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Autoren wie Mendelssohn und Nicolai skizziert wurde. Eine Konsequenz dieser Perspektive
ist, dass Emotionen gerade nicht als unmittelbar handlungsleitend verstanden werden. Je nach
institutioneller Rahmung fällt ihr Handlungsbezug unterschiedlich aus. Im Theater werden
mich meine Empörung oder mein angstvolles Erschaudern angesichts des Bühnengeschehens
nicht zum Eingreifen motivieren. Eine solche differenzielle Handlungswirksamkeit kommt
Emotionen aber auch außerhalb der ästhetischen Sphäre zu.
Die theatrale Situation bestehend aus Bühne und Zuschauerraum exemplifiziert
lediglich in Reinform die konstitutive Rahmung affektiver Vollzüge durch den sozialen
Kontext und dessen Organisationsform und symbolische Verfasstheit.
17
Insbesondere gilt,
dass die Konstellation »Bühne – Zuschauerraum« mit ihrer Festschreibung von Akteurs- und
Zuschauerrollen in die Affektivität selbst strukturell eingelassen ist.
Nun fungiert das Theater bei Mohrmann sowohl als Exemplifikation einer
allgemeineren emotionstheoretischen Perspektive, als auch als konkretes Paradigma von
politischer Affektivität. In der ersten Perspektive ist das Theater eine zentrale Exemplifikation
der sozial-positionalen Vorstruktur des Affektiven, und daher lässt sich das damit Gemeinte
auch anders explizieren als unter Verweis auf Theaterformen und deren kunsttheoretische
Reflexion. Es ist instruktiv, dass Mohrmann in diesem Zusammenhang Judith Butlers Begriff
des frame diskutiert (84f.). Butler meint damit kulturelle Raster, die Wahrnehmung und
Fühlen vorstrukturieren, so dass nicht etwa jegliches menschliches Leid, sondern nur das Leid
ganz bestimmter Personengruppen zum Gegenstand von Trauer oder Mitleid wird.
18
Bei
Butler ist es nicht das Theater, sondern es sind vor allem dominante Mediendispositive und
journalistische Bildpraktiken, die ein selektives framing von Emotionen unter den
Bedingungen massenmedialer Öffentlichkeit bewerkstelligen.
Andererseits benötigt Mohrmann ausdrücklich das Theater und die darin spezifischen
Zuschaueremotionen für ihre Argumentation. Kants Enthusiasmus wird in seiner Struktur nur
fassbar, wenn die theatrale Konstellation als ontologische Rahmung sowohl des Affektiven
als auch des Politischen insgesamt vorausgesetzt ist. Die Aufteilung des sozialen Raums in
Bühne und Zuschauerraum, und entsprechend der sozialen Positionen in jene von Handelnden
auf der einen und urteilenden Zuschauern auf der anderen Seite bildet insofern eine tiefe
Bestimmung, die nicht durch beliebige andere Arten von sozialen Gefügen ersetzt werden
kann. Das menschliche Zusammenleben spielt sich insgesamt im Rahmen theatraler
17
Es ist ein guter Zug von Mohrmann, ästhetische Emotionen nicht nur, wie es oft geschieht, als einen
Sonderfall zu behandeln, zu dem eine anderweitig entwickelte Emotionstheorie dann
auch noch etwas sagen soll,
sondern als Modell für die menschlichen Emotionen überhaupt.
18
Vgl. J
UDITH
B
UTLER
:
Frames of War: When is Life Grievable? London 2009, insb. Kap 1.
10
Konstellationen ab, und in diese Dimension
ist das Affektive konstitutiv eingelassen, so dass
jedes Verständnis der menschlichen Affektivität dieser Strukturbedingung Rechnung tragen
muss.
19
Die Konsequenz ist, dass Emotionen und Affekte in einer Denkbewegung, die mit
Arendt gegen Arendt denkt, aus der Sphäre des Privat-Innerlichen und Natürlich-
Urwüchsigen in den intelligiblen Raum der öffentlichen Angelegenheiten gehoben werden.
Wenn ein Mensch etwas fühlt, so aktualisiert sich darin ein Aspekt eines kulturell verankerten
Selbst- und Weltverständnisses; eine Person macht in Form ihres Fühlens intelligible Züge im
Raum der Gründe, und zwar stets auf einer – realen oder virtuellen – »Bühne« der
öffentlichen Angelegenheiten.
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Im Rahmen dieses ästhetischen Modells bedeutet das auch,
dass es zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten gibt, wie sich das Affektive als
Manifestation eines Selbstverständnisses bzw. als ein Zug in dessen Aushandlung, Schärfung
oder Kritik vollzieht: Einerseits in Form von handlungsleitenden Emotionen (Emotionen aus
der Akteursposition), andererseits in Form von affektiv urteilenden Haltungen
(Zuschaueremotionen). In beiden Fällen spricht Mohrmann von einem »Affektivwerden der
Vernunft«. Das heißt, dass in diesen Fällen die Emotion nicht als distinktes mentales
Vorkommnis zu einem Handlungs- oder Urteilsvollzug von außen hinzutritt, sondern dass
Emotionen selbst Weisen des vernunftmäßigen Weltbezugs sind. Es besteht somit kein
Gegensatz besteht zwischen Affekt und Vernunft; im Gegenteil: eine lebendige Vernunft ist
auf ihre affektiven Vollzugsmodi angewiesen.
Damit rückt der Ansatz in das Fahrwasser Kants. Insbesondere geht es um die
Ausdeutung der folgenden Zeilen, die Kant im Streit der Fakultäten als Teil seiner Antwort
auf die Frage notiert, ob »das Menschengeschlecht« im »beständigen Fortschreiten zum
Besseren« begriffen sei:
Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen,
mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, dass ein
wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen
hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese
Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem
Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus
19
Vgl. D
ORIS
K
OLESCH
:
Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zu Zeiten Ludwigs XIV, Frankfurt a.M.
2006.
20
Die verbreitete Praxis, dass wir uns gegenseitig normalerweise selbst für impulsive affektive Regungen im
Lichte normativer Standards loben oder tadeln, ist ein lebensweltliches Indiz dafür.