Erkenntnislehre, die das Erkennen von den Wirkungen des Erkenntnisgegenstandes her definiert. Wahrheit ist die Summe des jeweiligen Erkenntnisstandes, der durch den empirisch gewonnenen Erkenntnisfortschritt ständig fortschreitet. Durch William James und John Dewey wurde der Pragmatismus stark auf Aspekte der Nützlichkeit, der praktischen Bewährung und des Konsenses der Wissenschaftler bezogen: Wahr ist, was sich in der allgemeinen Lebenspraxis bewährt hat.

Utlilitarismus: Diese von Jeremy Bentham (1748-1832) begründete und von John Stuart Mill weiter entwickelte Lehre bezeichnet als höchstes moralisches Ziel, das größte Glück der größten Zahl von Individuen zu erreichen. Im Gegensatz zur Gesinnungsethik, die die Pflicht zum sittlichen Handeln als - jedem Handeln vorausgehendes - moralisches Gesetz definiert (Kant hat ein solches Gesetz im „kategorischen Imperativ“ formuliert), vertritt der Utilitarismus eine konsequentialistische Ethik: Sie sucht ihre Rechtfertigung ausschließlich aus dem sich ergebenden Nutzen, den guten Konsequenzen des Handelns. Es kommt dabei weniger auf die Motive und Gesinnung des Handelnden, als auf die praktischen Folgen seines Handelns an. Finden Werte nicht an sich Anerkennung, sondern nur dann, wenn sie in den Dienst des nützlichen Handelns gestellt werden, erfahren sie eine Instrumentalisierung. Ob alle Werte dem Nützlichkeitsdenken unterstellt werden sollen, ist strittig.

In Meads Darstellung tauchen bestimmte Termini auf, die man zum Verständnis seiner Theorie als Schlüsselbegriffe betrachten muß:



  • die vokale Geste,

  • signifikante Symbole,

  • die Rollenübernahme (role-taking),

  • der/das generalisierte Andere (the generalized other),

  • das „ICH“ und das „Ich“ („me“ and „I“).

Vokale Geste und signifikante Symbole: Bedeutsam für Mead ist der Begriff „Geste“, der gleichsam das Grundelement sozialer Interaktion darstellt. Vokale Gesten (gesprochene Worte) bezeichnete er als signifikante Symbole. Mead erkannte, daß die Sprache grundlegende Bedeutung für die Vermittlung sozialer Standards besitzt und daß diese Standards durch die Sprache in der Kindheit vermittelt werden. Mead führt aus:

Das macht die vokale Geste so besonders wichtig: sie ist einer jener gesellschaftlichen Reize, der das sie gebrauchende Wesen auf die gleiche Weise beeinflußt, wie er es beeinflussen würde, wenn er von einem anderen Wesen käme. Das heißt, daß wir uns selbst sprechen hören können, wobei die Bedeutung des Gesagten für uns die gleiche ist wie für andere. (Mead 1995, S. 100)

Wir sehen uns mehr oder weniger unbewußt so, wie andere uns sehen. [...] Wir lösen ständig, insbesondere durch vokale Gesten, in uns selbst jene Reaktionen aus, die wir auch in anderen Personen auslösen, und nehmen damit die Haltungen anderer Personen in unser eigenes Verhalten herein. Die kritische Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der menschlichen Erfahrung liegt eben in der Tatsache, daß der Reiz so beschaffen ist, daß er sich auf das sprechende Individuum ebenso auswirkt wie auf andere. (ebenda, S. 108)

Damit wird deutlich, wie die in einer Gesellschaft oder Subkultur vorherrschenden sozialen Normen und Verhaltensregeln sich vor allem indirekt durch Übernahme der in der Sprache vorhandenen Standards auf den einzelnen übertragen, ohne daß dies im Alltag bewußt wird. Die Verhaltenserwartungen der Gesellschaft bzw. meiner Bezugsgruppe kann ich nur verstehen, wenn die Bedeutungen, die über symbolische Zeichen vermittelt werden, universell sind, also von allen verstanden werden.

Die Sprache ist ein solches universelles Zeichensystem, die nonverbalen Zeichen (Lächeln, Zähnefletschen, Weinen) sind es - offenbar weltweit - ebenso. Über die Interpretation von sprachlichen Symbolen (vokalen Gesten) wird unser Verhalten, unsere Kommunikation, weitgehend den vorherrschenden Standards der Gesellschaft angepaßt. Das bedeutet, daß auch das, was ich als meine ganz persönliche Kommunikationsform betrachte, gesellschaftlich gelernt ist.

Role-taking: Neben der Sprache mißt Mead der Nachahmung und dem Spiel (Rollenspiel = play) des Kindes besondere Bedeutung beim Erwerb von Verhaltensstandards bei. Im Rollenspiel übernimmt das Kind immer auch die Rolle anderer, d.h. es übt einerseits allgemein übliche Verhaltensstandards ein, wandelt sie aber nach den eigenen Erfordernissen ab. Vom Rollenspiel (role play) vollzieht Mead einen Schritt zum Wettkampf (game); hier muß man bereits die zu erwartenden Reaktionen von Gegnern vorausdenken. Mead versucht zu erklären, daß erst durch universale Rollenübernahme (role taking) Kommunikation möglich wird.

Das „verallgemeinerte Andere“ als Grundlage der Identitätsbildung: Im Zentrum der Theorie des Symbolischen Interaktionismus steht die Frage, wie die Identität des einzelnen Menschen entsteht. Mead sagt: durch die Gesellschaft. Der einzelne wird in seiner Persönlichkeit von früher Kindheit an durch jene Verhaltensstandards geformt, die in seiner Bezugsgruppe (Familie, Schule, Peergroup usw.), in summa: der Gesellschaft vorherrschen. Die Verhaltensnormen der Gesellschaft als Ganzes, die vom einzelnen unbewußt übernommen werden, nennt er „das verallgemeinerte Andere“ (generalized other). Unter kommunikationstheoretischem Aspekt ist hier an die Ausführungen im Einleitungsabschnitt zu erinnern: Bei dem Versuch, Meads Theorie angemessen darzustellen, werden gewisse Sprachbarrieren sichtbar: Es ist gar nicht so einfach, seine Terminologie verständlich ins Deutsche zu übersetzen.

Mead definiert: „Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann „der (das) verallgemeinerte Andere [generalized other] genannt werden“ (ebenda, S. 196).

Der Einzelne wird nicht nur durch die Gesellschaft geprägt wird, sondern auch durch das, was „man tut“ oder „nicht tut“. In allen sozialen Situationen ist das Individuum der ständigen Kontrolle durch die Gesellschaft ausgesetzt. Mead sagt:

In der Form des verallgemeinerten Anderen beeinflußt der gesellschaftliche Prozeß das Verhalten der ihn abwickelnden Individuen, das heißt, die Gemeinschaft übt die Kontrolle über das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder aus... (ebenda, S. 198)

Mead unterscheidet die Verhaltensnormen, die durch einzelne Personen in einem spezifischen Umkreis dem Kind nahegebracht werden (z.B. innerhalb der Familie) von den Verhaltensnormen der Gesellschaft insgesamt (letztere bezeichnet er als „generalized other“). Ausgehend von dieser Unterscheidung spricht er von zwei Entwicklungsstufen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß diese Unterscheidung nur idealtypisch zu verstehen ist, weil in der sozialen Wirklichkeit beide Aspekte miteinander eng verflochten sind. Mead führt aus:

Ich verwies bereits drauf, daß es bei der vollständigen Entwicklung der Identität zwei allgemeine Stadien gibt. Im ersten bildet sich die Identität des Einzelnen einfach durch eine Organisation der besonderen Haltungen der anderen ihm selbst gegenüber und zueinander in den spezifischen gesellschaftlichen Handlungen, an denen er mit diesen teilhat. Im zweiten Stadium dagegen wird die Identität des Einzelnen nicht nur durch eine Organisation dieser besonderen individuellen Haltungen gebildet, sondern auch durch eine Organisation der gesellschaftlichen Haltungen des verallgemeinerten Anderen oder der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer. (ebenda, S. 200)

Damit ist gesagt, daß unserer Verhalten im Alltag gesteuert wird durch ein Bewußtsein von dem, was andere - Kommunikationspartner - von uns erwarten. Das ist von Situation zu Situation verschieden, im privaten Bereich herrschen andere Normen als in der Öffentlichkeit, unter Freunden spricht man anders als zu Vorgesetzten.

Wir tragen in unserem Alltagsverhalten gleichsam immer mit uns den Spiegel gesellschaftlicher Verhaltensnormen, den wir in verschiedenen Situationen, in denen wir mit anderen kommunizieren, in der Regel auch beachten. Zu den erworbenen Verhaltensstandards gehört zum Beispiel das Wissen, daß man sich in der Öffentlichkeit nicht kratzt - zumal an einer Körperstelle, die zum Intimbereich gehört. Falls ich plötzlich einem unwiderstehlichen Juckreiz verspüre, werde ich versuchen, den Reiz zu ertragen. Wenn ich allein bin, würde ich mich vermutlich ohne weiteres gekratzt haben. Wir stehen also in unserem Handeln und unseren Kommunikationsweisen beständig unter der Kontrolle unseres Bewußtseins; oder zumindest eines wichtigen Bestandteil unseres Bewußtseins, des „ICH“ (siehe unten).

Die gesellschaftlichen Erwartungen des Alltagsverhaltens - das „was man tut“-, sind nicht nur ein Spiegel in mir, sondern ein solcher Spiegel prägt ebenso das Bewußtsein meiner Kommunikationspartner. Der Kommunikationsprozeß zwischen zwei Personen wird also immer begleitet von der doppelten (= wechselseitigen) Spiegelung der Verhaltenserwartungen. „Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß...“

Das „ICH“ [„Me“] und das „Ich“ [„I“] als die beiden Dimensionen der Identität [des „Self“]: Versuchen wir zunächst, uns über den Begriff der Identität Klarheit zu verschaffen.

def. Identität ist die Einheit meiner selbst, die ich als Selbstgewißheit in der Vergegenwärtigung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Strom des Erlebens als eine unteilbare Ganzheit meiner Person in jedem Augenblick unmittelbar erfahre und die mir die Sicherheit gibt, in der sozialen Umwelt als Person aufzutreten, als Individuum wahrgenommen und akzeptiert zu werden

Identität ist nicht ein "starrer Kern" der Persönlichkeit, sondern ein dynamisches Agieren zweier miteinander verschränkter Momente, die meine Identität in einem Gleichgewicht gegenüber meiner sozialen Mitwelt halten (Identitätsbalance). Diese beiden Pole der Ich-Entwicklung bestehen einerseits in den Erwartungen der Umwelt (der Gesellschaft), denen ich mich anpasse, andererseits in meinen eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen, an die sich gegebenenfalls meine soziale Umwelt anzupassen hat. Beide Aspekte bilden in mir eine Balance, die Identitätsbalance. Der Symbolische Interaktionismus erklärt die Genese und die Funktion dieser Identitätsbalance, betont allerdings - das sei vorweg schon gesagt - sehr viel mehr die Bedeutung des gesellschaftlichen Anteils an diesem Prozeß als die Bedeutung des individuellen Anteils. Im Rahmen einer soziologischen Theorie ist dies auch nicht verwunderlich.

Mead sieht das Individuum in der Weise von gesellschaftlichen Normen und Verhaltenserwartungen geprägt, daß das Bündel dieser Verhaltenserwartungen ( = das generalisierte Andere) den wesentlichen Teil der Identität des einzelnen bestimmt. Diesen Teil des Ich (des Selbst, des Persönlichkeitskerns) nennt er „Me“. In der deutschen Übersetzung von „Mind, Self and Society“ wurde dafür die Schreibweise „ICH“ gewählt.

Davon zu unterscheiden ist gleichsam der andere Teil der Identität, den Mead „I“ nennt. In der deutschen Übersetzung wurde dafür die Bezeichnung „Ich“ gewählt. Wieder taucht ein sprachliches Übersetzungsproblem auf: In der deutschen Sprache können das englische „Me“ und „I“ nicht - wie etwa auch im Französischen je und moi - als zwei differente Termini ausgedrückt werden, beides heißt „ich“. Die Unterscheidung von „ICH“ und „Ich“ existiert nur in der Schriftsprache; in der mündlichen Kommunikation sollte man am besten die englischen Termini „Me“ und „I“ benutzen.

Es bleibt die Frage: Wie definiert Mead das „Ich“ („I“), wenn er dem gesellschaftlich vermittelten Teil der Identität, dem „ICH“ („Me“) eine so große Bedeutung zuweist? Mead trifft hier die folgenden Aussagen:

Das „Ich“ ist die Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer; das „ICH“ ist die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt. Die Haltungen der anderen bilden das organisierte „ICH“, und man reagiert darauf als ein „Ich“. (ebenda, S. 218)

Diese Definition macht deutlich, daß Mead das „Ich“ weitgehend reaktiv einschätzt: Es existiert, indem es auf das „ICH“ reagiert. Wenn Identität als Ergebnis eines gesellschaftlichen Formungsprozesses angesehen wird - in diesem Sinne wird heute von Sozialisation gesprochen -, ist dies auch einsichtig. Darüber hinaus behauptet Mead, daß das „Ich“ im Grunde in der unmittelbaren Gegenwart meines Handelns für mich gar nicht faßbar, erfahrbar ist. Erfahrbar ist nur das „ICH“, während das „Ich“ im Hintergrund meiner Selbst verbleibt.

Doch wie macht sich ein vom „ICH“ differenter Teil unseres Selbst dann überhaupt noch bemerkbar?

Erst in der Erinnerung als Teil von abgelegter Erfahrung, als „Reaktion“ meiner selbst auf die Einflüsse der Umwelt (wie vokale Gesten und andere Reize), wird mein „Ich“ für mich erfahrbar. Mead deutet an (der Sachverhalt ist nicht allzu ausführlich beschrieben),


  • daß das „Ich“ reagiert, indem es einmal durch Hereinnahme von Anteilen des „ICH“ sich ständig verändert. Der Prozeß der Erfahrung ist nichts anderes als ein beständiger Umwandlungsprozeß von „ICH“ zu „Ich“;

  • daß das „Ich“ seinerseits zurückwirkt auf das „ICH“ und darüber hinaus auf die soziale Umwelt, indem es neue Impulse setzt.

Mead sagt:

Das „Ich“ tritt nicht in das Rampenlicht; wir sprechen zu uns selbst, aber wir sehen uns nicht selbst (ebenda, S. 217).

Das „Ich“ ist die Reaktion des Einzelnen auf die Haltung der Gemeinschaft so wie diese in seiner Erfahrung aufscheint. Seine Reaktion auf diese organisierte Haltung ändert wiederum diese. (ebenda, S. 240)

Wie wir gezeigt haben, ist diese Veränderung in seiner eigenen Erfahrung erst dann präsent, wenn sie tatsächlich stattgefunden hat. Das „Ich“ erscheint in unserer Erfahrung, indem wir uns daran erinnern. Erst wenn wir gehandelt haben, wissen wir, was wir getan haben... Die Anpassung an diese organisierte Welt, die in unserer eigenen Natur präsent ist, stellt das „ICH“ dar und ist ständig gegeben. Wenn aber die Reaktion darauf aus der Übermittlung von Gesten besteht, wenn sie eine Situation schafft, die irgendwie neuartig ist, wenn man seine eigenen Ansichten hervorbringt, sich gegenüber den anderen behauptet und darauf besteht, daß jene der eigenen Person gegenüber eine andere Haltung einnehmen, dann läuft ein Prozeß ab, der vorher in der Erfahrung nicht gegeben war. (ebenda, S. 218)

Eine solche neuartige Antwort auf die gesellschaftliche Situation innerhalb einer organisierten Gruppe von Haltungen macht im Unterschied zum „ICH“ das „Ich“ aus. (ebenda, S. 241)

Beide Ichs, das gesellschaftliche Ich (ICH/Me) und das individuumzentrierte Ich (Ich/I) bilden in ihrem wechselseitigen Bezug die Identität. Der Prozeß der Identitätsbildung vollzieht sich in einer Kettenreaktion der ständigen Austarierung des Gleichgewichts zwischen diesen beiden Polen des Selbst. Von beiden Seiten werden sowohl Impulse als auch Anpassungszwänge ausgelöst.


2.1.3 Kritik - Schlußfolgerungen für eine Theorie der Kommunikation


Mit den beiden Polen der Identität „ICH“ und „Ich“ - im Sinne des Symbolischen Interaktionismus - sind zwei Dimensionen der Persönlichkeit benannt, die man auch in anderen Theorien - Persönlichkeitstheorien - in abgewandelter Form wiederfindet. Wir nehmen die Erwartungen der Umwelt in uns auf, sind ein Teil der sozialen Welt, der Gesellschaft. Gleichzeitig stehen wir ihr gegenüber, repräsentieren unsere eigenen Bedürfnisse, Vorstellungen, Interessen und versuchen, sie in der sozialen Umwelt zu realisieren. Den letztgenannten Aspekt, daß das Individuum von sich aus, spontan, Einfluß auf die Gruppe nimmt, hat Mead weitgehend vernachlässigt. Dieser Aspekt ist in seiner Theorie unterbewertet. Nicht nur, weil er sein Augenmerk auf die Gesellschaft bzw. die Gemeinschaft (community) richtet, sondern weil seine Theorie durch die Begrifflichkeit des Behaviorismus geprägt ist, der das Individuum (den „Organismus“) im wesentlichen nur als reagierend auf Reize (bei Mead: „Gesten“, gesellschaftliche Einflüsse) im Sinne der sogenannten Stimulus-Response-Theorie (S-R-Theorie) beschreibt. Daß Mead durch Postulierung eines „Selbst“ über die behavioristische Position (die nur durch exakte Beobachtung Daten gewinnt) in seiner Theorie weit hinausgeht, spielt für diesen Sachverhalt keine Rolle.

In der Beschreibung der Funktion des „Ich“ bleibt Meads Theorie schwach. Mead kennt - typisch für behavioristisches Denken - keine Spontaneität. Er räumt zwar ein, daß auch das Ich „neuartige Reaktionen“ hervorbringt, aber im Grunde bleibt dieser Aspekt im dunkeln. Plötzlich auftretende gesellschaftlichen Veränderungen, neue kulturelle Strömungen, man denke an Jugendmoden, Musikkultur u.ä., können mit dieser Theorie immer nur unter dem Aspekt von Anpassung, nicht unter dem Aspekt der Produktion von Neuem, erklärt werden. Kritisches Denken, das gerade bestimmte gesellschaftliche Verhaltensmechanismen und Anpassungszwänge in Frage stellen will, ist aus diesem Ansatz nicht abzuleiten (Allerdings: Es muß auch nicht jede Gesellschaftstheorie „kritisch“ sein!).



Was bleibt für eine Theorie der Kommunikation?

  1. Mead hat darauf aufmerksam gemacht, daß Alltagsverhalten und Kommunikation sich im Rahmen von allgemeinen und wechselseitig (im Sinne einer doppelten Spiegelung) vorhandenen Verhal-tenserwartungen vollziehen, deren Erwerb sich in der Kindheit über Sprache und Spiel vollzieht. Der Begriff des „generalisiertem Anderen“ ist als Inbegriff der gesellschaftlichen Normen, die wir internalisiert haben, ein Indiz für die Abhängigkeit der Alltagskommunikation von einem allgemeinen Rahmen erwarteten Verhaltens, der den Kommunikanten weitgehend unbewußt bleibt.

  2. Die Identitätsbalance ist sowohl im Falle zu großer sozialer Anpassung als auch im Falle zu großer Egozentrik gefährdet: Der Weg, den sich das Selbst bahnt, liegt irgendwo in der Mitte. Das Spektrum möglicher Identitätsbalancen weist von Individuum zu Individuum innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Bezugsgruppen und Situationen eine große Vielfalt aus. Dem persönlichkeitsbezogenen Anteil („Ich“) gegenüber dem gesellschaftsbezogenen Anteil („ICH“) der Identität müßte in jedem Falle eine stärkere Position eingeräumt werden, als Mead dies vorgab.

2.1.4 Originaltexte


Der folgende Textauszug gibt die wichtigsten Ausführungen Meads zur Entstehung des „Selbst“, des Kerns der Persönlichkeit, wieder

Aus: George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1968

Seite 108: Wir sehen uns mehr oder weniger unbewußt so, wie andere uns sehen. Wir wenden uns unbewußt so an uns, wie sich andere an uns wenden; ebenso wie der Spatz den Ton des Kanarienvogels aufnimmt, passen wir uns den uns umgebenden Dialekten an. Natürlich müssen diese spezifischen Reaktionen in unserem Mechanismus gegenwärtig sein. Wir lösen in der anderen Person das gleiche aus wie in uns selbst, so daß wir unbewußt die Haltungen übernehmen. Wir versetzen uns unbewußt in die Rolle anderer und handeln so wie sie. Ich möchte hier nur den allgemeinen Mechanismus herausarbeiten, weil er für die Entwicklung von Bewußtsein und Identität von äußerst fundamentaler Bedeutung ist. Wir lösen ständig, insbesondere durch vokale Gesten, in uns selbst jene Reaktionen aus, die wir auch in anderen Personen auslösen, und nehmen damit die Haltungen anderer Personen in unser eigenes Verhalten herein. Die kritische Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der menschlichen Erfahrung liegt eben in der Tatsache, daß der Reiz so beschaffen ist, daß er sich auf das sprechende Individuum ebenso auswirkt wie auf andere. ...

Seite 118 f.: Die Reaktion eines Organismus auf die Geste eines anderen in der jeweiligen gesellschaftlichen Handlung macht den Sinn dieser Geste aus und ist gewissermaßen auch für das Auftreten des neuen Objektes - oder des neuen Inhalts eines alten Objektes - verantwortlich, auf das diese Geste hinweist durch das Ergebnis der jeweiligen gesellschaftlichen Handlung, deren Anfangsphase sie ist. Um es noch einmal zu sagen: Objekte werden im wahrsten Sinne des Wortes innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungsprozesses geschaffen, durch Kommunikation und gegenseitige Anpassung des Verhaltens einzelner Organismen, die in diesem Prozeß eingeschaltet sind und ihn ablaufen lassen. Genauso wie beim Fechten die Parade eine Interpretation des Angriffes ist, ist in der gesellschaftlichen Handlung die anpassende Reaktion eines Organismus auf die Geste eines anderen die Interpretation dieser Geste durch eben diesen Organismus - sie macht den Sinn dieser Geste aus.

Auf der Stufe des Bewußtseins wird eine solche Geste zum Symbol, zum signifikanten Symbol. Aber die Interpretation von Gesten ist im Grunde kein Prozeß, der im Denken als solchem abläuft oder notwendigerweise Geist voraussetzt. Sie ist ein äußerlicher und objektiv gegebener physischer oder physiologischer Prozeß, der im realen gesellschaftlichen Erfahrungsbereich abläuft. Sinn kann durch Symbole oder Sprache in ihrem höchsten und kompliziertesten Entwicklungsstadium (dem Stadium, das sie in der menschlichen Erfahrung erreicht) beschrieben, erwogen oder erklärt werden, doch greift die Sprache aus dem gesellschaftlichen Prozeß nur eine Situation heraus, die logisch oder implizit bereits vorhanden ist. Das Sprachsymbol ist einfach eine signifikante oder bewußte Geste.

Hier sind zwei wichtige Punkte zu beachten: 1. der gesellschaftliche Prozeß ermöglicht durch die Kommunikation, die er zwischen den betroffenen Individuen herstellt, das Auftreten vieler neuer Objekte in der Natur, die in Beziehung zu ihm existieren (Objekte des gesunden Menschenverstandes); 2. die Geste eines Organismus und die anpassende Reaktion eines anderen Organismus bringen innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Handlung die Beziehung hervor, die zwischen der Geste als dem Beginn dieser Handlung und der Vollendung oder der Resultate dieser Handlung besteht, auf die sich die Geste bezieht. Das sind die beiden grundlegenden und einander ergänzenden logischen Aspekte des gesellschaftlichen Prozesses. ...

S. 129 ff.: Der Sinn an sich, d. h. der Gegenstand des Denkens, entsteht in der Erfahrung dadurch, daß sich der Einzelne dazu anregt, die Haltung des anderen in seiner Reaktion auf das Objekt zu übernehmen. Sinn ist da, was anderen aufgezeigt werden kann, während es durch den gleichen Prozeß auch dem aufzeigenden Individuum aufgezeigt wird. Insoweit der Einzelne ihn sich selbst in der Rolle des anderen aufzeigt, macht er sich dessen Perspektive zu eigen, und da er ihn dem anderen aus seiner eigenen Perspektive aufzeigt, das Aufgezeigte also identisch ist, muß es in verschiedenen Perspektiven auftreten können. Es muß somit universal sein, zumindest in der Gleichartigkeit, die zu den verschiedenen Perspektiven gehört, die in der einzelnen Perspektive organisiert sind; und insoweit das Organisationsprinzip andere Perspektiven als die tatsächlich vorhandenen zuläßt, kann die Universalität logisch unendlich ausgedehnt werden. Die Universalität im Verhalten erstreckt sich jedoch nur auf die Irrelevanz der Unterschiede zwischen den verschiedenen Perspektiven für die Merkmale, die durch die verwendeten signifikanten Symbole aufgezeigt werden, d. h. die Gesten, die dem sie verwendenden Individuum das gleiche aufzeigen wie anderen, denen sie als passende Reize im kooperativen Prozeß dienen.

Die signifikanten Gesten oder Symbole setzen für ihre Signifikanz immer den gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß voraus, innerhalb dessen sie sich entwickeln. Der Logiker würde sagen, daß ein logisches Universum immer als der Kontext verstanden wird, in dem signifikante Gesten oder Symbole tatsächlich Signifikanz haben. Dieses logische Universum wird aus einer Gruppe von Individuen gebildet, die an einem gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß teilnehmen, indem diese Gesten oder Symbole für alle Mitglieder dieser Gruppe den gleichen oder einen allen gemeinsamen Sinn haben, ob sie sie nun setzen und an anderen Individuen richten, oder ob sie sichtbar auf sie reagieren, wenn sie von anderen Individuen gesetzt wurden. Ein logisches Universum ist einfach ein System gemeinsamer oder gesellschaftlicher Bedeutungen.

Gerade die Universalität und das unpersönliche Wesen des Denkens und der Vernunft ist, aus behavioristischer Sicht, das Ergebnis der Tatsache, daß das jeweilige Individuum die Haltung anderer sich selbst gegenüber übernimmt und daß es schließlich alle diese Haltungen zu einer einzigen Haltung oder einer einzigen Position kristallisiert, die als die des „verallgemeinerten Anderen“ bezeichnet werden kann. ...

Die Organisation der Identität ist einfach die Organisation einer Reihe von Haltungen des individuellen Organismus gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt oder als einem funktionierenden Element im gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß, der diese Umwelt ausmacht. Entscheidend ist, daß diese reflektive Intelligenz vom Standpunkt des gesellschaftlichen Behaviorismus aus behandelt wird. ...



Seite 216-221: Wir haben ausführlich die gesellschaftlichen Grundlagen der Identität diskutiert und dabei angedeutet, daß die Identität nicht nur in der Organisation gesellschaftlicher Haltungen existiert. Wir können nun direkt die Frage anschneiden, wie das "Ich" beschaffen ist, das sich eines gesellschaftlichen "ICH" bewußt ist. Ich möchte hier nicht die metaphysische Frage anschneiden, wie eine Person sowohl ein "Ich" als auch ein "ICH" sein kann, sondern nach der Bedeutung dieser Unterscheidung vom Standpunkt des Verhaltens aus fragen. Wo tritt im Verhalten das "Ich" im Gegensatz zum "ICH" auf? Wenn jemand seine Position in einer Gesellschaft bestimmt und gewisse Funktionen und Privilegien zu haben glaubt, so werden diese alle im Hinblick auf ein "Ich" definiert, doch ist ein "Ich" kein "ICH" und kann auch zu keinem werden. Wir können positivere und negativere Züge haben, doch liegt auch hier wiederum nicht der Unterschied zwischen "Ich" und "ICH" begründet, weil sie beide Teile der Identität sind. Wir stimmen dem einen Teil zu und lehnen den anderen ab, doch wenn wir den einen oder den anderen hervorheben, betrachten wir jeden als ein "ICH". Das "Ich" tritt nicht in das Rampenlicht; wir sprechen zu uns selbst, aber wir sehen uns nicht selbst. Das "Ich" reagiert auf die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen, führen wir das "ICH" ein und reagieren darauf als ein "Ich".

Am einfachsten kann man dieses Problem in Verbindung mit dem Erinnerungsvermögen erfassen. Ich spreche zu mir selbst und erinnere mich an meine Worte und vielleicht auch an den damit verbundenen emotionellen Inhalt. Das "Ich" dieses Moments ist im "ICH" des nächsten Moments präsent. Auch hier wieder kann ich mich nicht schnell genug umdrehen, um mich noch selbst zu erfassen. Ich werde insofern zu einem "ICH", als ich mich an meine Worte erinnere. Das "Ich", diese funktionale Beziehung, kann aber gegeben sein. Auf das "Ich" ist es zurückzuführen, daß wir uns niemals ganz unserer selbst bewußt sind, daß wir uns durch unsere eigenen Aktionen überraschen. Nur während wir handeln, sind wir uns unserer selbst bewußt. In der Erinnerung dagegen ist das "Ich" ständig in unserer Erfahrung präsent. Wir können direkt nur auf die letzten Erfahrungsmomente zurückgreifen, dann sind wir von Vorstellungen der Erinnerung abhängig. Somit ist das "Ich" der Erinnerung der Sprecher für die Identität, wie sie vor einer Sekunde, einer Minute oder einem Tag existierte. Als einmal gegebene, ist sie ein "ICH", aber ein "ICH", das früher einmal ein "Ich" war. Wenn man also fragt, wo das "Ich" in der eigenen Erfahrung direkt auftritt, lautet die Antwort: als historische Figur. Was man eine Sekunde vorher war, das ist das "Ich" des "ICH". Es ist ein anderes "ICH", das diese Rolle übernehmen muß. Man kann die unmittelbare Reaktion des "Ich" nicht in den Prozeß hereinbekommen. Das "Ich" ist in gewissem Sinne das, womit wir uns identifizieren; es in unsere Erfahrung hereinzubekommen, ist eines der Probleme fast unserer ganzen bewußten Erfahrung; es ist in der Erfahrung nicht direkt gegeben.

Das "Ich" ist die Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer; das "ICH" ist die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt. Die Haltungen der anderen bilden das organisierte "ICH", und man reagiert darauf als ein "Ich". Diese Begriffe gilt es nun genauer zu untersuchen.

Bei der Übermittlung von Gesten gibt es weder ein "Ich" noch ein "ICH"; die Handlung ist noch nicht vollzogen, doch findet die Vorbereitung in diesem Bereich der Geste statt. Insofern nun der Einzelne in sich die Haltungen der anderen auslöst, entwickelt sich eine organisierte Gruppe von Reaktionen. Und nur dank der Fähigkeit des Einzelnen, diese Haltungen der anderen einzunehmen, soweit sie organisierbar sind, wird er sich einer Identität bewußt. Die Übernahme aller dieser organisierten Haltungen gibt ihm sein "ICH", das heißt die Identität, deren er sich bewußt wird. Er kann den Ball einem anderen Spieler zuwerfen, wenn andere Mitglieder der Mannschaft dies von ihm fordern. Diese Identität existiert in seinem Bewußtsein unmittelbar für ihn. Er hat ihre Haltungen in sich, weiß über ihre Wünsche und über die Folgen jeder seiner Handlungen Bescheid. Er hat die Verantwortung für die Situation übernommen. Die Existenz dieser organisierten Gruppen von Haltungen ist es nun, die das "ICH" ausmacht, auf das er als ein "Ich" reagiert. Wie aber diese Reaktion beschaffen sein wird, weiß er nicht und auch kein anderer. Vielleicht wird er gut spielen, vielleicht einen Fehler begehen. Die Reaktion auf diese Situation, so wie sie in seiner unmittelbaren Erfahrung aufscheint, ist unbestimmt - und das macht das "Ich" aus.

Das "Ich" ist seine Aktion gegenüber dieser gesellschaftlichen Situation innerhalb seines eigenen Verhaltens, und es tritt in seine Erfahrung erst ein, nachdem die Handlung verwirklicht wurde. Dann ist er sich ihrer bewußt. Das mußte er tun, und er tat es. Er erfüllt seine Pflicht und kann stolz sein auf den Wurf. Das "ICH" tritt auf, um diese Pflicht zu erfüllen - so tritt es in seiner Erfahrung auf. Er hatte in sich alle Haltungen der anderen, die nach einer bestimmten Reaktion verlangten; das war das "ICH" dieser Situation, seine Reaktion aber ist das "Ich".

Ich möchte besonders darauf hinweisen, daß diese Reaktion des "Ich" mehr oder weniger unbestimmt ist. Die Haltungen der anderen, die man selbst einnimmt und die das eigene Verhalten beeinflussen, bilden das "ICH". Das "ICH" ist gegeben, die Reaktion darauf aber ist noch nicht gegeben. Wenn jemand sich niedersetzt, um etwas zu überdenken, verfügt er über bestimmte bereits gegebene Daten. Nehmen wir an, daß es sich um eine gesellschaftliche Situation handelt, die er zu bewältigen hat. Er sieht sich selbst vom Standpunkt des einen oder anderen Mitglieds der Gruppe aus. Diese miteinander verknüpften Mitglieder geben ihm eine bestimmte Identität. Was wird er also tun? Er weiß es selbst nicht, kein anderer weiß es. Er kann die Situation in die eigene Erfahrung hereinbringen, weil er die Haltungen der verschiedenen betroffenen Individuen einnehmen kann. Er weiß, wie sie darüber denken, indem er ihre Haltungen einnimmt. Er sagt sich etwa: ich habe gewisse Dinge getan, die MICH anscheinend auf eine bestimmte Verhaltensweise festlegen. Wenn er derart handelt, wird er sich vielleicht innerhalb einer anderen Gruppe in eine falsche Position manövrieren. Das "Ich", als eine Reaktion auf diese Situation, ist unbestimmt im Gegensatz zum "ICH", das in den eingenommenen Haltungen gründet. Wenn die Reaktion dann abläuft, erscheint sie im Erfahrungsbereich hauptsächlich als ein Bild der Erinnerung.

Unsere zeitliche Gegenwart ist sehr kurz. Und doch erfahren wir vorübergehende Ereignisse. Ein Teil dieses Ablaufs von Ereignissen ist in unserer Erfahrung unmittelbar gegeben, einschließlich einiger Ereignisse der Vergangenheit und der Zukunft. Wir sehen einen vorüberfliegenden Ball und erfassen ihn dabei teilweise. Wir erinnern uns daran, wo der Ball einen Moment sein wird. Das gilt auch für uns selbst. Wir tun etwas, doch setzt der Rückblick auf unsere Tätigkeit das Auftreten von Bildern der Erinnerung voraus. Somit tritt das "Ich" tatsächlich erfahrungsgemäß als Teil eines "ICH" auf. Doch auf der Grundlage dieser Erfahrung unterscheiden wir das handelnde Individuum vom "ICH", das ihm ein Problem stellt. Die Reaktion tritt in die Erfahrung nur ein, wenn sie tatsächlich abläuft. Selbst wenn man sagt, man wisse, was man im nächsten Moment tun werde, kann man sich täuschen. Man beginnt mit einer Tätigkeit, doch kommt irgend etwas dazwischen. Die sich daraus ergebende Handlung ist immer ein wenig verschieden von dem, was man voraussehen konnte. Das gilt sogar für das ganz einfache Gehen. Gerade die Tatsache, daß man die erwarteten Schritte macht, versetzt einen in eine bestimmte Situation, die ein bißchen anders als das Erwartete, die in gewissem Sinn neuartig ist. Diese Bewegung in die Zukunft ist sozusagen der Schritt des "Ich", sie ist im "ICH" nicht präsent. ...

Die Handlung des "Ich" ist etwas, dessen Natur wir im vorhinein nicht bestimmen können.

Das "Ich", in dieser Beziehung zwischen "Ich" und "ICH", ist also etwas, das sozusagen auf eine gesellschaftliche Situation reagiert, die innerhalb der Erfahrung des Einzelnen liegt. Es ist die Antwort des Einzelnen auf die Haltung der anderen ihm gegenüber, wenn er eine Haltung ihnen gegenüber einnimmt. Nun sind wir zwar die von ihm ihnen gegenüber eingenommenen Haltungen in seiner eigenen Erfahrung präsent, doch wird seine Reaktion ein neues Element enthalten. Das "Ich" liefert das Gefühl der Freiheit, der Initiative. Die Situation ist nun gegeben, damit wir selbst-bewußt handeln können. Wie wir aber handeln werden, tritt erst nach Ablauf dieser Handlung in unsere Erfahrung ein.

So erklärt sich die Tatsache, daß das "Ich" in der Erfahrung nicht ebenso wie das "ICH" auftritt. Das "ICH" steht für eine bestimmte Organisation der Gemeinschaft, die in unseren Haltungen präsent ist, und verlangt nach einer Reaktion, aber die Reaktion selbst läuft einfach ab. Im Hinblick auf sie ist nichts sicher. Es besteht zwar eine moralische, nicht aber eine mechanische Notwendigkeit, eine bestimmte Handlung zu setzen. Erst wenn sie abgelaufen ist, erkennen wir, was tatsächlich geschah. Die obige Darstellung gibt uns meiner Meinung nach die jeweiligen Positionen von "Ich" und "ICH" in der jeweiligen Situation sowie die Gründe für die Trennung dieser beiden im Verhalten. Beide sind im Prozeß getrennt, gehören aber so wie Teile eines Ganzen zusammen. Sie sind getrennt und gehören doch zusammen. Die Trennung von "Ich" und "ICH" ist keine Fiktion. Sie sind nicht identisch, da das "Ich" niemals ganz berechenbar ist. Das "ICH" verlangt nach einem bestimmten "Ich", insoweit wir die Verpflichtungen erfüllen, die im Verhalten selbst auftreten, doch ist das "Ich" immer ein wenig verschieden von dem, was die Situation selbst verlangt. So gibt es also immer den Unterschied zwischen "Ich" und "ICH". Das "Ich" ruft das "ICH" nicht nur hervor, es reagiert auch darauf. Zusammen bilden sie eine Persönlichkeit, wie sie in der gesellschaftlichen Erfahrung erscheint. Die Identität ist im wesentlichen ein gesellschaftlicher Prozeß, der aus diesen beiden unterscheidbaren Phasen besteht. Gäbe es diese beiden Phasen nicht, so gäbe es keine bewußte Verantwortung und auch keine neuen Erfahrungen.



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