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Aushandlung der Grundlagen des Zusammenlebens vor dem Hintergrund
der Kontingenz
menschlicher Angelegenheiten versteht. Nur in den Ausführungen zu Tagore klingt ein
solches überschreitendes Moment an, vor allem in der Verbindung von Affektivität und
Freiheit; ansonsten bewegt sich Nussbaum durchgängig im Rahmen des durch normative
Vorgaben fest Abgesteckten.
Der in dieser Strategie liegende Paternalismus ist nicht zu übersehen. Mit dem
distanzierenden Gestus einer Bildungsaristokratin beschreibt Nussbaum die Regierten als
zwar vermutlich gutherzige aber psychologisch wankelmütige Wesen, die daher von einer
wissenden Elite mit sanftem Druck in die Bahnen politisch zuträglicher Dispositionen und
Einstellungen gebracht werden müssen.
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Adressiert wird nicht so sehr ein selbstbestimmtes
Subjekt, dass seine Ansprüche auf der öffentlichen Bühne geltend machen und seine
politische Gestaltungskraft entfalten soll, sondern lediglich das sprichwörtliche »Herz« jener,
so die Hoffnung, letztlich doch irgendwie gutmütiger, wohlmeinender und mitfühlender
(Lands-)Leute, damit diese sich den Werten eines national verankerten politischen
Liberalismus doch noch verschreiben mögen.
So findet sich bei Nussbaum eine Prise genau jener Distanziertheit und
Souveränitätsanmaßung einer Bildungselite, die heute Gegenstand der (freilich aus anderen
Gründen verfehlten) Elitekritik von rechtspopulistischer Seite geworden ist. Nussbaum
schreibt, als seien die wesentlichen Fragen des Politischen aus philosophischer Sicht
abschließend geklärt – nicht zuletzt von ihr selbst –, so dass es nun nur noch darauf ankomme,
für eine stabile Akzeptanz dieser Prinzipien zu sorgen. Damit bleibt ihr Buch sowohl
unpolitisch als auch unphilosophisch. Es ist nichts mehr wirklich offen, es werden keine
Fragen gestellt, sondern es geht »nur noch« um die Implementation des liberalistischen
Programms in einer nationalen Gefühlskultur. Dass Nussbaum im Zusammenhang mit dem,
was ihr vorschwebt, wiederholt von einer »politischen Kultur« spricht, grenzt an
Etikettenschwindel: die angestrebte Gefühlskultur mag manches Wünschenswerte enthalten,
aber sie wird kaum als substanzielle politische Kultur gelten können, denn es geht darin nicht
um die Aushandlung der menschlichen Angelegenheiten unter Bedingungen von Kontingenz.
Es kann nicht die Lösung sein, über die tieferen Dimensionen des Politischen einfach zu
schweigen: Kontingenz, Offenheit, Antagonismus. Anzunehmen, wie es Nussbaum offenbar
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Das wird vor allem auf den ersten ca. 20 Seiten ihrer Einleitung augenfällig. Dort ist wiederholt von der Pflege
»erwünschter Emotionen« (S. 14) sowie von »guten Einstellungen« die Rede (S. 15), oder von »psychologischen
Maßnahmen« zur Sicherung der »Stabilität und Stärke« des Staates (S. 16), weiter heißt es, »die Menschen
sollten sich an gute politische Prinzipien gebunden fühlen« (S. 19), und die »Quellen der Erinnerung« sollen an
»feste politische Ideale gebunden« sein (S. 25; vgl. auch S. 37-39). Stets klingt es so, als gehe es um die
gewissermaßen mechanische Installierung von aus Sicht einer politischen Elite erwünschten Gefühlslagen.
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tut, dass die Regierten eine umsichtige Elite schon werden »machen lassen«, während sie
selbst sich mit patriotischen Ritualen abspeisen lassen, trägt die Züge einer apolitischen
Mentalität mit anti-emanzipatorischer Tendenz.
Auch sonst bewegt sich Nussbaum nicht aus dem Dunstkreis republikanischer
Standard-Denkmuster heraus, wie es ein Kritiker unlängst diagnostiziert hat.
34
Wir werden
woanders nach produktiven Beiträgen zu einem Verständnis politischer Affektivität suchen
müssen.
IV.
Es bietet sich an, die Bücher von Massumi und
Protevi gemeinsam abzuhandeln, da beide im
selben Segment des affective turn angesiedelt sind. Insbesondere arbeiten beide mit einem
Verständnis von Affekt, das sich deutlich unterscheidet von den Verständnissen affektiver
Phänomene, die in der gegenwärtigen Philosophie der Emotionen vertreten werden. Dazu
zunächst einige allgemeine Bemerkungen, ehe Massumis Politics of Affect (2015) und
Protevis Political Affect (2009) ausführlicher besprochen werden.
Der Name Brian Massumi steht wie kein zweiter für den Spinoza-Deleuze-Strang des
gegenwärtigen Trends der Affektforschung.
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Relevant dafür ist einerseits sein früher Aufsatz
»The Autonomy of Affect«,
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in dem die Parameter dieses Affektverständnisses erstmals
dargelegt werden und sich auch ein charakteristischer Stil geltend macht, nämlich der
»Remix« unterschiedlicher Register, insbesondere die Verknüpfung naturwissenschaftlicher
und geisteswissenschaftlicher Begrifflichkeiten. In der Monographie Parables of Virtual
(2002) hat Massumi Ansatz und Vorgehensweise konsolidiert.
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Affekt bezeichnet in Spinozas immanenter Prozessontologie, an die Massumi
undogmatisch anknüpft, ein transindividuell-relationales Bezugsgeschehen zwischen
wirkfähigen Körpern aller Art in der Immanenz der einen Substanz. Es geht um Relationen
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So schreibt Thomas Bedorf: »[Nussbaums] Diagnose erinnert an eine Sparversion des Böckenförde-Theorems,
während die Therapie letztlich nicht mehr als ein flehentlicher Appell an bestenfalls republikanisch zu nennende
Tugenden darstellt. Diese politische Indienstnahme der Gefühle wird man angesichts der Komplexität der Lage
nicht weiter ernst nehmen wollen« (B
EDORF
: »Politische Gefühle«, S. 251).
35
Und niemand in diesem Segment polarisiert so sehr wie Massumi – was deutlich wird am bisweilen offen
empörten Ton seiner Kritiker_innen, vgl. z.B. L
EYS
: »The Turn to Affect«, S. 434 oder M
ARGARET
W
ETHERELL
:
Affect and Emotion: A New Social Science Understanding, London 2012, S. 56.
36
B
RIAN
M
ASSUMI
: »The Autonomy of Affect«, in:
Cultural Critique 31 (1995), S. 83-106.
37
B
RIAN
M
ASSUMI
:
Parables of the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham, NC 2002. Eine spätere
Monographie spinnt viele der darin angelegten Fäden weiter: B
RIAN
M
ASSUMI
:
Semblance and Event: Activist
Philosophy and the Occurrent Arts,
Cambridge, MA 2011. Wichtige Textsammlungen zu den
kulturwissenschaftlichen affect studies sind P
ATRICIA
C
LOUGH
/J
EAN
H
ALLEY
(Hg.):
The Affective Turn:
Theorizing the Social, Durham, NC 2007; M
ELISSA
G
REGG
/G
REGORY
S
EIGWORTH
(Hg.): The Affect Theory
Reader, Durham, NC 2010, sowie M
ARIE
-L
UISE
A
NGERER
/B
ERND
B
ÖSEL
/M
ICHAELA
O
TT
(Hg.):
Timing of
Affect: Epistemologies, Aesthetics, Politics, Zürich/Berlin 2014.