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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
zen werden verschoben, Besitzverhältnisse ändern
sich. Die Kontrolle des Raums definiert, wer als
Sieger, wer als Verlierer aus der Schlacht hervor-
geht. Dies beginnt nicht erst mit der militärischen
Inbesitznahme, sondern schon vorab mit der Über-
wachung des Raums und mit dem Versuch, die Le-
gitimität der Herrschaft zu behaupten. Die Perspek-
tive ändert sich, je nachdem ob Freiheitskämpfer
versuchen, einen Diktator zu vertreiben, oder Rebel-
len einen legitimen Herrscher. Die Seite, der es ge-
lingt, die Weltöffentlichkeit von ihrer Version zu
überzeugen, ist „im Recht‚ und kann Gebietsan-
sprüche geltend machen, auch wenn sie
de facto ins
Hintertreffen gerät. Dies ist nicht zuletzt auch eine
Frage der Bilder, die zirkulieren, und damit der
jeweiligen Medienmacht: der Fähigkeit, den eigenen
Standpunkt als gerechtfertigt hinzustellen und
durch geeignete Bilder die Legitimität des anderen
in Frage zu stellen.
Karten definieren Raum. Die Entstehung der Karto-
grafie steht in engem Zusammenhang mit militäri-
schen Aktivitäten. Genaue Feldkarten sind ein wich-
tiges Instrument von Eroberungszügen, zunehmend
genauere Weltkarten waren Voraussetzung und Ziel
kolonialer Unternehmungen. Seit rund einem Jahr-
zehnt haben Architekten/innen, Künstler/-innen und
Kartografen/-innen angefangen, Karten als kritisches
Instrument der Infragestellung räumlicher Gege-
benheiten zu verwenden. Mit am Anfang stehen
zwei wesentliche Projekte, die im Folgenden be-
schrieben werden.
Multiplicity: A Journey Through a Solid Sea (2002)
Die italienische Architektengruppe
Multiplicity visu-
alisierte in ihrem auf der Documenta 11 gezeigten
Projekt „A Journey Through a Solid Sea‚, ausgehend
von dem 1996 vor Sizilien gesunkenen Schiff mit 283
asiatischen Flüchtlingen, die Routen verschiedener
Akteure durch das Mittelmeer. Was ein Sammelbe-
cken des Austauschs, des Handels, die Wiege der
europäischen Kultur war, ist zu einer unsichtbaren
Schranke geworden, die den Austausch verhindert.
Dies macht das Projekt auch mittels Zeugenaussa-
gen erkennbar. In weiteren Etappen ging es um das
jahrelang im Hafen von Neapel festgehaltene Luxus-
Kreuzfahrtschiff „Odessa‚, dessen ukrainische Ree-
derei Pleite gegangen war, des Weiteren um die
unterschiedlichen Straßenverbindungen für Israelis
und Palästinenser im Westjordanland und um
Flüchtlingsströme von Marokko nach Europa. Sicht-
bar wird, mittels welcher Kontrollmechanismen sich
die europäische Welt abschottet.
http://www.multiplicity.it
Theater: Margareth Obexer
Eyal Weizman, Rafi Segal: A Civilian Occupation /
The Politics of Verticality (2002)
2002 war eine Arbeit der Architekten Rafi Segal und
Eyal Weizman über die Westbank-Siedlungen vom
israelischen Architektenverband als offizieller israe-
lischer Beitrag zum Welt-Architekturkongress in
Berlin nominiert worden. Doch dann zog der Ver-
band kurzfristig das Projekt zurück und beschlag-
nahmte den größeren Teil der bereits gedruckten
5000 Exemplare des Katalogs, wohl weil sich Archi-
tekten, die an Siedlungsbauten im Westjordanland
beteiligt waren, vor der Weltöffentlichkeit exponiert
fühlten. Die Untersuchung „A Civilian Occupation‚
zeigt, ausgehend von Karten der israelischen Men-
schenrechts-Organisation „B’tselem‚, die komplexe
Architektur der Siedlungen. Wie Observatorien sit-
zen die ringförmig auf Lücke gebauten Einfamilien-
häuser auf der Kuppe der Hügel, mit dem Blick auf
die nach zionistischem Diskurs „biblische‚ Land-
schaft, deren heutige Bewohner nur als Bedrohung
feindlicher Eindringlinge wahrgenommen werden.
Sie verbrauchen einen Großteil der Ressourcen und
haben eigene Verbindungsstraßen zum israelischen
Kerngebiet, auf denen Kinder von Militärkonvois
begleitet zur Schule gebracht werden, während das
palästinensische Restgebiet von Straßensperren und
anderen Bewegungshemmnissen in einen kleinteili-
gen Flickenteppich verwandelt ist.
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In „The Politics
of Verticality‚ setzt Eyal Weizman diese Recherchen
fort und zeigt, dass auch der Untergrund und der
Luftraum an der Verteilung und Kontrolle des
Raums
wesentlich
Anteil
haben.
http://www.opendemocracy.net/conflict-
politicsverticality/article_801.jsp
235
Rafi Segal, Eyal Weizman:
A Civilian Occupation. The Politics of
Israeli Architecture, New York 2003; www.btselem.org; Dietrich
Heißenbüttel: „Die Politik der vollendeten Tatsachen. Der
Architekt Rafi Segal erforscht Israels Grenze
zu den
Palästinensergebieten der Westbank‚, in:
springerin 1/03, S. 34-37.