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Emotionsausdrücke kategorial differenziert werden: Furcht, Ärger, Freude, Neid, Stolz,
Scham, Trauer, und dergleichen. In einem anderen Bezirk der Debatte wird hingegen deutlich
zwischen Emotion und Affekt unterschieden. In der an Spinoza und Deleuze anschließenden
Tradition bezeichnet ›Affekt‹ im Rahmen einer relationalen und prozessualen Ontologie
dynamische Wirkverhältnisse zwischen Entitäten in einem Immanenzfeld, und somit mehr als
bloß das, was von menschlichen Individuen bewusst gefühlt wird. Hier sind Affekte gerade
das, was einer emotionstheoretischen Perspektive tendenziell entgeht: Dynamiken,
Intensitäten und Wirkmomente außerhalb des offiziell Kategorisierten und jenseits des von
Individuen reflexiv Erfassten. Emotionen wären dann diskursiv vermittelte
»Momentaufnahmen« – und somit potenziell: Verkürzungen, Einhegungen – eines
umfassenderen Affektgeschehens.
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Im Folgenden verwende ich die Ausdrücke ›Affekt‹ und
›Emotion‹ zunächst weitgehend synonym, ehe ich dann im Abschnitt zu Massumi und Protevi
das prononcierte Affekt-Verständnis der Spinoza-Tradition ins Spiel bringe.
II.
Judith Mohrmann lässt ihre luzide Studie
Affekt und Revolution. Politisches Handeln nach
Arendt und Kant (2015) mit einer wichtigen Weichenstellung anheben: mit der Annahme,
dass das Verhältnis von Politik und Affekt nur dann erhellend diskutiert werden kann, wenn
beide Dimensionen innerhalb desselben theoretischen Rahmens expliziert werden (S. 14f.).
Dahinter steckt die Überzeugung, dass das Politische und die menschliche Affektivität auf
ontologischer Ebene verschränkt sind. Ich hatte es in der Einleitung angedeutet: Es ist
plausibel anzunehmen, dass das Politische ohne Bezug auf Affektivität kaum angemessen
bestimmt werden kann, aber auch umgekehrt die menschliche Affektivität einen inhärenten
Bezug auf den originären Seinsbereich des Politischen aufweist: auf die »bodenlose« Sphäre
des gemeinsamen Handelns.
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Als organisierende Klammer von Affekt und Revolution fungieren die konträren
Einschätzungen der Französischen Revolution durch Hannah Arendt (Kapitel 2) und
Immanuel Kant (Kapitel 5). In ihrem Buch On Revolution sah Hannah Arendt die
Französische Revolution nicht zuletzt deshalb als gescheitert an, weil sich die Protagonisten
von ihren Affekten – insbesondere vom Mitleid – hätten leiten lassen. Unter dem
theoretischen Einfluss Rousseaus hätten Robespierre und Co. ihr empathisches Mitfühlen als
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Die beiden Lager stehen sich angesichts dieser konzeptuellen Divergenzen nicht immer freundlich gegenüber.
Insbesondere die kontinentalphilosophisch inspirierte Affekttheorie musste sich in letzter Zeit Angriffen von
Seiten des Theorie-Establishments erwehren. Einschlägig dafür insbesondere: R
UTH
L
EYS
: »The Turn to Affect:
A Critique« in: Critical Inquiry 37 (2011), S 434-472.
6
Vgl. Mohrmann, S. 100ff. u. S. 195.
6
Zugang zu einer einheitlichen volonté générale gedeutet, so dass sie ihr revolutionäres
Handeln als unmittelbare Exekution des Volkswillens verstehen konnten.
7
Das Mitleid der
Revolutionäre aber, so Arendt, sei als privater, unreflektiert zur
Handlung treibender Affekt
strukturell bereits jener Gewalt vergleichbar, die sich im Verlauf der Revolution dann auf so
verheerende Weise Bahn gebrochen hatte. In Mohrmanns Lesart laufen diese Gedanken
Arendts auf eine weitreichende Affekt-Kritik im Feld der Politik hinaus: Aufgrund seines
privaten, innerlichen und impulshaften Charakters stehe das Affektive per se in einem
destruktiven Verhältnis zur Politik, da es aufgrund seiner Verfasstheit nicht in Prozeduren der
diskursiven Aushandlung politischer Entscheidungen eingehen könne. Daher müsse das
Affektive grundsätzlich aus der politischen Sphäre verbannt werden.
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Kant hingegen feiert die Französische Revolution im Streit der Fakultäten als
epochales »Geschichtszeichen«, welches – allen
moralisch verwerflichen Gräueltaten des
Revolutionsgeschehens ungeachtet – untrüglich das »Fortschreiten des menschlichen
Geschlechts zum Besseren« bezeuge.
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Kant macht dies bekanntlich an einer Emotion fest, die
gerade jene ergriff, die am Revolutionsgeschehen gar nicht beteiligt waren: am Enthusiasmus
der Zuschauer. Dieser gehe »immer aufs Idealische und zwar rein Moralische«, enthalte somit
einen indirekten Bezug auf Freiheit als »moralische Anlage im Menschengeschlecht«.
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Mohrmann liest Kant so, dass für ihn die Zuschaueremotion Enthusiasmus entscheidend an
der Konstitution des revolutionären Geschehens beteiligt ist, weil nur in der Perspektive der
affektiv urteilenden Zuschauer das Tun der Revolutionäre als freie – und damit genuin
politische – Handlung bestimmbar werde. Auch auf Seiten der Revolutionäre sei es eine Form
von Enthusiasmus, der sie selbst dort zum Handeln treibe, wo sie – aufgrund des radikal
unvorgedachten Charakters der revolutionären Situation – noch gar nicht wissen, geschweige
denn begründen können, was sie da gerade tun. Politisches Handeln erfordert demnach auf
zwei aufeinander irreduzible, jeweils aber affektive Ermöglichungsbedingungen, von denen
eine auf Seiten der Akteure (enthusiastisches Handeln), die andere auf Seiten der Zuschauer
(enthusiastisches Urteil) verortet wird. Nur im Rahmen eines Bühnenmodells des Politischen,
für das korrelierte Zuschauer- und Akteursrollen konstitutiv sind, lässt sich dieser
7
Vgl. A
RENDT
: On Revolution, S. 101f.
8
Mohrmann generalisiert in ihrem Kapitel zu Arendt deren Überlegungen zur Französischen Revolution, indem
sie Arendt eine komplette Emotionstheorie unterschiebt. Das ist eine strategische Vereindeutigung, da Arendt
mit ihrer Kritik am Mitleid der Revolutionäre zunächst nur eine historische Formation der Affektivität adressiert.
Arendts Überlegungen zur Solidarität und zum »public happiness« lassen eine differenzierte Theorieanlage
erkennen. Vgl. A
RENDT
: On Revolution, Kap. 2 u. 3.
9
I
MMANUEL
K
ANT
:
Der Streit der Fakultäten, hrsg. v. Horst D. Brandt u. Piero Giordanetti, Hamburg 2005, S.
77ff.
10
Ebd., S. 85.