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Schritt. Es ist diese Dimension – jene
Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen der endlichen
Offenheit der menschlichen Situation, die sich nur als intersubjektive Situation denken lässt,
und dem Politischen als Modus der Kontingenzbewältigung –, die weiter befragt werden
muss, soll eine philosophisch fundierte Bestimmung politischer Affektivität gelingen.
III.
Der Wert von Mohrmanns Überlegungen wird ein weiteres Mal evident, wenn man sich
einem anderen Buch zuwendet, das eine philosophische Konzeption politischer Emotionen in
Aussicht stellt: Martha Nussbaums Politische Emotionen (Suhrkamp, 2014). Nach der
Beschäftigung mit Mohrmanns Studie hat mich die Nussbaum-Lektüre enttäuscht. Nur von
fern reicht ihr Text an Fragen einer politischen Affektivität in jenem substanziellen
Verständnis heran, das bei Mohrmann durchgängig angezielt ist.
Nussbaum setzt ein liberalistisches Verständnis eines funktionierenden
nationalstaatlichen Gemeinwesens voraus und
fragt dann, auf welche Weise sich auf Seiten
der Regierten solche Emotionen erzeugen lassen, die zur stabilen Akzeptanz der Werte,
Prinzipien und Institutionen eines liberalen Gemeinwesens beitragen können (vgl. 209).
Leitende Annahme ist also, dass Emotionen dann politisch sind, wenn sie Ausdruck der
Akzeptanz politischer Werte und Prinzipien sind und wenn sich in ihnen robuste Bindungen
der Menschen untereinander sowie an rechtsstaatliche Institutionen, aber auch an die Nation
und deren Tradition und an einen nationalen ästhetisch-kulturellen Kanon manifestieren.
Emotionen haben für Nussbaum keinen eigenständigen politischen Gehalt, wenn mit
›politisch‹ ein besonderer Bezug auf die Freiheit, Offenheit, Unbestimmtheit der
menschlichen Situation gemeint ist. Für Nussbaum ist die »menschliche Situation« in einem
wichtigen Sinn gar nicht mehr offen, weil für sie die Wahrheit des von ihr vertretenen Sets
politischer Prinzipien außer Frage steht. Dabei geht es um jene Prinzipien und Postulate, die
in John Rawls’ politischem Liberalismus artikuliert sind und von Nussbaum in ihrem neo-
aristotelischen Fähigkeits-Ansatz angereichert wurden. Im vorliegenden Buch geht es dann
nur noch darum, dazulegen, wie deren Anerkennung und Verankerung mit Hilfe von
bestimmten, teils auch öffentlich inszenierten und orchestrierten Emotionen zu sichern ist.
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Nussbaum verfährt zunächst so, dass sie in einem historischen Teil die Idee einer
säkularen »Religion der Menschlichkeit« ausarbeitet – Auguste Comte und John Stuart Mill
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Im 5. Kapitel beschreibt sie fast im Ton eines Parteiprogramms der US-Demokraten die materialen Grundsätze
ihres politischen Liberalismus. Bezeichnend darin vor allem der Abschnitt, der mit »Eine Kultur der Kritik« (S.
192 ff.) überschrieben ist – Nussbaum geht kaum auf den Wert von Kritik als Sphäre menschlicher
Selbstbestimmung ein, sondern verhandelt nur mit defensiven Argumenten darüber, ob nicht angesichts der
Feinde demokratischer Prinzipien Einschränkungen von Meinungs- und Diskussionsfreiheit angebracht wären.
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stehen Pate – und diese Idee dann vor allem mit Bezügen auf den bengalischen Dichter,
Erzieher und Philosophen Rabindranath Tagore konkretisiert (hier, im ausführlichen 4.
Kapitel, finden sich die interessantesten Einsichten). Flankiert wird der erste Part von
materialreichen Plausibilisierungsversuchen, darunter eine unnötig ausschweifende Deutung
der Mozart-Oper Hochzeit des Figaro (Kap. 2). Im zweiten Teil umreißt Nussbaum zunächst
das Modell einer »Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt«, was auf eine Schilderung des
Prinzipienkanons einer dem Rawls’schen politischen Liberalismus entsprechenden
Gesellschaft hinausläuft.
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Ziel der folgenden Kapitel ist es dann, die Eckpunkte eines diesen Prinzipien
angemessenen privaten wie öffentlichen Emotionsrepertoires zu umreißen. Eine
Schlüsselrolle kommt dem Mitgefühl (compassion) zu – Hannah Arendt, von Nussbaum nur
am Rande in anderem Zusammenhang erwähnt, lässt grüßen.
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Diese Emotion charakterisiert
Nussbaum unter Rückgriff auf psychologische Erkenntnisse. Es folgt unter dem Titel »Das
radikal Böse« ein Kapitel zur dunklen Seite des menschlichen Gefühlsspektrums:
Hilflosigkeit, Narzissmus, Beschmutzung, Ekel. Im dritten und letzten Teil geht es dann um
öffentliche Emotionen, also um solche Gefühle, die nach Ansicht Nussbaums in den ihr
vorschwebenden Gesellschaften Gegenstand institutioneller Kultivierung werden sollten:
besonders prominent darunter Formen von Patriotismus (Kap. 8), das auf dem Weg tragischer
und komischer Feste zu kultivierende Mitgefühl sowie die Überwindung des Ekels (Kap. 9)
und schließlich die Liebe in ihrer Bedeutung für Gerechtigkeit (Kap. 11). Auch Gefühle, die
das liberalistische Gemeinwesen bedrohen, finden Beachtung: Angst, Neid und Scham (Kap.
10).
Seine besten Momente hat Nussbaums Buch dort,
wo sich die Autorin noch
unabhängig von ihrem Modell des politischen Liberalismus Aspekte der Idee einer
emotionsbasierten »Religion der Menschlichkeit« sondiert – insbesondere im Kapitel zu
Rabindranath Tagore, dem Nussbaum attestiert, bezüglich der Ausgestaltung einer
Zivilreligion im Vergleich zu Mill und Comte die besseren Vorschläge zu machen. Hier
kristallisiert sich eine substanzielle Gefühlsformation und eine freiheitliche, auf Kreativität,
Selbstentfaltung und Gleichheit basierende Lebensform heraus, deren Gehalt das von
Nussbaum später systematisch Entwickelte auf interessante Weise überschreitet. Gerade der
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Nussbaum ergänzt diesen Kanon um Elemente ihres eigenem Fähigkeiten-Ansatzes. Vgl. dazu M
ARTHA
N
USSBAUM
:
Women and Human Development: The Capabilities Approach, Cambridge und New York 2000.
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Dies ist eine der Stellen, an denen Nussbaum eine eingehendere Diskussion ihres Ansatzes mit Blick auf
Fragen des Politischen versäumt. Die Arbeiten Arendts hätten Nussbaum eine Gelegenheit geboten, ihren Ansatz
an ein substanzielles Verständnis des Politischen zurück zu binden. Es ist offenkundig, dass Arendts
Unterscheidung zwischen Mitleid im Privaten und Mitleid als potenziell destruktivem Faktor im Politischen für
das, was Nussbaum vorhat, eminent einschlägig ist. Vgl. A
RENDT
: On Revolution, Kap. 2.