OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
vorgängige „körperliche“ Züchtigung.
141
Verbannung und körperliche Bestrafung
(teles
noe nakazanie) gehörten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland zusammen;
die Verschickung nach Sibirien, das sich durch die Eroberung und allmähliche Erschlie
ßung als Deportationsort – als „andere Welt“ – anbot, bedeutete stets eine Ergänzung zu
einer Prügelstrafe. Überdies wurden Sträflinge je nach Grad ihres Verbrechens im Ge
sicht verstümmelt und, bis 1863, gebrandmarkt.
142
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
fand schrittweise eine Reduzierung der Körperstrafen statt. 1785 war der Adel von ih
nen ausgenommen worden, und unter Alexander I. wurden die Folter und die grausams
ten Praktiken der körperlichen Eingriffe abgeschafft. Das war auch dem Blick nach dem
westlichen Europa geschuldet, wo im Zuge der Aufklärung und des aufkommenden Li
beralismus das Strafwesen rationalere und vordergründig weniger körperhafte Züge an
zunehmen begonnen hatte.
143
Die „milderen“ Formen der Prügelstrafe blieben in Russ
land aber erlaubt, und mit dem Verbannungssystem stand in Russland bis 1917 eine
Form der Bestrafung im Zentrum des Strafsystems, die im europäischen Vergleich
längst zum Auslaufmodell geworden war und selbst stark körperhafte Züge trug.
144
Wichtige Reformen des Verbannungssystems hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der
1819 von Zar Alexander I. zum Generalgouverneur für Sibirien ernannten Michail M.
Speranskij vorgenommen. Er schuf 1822 ein Regelwerk für das Verbannungssystem
(ustav o ssyl’nych), in dem vor allem die Aufteilung des
Weges an die Verbannungsorte,
aber auch die Arbeitsleistungen und die Organisation der Haft festgelegt wurden.
145
Die
Verbannung wurde zwar auch im spätzarischen Russland als überholte Strafform wahr
genommen, aber die Abschaffungsversuche blieben erfolglos und die wiederkehrenden
Reformbemühungen ohne Durchschlagskraft.
146
Das System passte in das „Macht und
Ohnmacht“-Schema der Zeit: Die Effizienz war gering, die Willkür und die daraus re
sultierende Macht bedeutend größer.
Dieser Umstand war auch in der komplizierten Struktur des Verbannungswesens mit
seinen zahlreichen Spielarten begründet und darin, dass dieses im Laufe des 19. Jahr
hunderts immer größere Dimensionen annahm.
147
Im Strafgesetzbuch von 1845 wurde
die Unterscheidung in „Besserungs-“ und „Erziehungsstrafen“ vorgenommen. Erstere
141 Vgl. W
OOD
Crime, S. 218–220, G
ENTES
Siberian Exile, S. 205, und S
CHRADER
Branding the Exile, S.
19f.
142 W
OOD
Crime, S. 220.
Bedeutsam war 1845 die Abschaffung der Knutenstrafe; die Knute
(knut) be
stand aus einem schneidend harten Lederriemen, der die Haut bis auf die Knochen aufriss. Als Ersatz
dienten die „mildere“
plet’ genannte
Peitsche mit drei kleinen,
in Knoten auslaufenden Enden,
und die
rozga, eine (Birken-)Rute. Offiziell abgeschafft wurde die Prügelstrafe erst 1893, aber bis zuletzt
noch angewandt. Bei W
OOD
Crime, S. 224, heißt es, die Rute sei 1871 abgeschafft worden, während
die
plet’ noch weiterbestanden habe. Allerdings ist in den Quellen aus der Zeit danach oft von der
rozga die Rede.
Vgl. auch K
ODAN
Katorga, S. 529f.
143 W
OOD
Crime, S. 221f. Für die westeuropäische Entwicklung vgl. F
OUCAULT
Überwachen, S. 16–34.
144 Vgl. R
ABE
Widerspruch, S. 32, zum Vergleich mit Westeuropa.
145 Vgl. D
ALY
Punishment, S. 341, S
CHRADER
Languages, S. 82, K
ODAN
Katorga, S. 530, T
HOMAS
Ge
schichte, S. 73, W
OOD
Crime, S. 222–224, W
OOD
Introduction, S. 9f., und S
EROŠEVSKIJ
Ssylka i kat
orga, S. 209f. S
CHRADER
Languages, S. 103, merkt an, dass die Reformen zu Beginn des 19. Jahr
hunderts das Strafwesen grundsätzlich zwar leicht entschärft hätten, dass aber innerhalb des Ver
bannungssystems die Strafhärte zugenommen habe.
146 Zur Diskussion um das Verbannungssystem vgl.
die Kurzübersicht bei D
ALY
Punishment, S. 356.
147 Vgl. W
OOD
Crime, S. 225.
36
3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem
umfassten die schwereren, letztere die leichteren Vergehen, für beide Formen konnten
Verbannungsstrafen verhängt werden. Die Spitze der Besserungsstrafen führte die Kat
orga als Verbannung zu Zwangsarbeit an, gefolgt von lebenslänglicher Ansiedlung
(ssylka na poselenie) und Ansetzung
(ssylka na vodvorenie) bzw., speziell für religiöse
Vergehen, Verbannung in den Transkaukasus.
148
Verbannung
zum Wohnen (na žit’e) mit
entsprechend kürzer bemessener Frist fiel in die Kategorie der Erziehungsstrafen. Die
Besserungsstrafen waren ausschließlich gerichtlicher Beurteilung vorbehalten; daneben
existierten der administrative Weg, der von behördlichen Instanzen ausging, und eine
gesellschaftliche Form, die Verbannung durch die Dorfgemeinde. Die Begleitung durch
die Familienangehörigen war erlaubt; allerdings durften diese bis zum Tod des Verur
teilten nicht vom Verbannungsort in die Heimat zurückkehren.
149
Auch die geographi
sche Komponente spielte hinein; unterschieden wurde zwischen Verbannung in entfern
tere (zunehmend der Osten Sibiriens, besonders Transbaikalien und Jakutien) und weni
ger entfernte Gebiete (Nordrussland, Uralgebiet, Westsibirien).
150
Die Kategorisierung
von 1845 war in der Folge mehrfachen Anpassungen unterworfen, im Zuge der Justizre
form 1864 und durch die Ausnahmegesetze, die Ende der 1870er Jahre während der
Phase des Terrors und dann verschärft nach dem Attentat auf Zar Alexander II. in Kraft
waren. Vor allem die administrative Verbannung erfuhr eine Aufwertung.
151
Einen Ein
schnitt stellte die gemeinhin als „Gesetz vom 12. Juni 1900“ bezeichnete Reform der
Verbannung dar, welche die gerichtliche und gesellschaftliche Ssylka für allgemeine
Straftatbestände (also nicht politische) sehr stark einschränkte.
152
Die Todesstrafe war
dagegen in Russland nur für ganz wenige Verbrechen vorgesehen, etwa Verschwörung
gegen den Staat oder Gewalt gegenüber dem Zaren.
153
Mörder und Räuber, denen in
Westeuropa die Kapitalstrafe drohte, wurden in die Verbannung geschickt; ab dem 18.
Jahrhundert etablierte sich die Zwangsarbeit als zweithöchste Strafe.
154
Zar Peter I. hatte als erster Zwangsarbeiter im Schiffsbau und bei der Erbauung St.
Petersburgs und Asovs eingesetzt; danach wurde der Begriff „Katorga“ gebräuchlich.
155
Bis 1845 wurde die Zwangsarbeit als Teil des Verbannungssystems in mehreren Schrit
ten systematisiert; die Häftlinge waren in der Bergwerksarbeit in Sibirien, aber auch in
der Festungs- und Fabrikarbeit eingesetzt. Mit der Erneuerung des Strafgesetzbuches
148 Vgl. das Strafgesetzbuch von 1845, 1. Abteilung, 2. Kapitel, Art. 21–24 (Uloženie, S. 177f.).
In der
Literatur zum Thema werden zum Teil verwirrende Aussagen gemacht, auf die hier detailliert einzu
gehen wenig Sinn hätte. Vgl. W
OOD
Crime, S. 222f., aber auch K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 27 und 31–
36, und D
ALY
Punishment, S. 342 und 352. K
ENNAN
Siberia I, S. 79,
führt
vier Kategorien an: Zwangs
arbeiter, Ansiedler, einfache Verbannte sowie Freiwillige (Angehörige von Verbannten).
149 Vgl. K
ODAN
Katorga, S. 529.
150 Vgl. das Strafgesetzbuch von 1845, 1. Abteilung, 2. Kapitel, Art. 35 (Uloženie, S. 180f.).
151 Vgl. bes. W
OOD
Crime, S. 223f., und K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 31f.
152 Zusammenfassung bei M
ARGOLIS
Sistema, S. 140. Vgl. R
ABE
Widerspruch, S. 50f., und W
OOD
Crime,
S. 233.
153 Vgl. D
ALY
Political Crime, S. 69. Oft wurden Todesurteile in eine lebenslange Katorga-Strafe umge
wandelt. Diese
smertniki (von russisch
smert’ – Tod) bildeten stets eine große Gruppe in der poli
tischen Katorga.
154 Vgl. dazu W
OOD
Crime, S. 220–222, und D
ALY
Punishment, S. 341–343. Verordnungen
(ukazy) von
1753 und 1754 verfügten für kriminelle Straftäter die Zwangsarbeit als Höchststrafe, vgl. K
ODAN
Kat
orga, S. 529.
155 Zur Etymologie der Bezeichnung „Katorga“ vgl. Fußnote 10.
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